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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

ergab keine sonderliche Gefahr, einen etwas beschleunigten Puls: ein paar Tage wirst du schon im Bett stecken müssen, kleine Theta! Doktor Hartmann schlug die Gardine am Kinderwagen zurück; da schlief ein braunes Krausköpfchen mit dem Finger im Munde, zart und bläßlich.

„Er ißt schon alles,“ flüsterte das Kindermädchen stolz.

„So?“ fragte Doktor Hartmann und musterte sie von der Seite. „Das soll er aber nicht, verstehen Sie? Der hat an Milch und Brei genug. Außerdem bringen Sie ihn in ein anderes Zimmer.“

Auf der Treppe begegnete ihm ein Herr, der es eilig hatte. Er lüftete den Hut und fragte: „Frau Hauptmann von Einsiedel wohnt hier im Hause?“ – „Eine Treppe höher,“ sagte Doktor Hartmann nachlässig. Er konnte über ein Gefühl von Eifersucht nicht Herr werden, denn es war kein Zweifel, dies war der erwartete Kollege!

Am vierten Tag kam das kleine Mädchen wieder mit dem Bruder herunter zu ihm. Er war wie erlöst – er hatte innerlich Angst ausgestanden, ob nicht stillschweigend wieder der Versuch gemacht werden würde, ihm die Kinder zu entziehen. Die Kinder – im Grunde: was waren die Kinder, so unentbehrlich sie ihm geworden! Mit den Kindern ließ ihm diese Frau, die sich gegen ihn wehrte, einen Finger wenigstens …

Der Winter meldete sich, mit Frost und Schneetreiben und kalter Sonne. Er sah die blonde Frau nur in flüchtiger Begegnung und sie grüßten einander nicht fremd, nicht vertraut – einmal drehten sich beide verstohlen nacheinander um, dann nie wieder. Es webte etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, das wußten sie beide. Die Kinder trugen keine Grüße mehr, aber sie verrieten, daß sie der Mama erzählen mußten, was sie unten getrieben, und ob der Onkel Doktor auch „sehr gut mit ihnen wäre“.

Was hilft das? So kommt man nicht vorwärts!

„Sie wird mein,“ sagte sich Doktor Hartmann, „sie kann sich wehren wie sie will!“ Er wenigstens war dieser Frau verfallen: sie erfüllte feine Phantasie; wenn er ihren Schritt hörte, bebten seine Nerven, sah er sie, sprach er zu ihr! In der Einsamkeit unten rettete ihn nichts davor. Und es sollte ihn nichts davor retten! Selbst den spärlichen Freundesverkehr, der noch in seine Wohnung drang, empfand er als Belästigung.

Eines Tages war die blonde Frau krank. Die Kinder kamen, und mit ihnen Frau Fricke. „Vielleicht behalten der Herr Doktor die Kinder länger unten, so lange die Frau Hauptmann liegt? Sie geben doch nicht recht Ruhe oben,“ hauchte sie zaghaft und mit ihrem besten Lächeln. Er zog die Stirn zusammen. „Natürlich,“ nickte er zerstreut. „Aber warten Sie!“

Er schrieb ein Billet: „Gnädigste Frau – gönnen Sie mir den Vorzug, wenn der Arzt bei Ihnen gewesen sein wird, zu erfahren, was Ihnen fehlt.“ Ein paarmal setzte er mit hastigem Nachdenken die Feder an, um etwas hinzuzusetzen. Am Ende ließ er es sein. „So, das befördern Sie zur Frau Hauptmann hinauf.“

Eine Stunde später ließ sie danken und erklären, der Arzt hielte den Zustand für eine leichte Grippe. Er wird sich jeden Tag ein Bulletin erbitten, ein Entschluß gährt in ihm: wenn sie schwer krank wird, hält ihn keine Macht der Erde ab, zu ihr zu dringen. Die Gedanken sind Teufel, beinahe wünscht er das.

Aber es geht alles gut – sie ist endlich aufgestanden – bleibt außer Bett. Er grübelt – grübelt – kauft das wundervollste Blumenarrangement, das er finden kann, und schickt es hinauf.

Eine Stunde schwankt er – dann geht er selber.

Sie nimmt ihn an! Nicht im Empfangszimmer, sondern im Salon. Da sitzt sie am Kaminofen, mit dem matten Gesicht der Rekonvalescentin, steht auf. „Bleiben Sie sitzen, liebe, gnädige Frau“ – das fährt ihm so heraus, wie er abwehrend auf sie zueilt, sie lächelt ein wenig, als er sich rasch einen Stuhl nimmt, als wäre er hier Hausarzt.

„Wissen Sie auch, daß ich schwer gekämpft habe, ob ich Ihre Blumen annehmen sollte, Herr Doktor?“ sagt sie und ein schmerzlich verlegener Zug legt sich um ihren feinen Mund. „Ich muß es Ihnen sagen; es hilft nichts.“

Er sieht sie groß an, innerlich schnürt ihm ein jähes Gefühl bitterer Enttäuschung das Herz zusammen.

