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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Trotz des kühlen Abschieds: sie schätzte ihn nicht gering; das war wenigstens etwas! Aber er sah durchaus keine Möglichkeit, sich ihr zu nähern: wie es schien, hatte sie so gut wie keinen Verkehr, auf alle Fälle schloß ihr Trauerkleid sie vorläufig von jeder Geselligkeit aus. Er versuchte, aus den Kindern herauszuholen, wer zu Besuch käme, ob sie wohl zuweilen mit andern Kindern spielten … er gewann den Eindruck, daß die Mama sich von früheren Beziehungen so gut wie ganz losgelöst hatte. Nicht einmal den Namen des Hausarztes, von dem sie gesprochen, bekam er aus den Kindern heraus, die nur „den andern Onkel Doktor“ kannten, dem sie immer die Zunge zeigen mußten; so stiftete er die Frau Fricke an, das Mädchen um den Namen zu befragen. Irgend ein Arzt war’s, mit lateinischem Namen; er wohnte verhältnismäßig weit – das einzige, was ihn interessierte.

Hatte er einen Augenblick daran gedacht, den Mann aufzusuchen und über die Verhältnisse der Frau Hauptmann von Einsiedel auszufragen – er ließ den Gedanken rasch fallen. Er schüttelte sich ordentlich innerlich davor.

Er hatte wenigstens „seine Kinder“ – ihre Kinder! Jeden Tag hatte er sie früh eine Stunde, mit ihren strahlenden Gesichtern kamen sie an und mit der gewissen niedergeschlagenen Selbstverständlichkeit gingen sie, wenn das Mädchen sie holen kam. Jedesmal ließ Doktor Hartmann die Mama grüßen.

Aber sie brachten nie einen Gegengruß.

Im Laufe der Zeit hatte er all die bekannten Kinderfragen zu beantworten: Ob er keine Kinder hätte. Warum nicht? Ob er keine Frau hätte. Warum nicht? Warum er nicht die Mama heiratete…

„Weil sie mich nicht heiraten mag,“ sagte er.

„Warum nicht?“

„Ich weiß es nicht.“

„Dann werde ich sie mal fragen.“

Er lachte dazu; aber sie brachten keine Antwort.

Und einmal sagte Theta: „Onkel Doktor, ich darf Dich von Mama grüßen. Ich fragte sie, und da sagte sie: Meinetwegen.“

Sie liebten ihn sehr, es ist wahr; sie hingen sich an ihn, wenn sie ausgelassen wurden, und die Kleine kletterte am Ende einmal auf seinen Schoß und küßte ihn. Dabei wurde sie ganz rot – sie schienen mit Küssen nicht verwöhnt zu werden.

Er fragte auch gelegentlich, ob sie ein Klavier oben hätten. Ja. Ob Mama spielen könnte? Ja, aber seit Papa tot ist, hat sie kein einziges Mal gespielt.

Seinetwegen hätte sie spielen können, soviel sie wollte.

Welch ein Kinderfreund war er geworden! Diese Stunden waren ihm das Beste vom Tage. Er zwang sich zum Arbeiten, aber er hatte wenig Freude daran. Eine so eigenwillige, ungeduldige Natur wie er war, knirschte er innerlich vor der verschlossenen Pforte, hinter die er sich träumte. Seine Freunde klagten, daß er sich kaum mehr sehen lasse, die Frauen fanden, daß seine Rücksichtslosigkeit zunähme. Wenn er nicht schrieb, saß er zu Hause bei einem Buche und horchte über sich, statt zu lesen, und wenn ihn die Ungeduld packte, warf er das Buch fort und lief fort – irgendwohin, wo man sich mühelos zerstreut, in ein Theater, eine Spezialitätenvorführung.

Wohin soll das führen?

*  *  *

Eines Tages kam Kurt allein herunter. „Theta ist trank, Ontel Dottor,“ sagte er.