„Es genügt mir, daß dieser Kelch an mir vorübergegangen ist,“ brachte er endlich über die Lippen und zog die zwei Kinder, die sich an ihn drängten, jedes mit einem Arm an sich. „Ich komme nicht um Dank, gnädige Frau. Zerpflücken wir also diese Blumen! – Onkel Doktor freut sich, daß Mama gesund geworden, und das will sie nicht leiden, denkt euch …“

„Nein, nein – verwirren Sie mir die Kinder nicht …“

„Mama meint nämlich, sie sei die Frau von Einsiedel und ich sei der Doktor Hartmann und ein großer Narr …“

„Ich bitte, nicht weiter …“ unterbrach sie jäh und war blaß wie der Tod, wollte aufstehen, schloß aber in einem Schwächeanfall die Augen und blieb sitzen.

Er beobachtete sie unruhig.

„Die arme Mama ist noch recht schwach,“ sagte er, „und der Onkel Doktor ein solches Ungeheuer, daß er … gnädigste Frau …“

Er stand auf, ließ von den Kindern ab; sie schlug die Augen auf, es lag eine trostlose Verzweiflung darin.

„Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme … Sie sollen nicht glauben, daß sie keinen Wert für mich hat …“

Er holte tief Atem. „Ich bin ein grausamer Mann, gnädige Frau. Was sie mir da sagen, ist mehr, als ich im Augenblick verdiene. Damit ich glauben darf, daß es ehrlich gemeint und keine Phrase ist, mit der Sie mich abspeisen wollen: gestatten Sie mir noch fünf Minuten hier zu verplaudern. Ich werde sie nicht mißbrauchen. Dieser Nachwuchs hier soll helfen, glatte Wellen schaffen!“

Er nahm die Kinder an sich, die verschüchtert standen und von einem zum andern starrten, und setzte sich mit jener zuversichtlichen Selbstverständlichkeit, die den Widerspruch so schwer macht. Er fing an, mit den Kindern zu plaudern; die Frau Hauptmann lehnte sich zurück, ihre Hände hielten die gestickte Wolldecke fest, die sie über die Kniee gezogen hatte; die Augen in dem schmalen, blassen Gesicht, mit dem ernsthaften Blick, der jetzt so unsicher war, suchten in der Luft umher. Sie konnte dem warmen Ton seiner Stimme nicht widerstehen, der ihren Nerven so schmeichelte; fünf Minuten lang mußte sie ihn also noch dulden.

Die Kinder schleppten Spielzeug herbei; er fragte die Mutter nach dem Kleinsten, den er neulich gesehen hätte – ob er ihr Not mache. „O nein,“ sagte sie, „es ist ein ruhiges Kind, das viel schläft. Aber es entwickelt sich ein wenig langsam, wird ein wenig spät laufen und sprechen lernen.“

„Etwas rachitische Disposition,“ nickte er. „Das giebt sich bei richtiger Ernährung.“

So harmlos verliefen diese Minuten! Doktor Hartmann sah nach der Uhr. „Ich befreie Sie, gnädigste Frau, mache Platz für ungestörte Genesung.“ Einen Augenblick suchten beider Blicke einander, dann wich sie aus. „Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme.“ Sie fühlte, daß sie ihm die Hand reichen mußte – er hätte sie brennend gern an die Lippen geführt, aber er spürte ein Widerstreben und ließ ab.

„Ich nehme nichts, was Sie nicht freiwillig geben – sorgen Sie nicht,“ sagte er ruhig. „Auf morgen, ihr kleines Volk!“ Und er ging, ohne sich umzusehen.

„Das war überstanden,“ murmelte die blasse Frau. „Aber ich sehe kein Ende,“ gingen ihre Gedanken. „Wann wird er wiederkommen? Wozu muß ich kämpfen? Wozu mich immer wieder verteidigen? Und wie die Kinder an ihm hängen … da ist so schwer, abzubrechen!“

*  *  *

Nun kam das Weihnachtsfest heran. Wenn auch Doktor Hartmann nicht immer daran gedacht hätte – die Kinder erinnerten zur Genüge. Er sehnte es herbei: dies Fest geht nicht vorüber, ohne daß man einander wieder berührt. Es ist einfach undenkbar. Man kann die Kinder nicht beschenken, ohne der Mutter eine Aufmerksamkeit zu erweisen – kein Geschenk, das ist ja ausgeschlossen, aber Blumen! Das sind verkleidete Gedanken, weiter nichts. Sie wird der Weihnachtsstimmung Rechnung tragen und wird sie annehmen. Wenn nicht Weihnachten, so wird er Neujahr oben sein!

Diese Frau sträubt sich, aber sie ist nicht unbefangen mehr. In den Giftkelchen, die sie ihm entgegen hält, ist etwas Honig. Und sie läßt ihm die Kinder! Er hat ein sicheres Gefühl, daß er sie bezwingen wird, das Gefühl aller großen impulsiven Kraft, daß sie unwiderstehlich ist. Aber es braucht Zeit, das muß er verwinden.

Er überlegt schon vor den Schauläden, was er für die Kinder einkaufen will …

Er ahnte nicht, wie das Nahen des Festes die blonde Frau über ihm peinigte, mit was für Entschlüssen sie umging. Alles erwartete er eher als das, was ihm drohte!

(Schluß folgt.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0803.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2023)