Es stürmte heiß in ihm auf: er wird nachher Kurt hinaufbegleiten, nach dem kranken Kinde fragen! Aber er wird die Stunde warten müssen. Warten! Das fällt ihm schwer! Er ist zerstreut, sieht immer wieder nach der Uhr.

„Komm’, Kurtchen, wir werden vorn hinauf gehen.“

Oben grüßt ihn die ersehnte blonde Frau wieder, die er eine Ewigkeit nicht gesehen, gemessen freundlich, wie er sie kennt, einen Anflug von Sorge im Gesicht.

„Gnädigste Frau – was ist mit Theta?“

„O – sie hat ein wenig Mandelbelag und etwas Fieber, wie es scheint. Ich habe schon an den Arzt telephonieren lassen; es sieht nicht schlimm aus, aber man sorgt sich.“

Er kämpft mit sich. Dann hebt er die Augen vom Boden. „Darf ich sie sehen?“

Die Frage macht ihr Pein. „Ich – bitte – nicht, Herr Doktor, wenigstens jetzt nicht,“ fügt sie rasch hinzu. „Die Mädchen sind noch nicht mit Aufräumen fertig. Ich verstehe ja Ihren Wunsch …“

„Gott sei Dank,“ sagt er aus mühsam niedergehaltener Leidenschaftlichkeit heraus, „das ist doch wenigstens etwas! Verzeihung, gnädigste Frau; ich bin weit entfernt, das Kind behandeln zu wollen … aber ich bin auch Arzt … und ich liebe das Kind … Sie haben mir gestattet, es zu lieben …“

„Sie sehen die Folgen,“ nickt sie melancholisch.

„Ich leite daraus das Recht ab, mich in Ihre Häuslichkeit zu drängen,“ sagt er plötzlich bitter. „O nein …“

Sie ist blaß geworden und wehrt mit der Hand. „Mein Gott, warum sagen Sie das? Ich bin eine alleinstehende Frau, Sie ein alleinstehender Mann, und wir wohnen beide im selben Hause. Das schließt aus, daß ich Sie als Arzt wählte, geschweige, daß ein persönlicher Verkehr im Hause zwischen uns möglich wäre. Begreifen Sie nicht, daß ich schon für meinen Ruf wage, wenn meine Kinder zwischen uns hin und her gehen?“

Er reckte sich auf. „Gnädigste Frau,“ sagte er, und sein Auge flammte und es lag etwas Sieghaftes im Blick, und seine Stimme hatte den Erzklang eines unbeugsamen Entschlusses – „ich würde Ihnen am liebsten mit drei Worten erwidern und es ist eine That, daß ich sie unterdrücke. Ich werde mir diese Worte zu Anfang und Schluß jedes neuen Tages wiederholen und eines Tages werden Sie sie doch hören!“

„Ich verstehe Sie nicht,“ sagte sie erzwungen kühl, als er einen Augenblick inne hielt. „Ihr Charakter …“

„Sie werden nie Ursache haben, an ihm zu zweifeln,“ schnitt er rasch mit einer leichten Verneignng ab; und er blickte ihr offen ins Ange. Dann sagte er, an sich haltend: „Wenn Sie mir nicht einen großen Schmerz zufügen wollen, gnädigste Frau, so lassen Sie mich die Theta sehen!“

Mit so viel Selbstbeherrschung das gesprochen wurde, ein Grundton von blutwarmer Leidenschaft war darin, der Eindruck machte. Die blonde Frau sah unsicher vor sich hin und sagte ein wenig wie hilflos: „Nun gut, Herr Doktor, ich werde es Ihnen melden lassen, sobald das Zimmer hergerichtet sein wird. Das Mädchen wird Sie zu ihr führen.“

„Ich danke, meine gnädigste Frau. Ich fühle, ich lerne mit Ihrer gütigen Nachhilfe ein wenig das, worauf mich die Natur am wenigsten zugeschnitten hat: bitten und gedulden.“

Er war draußen, und die blonde Frau sah ihm mit einem langen Blick nach, als bliebe er in ihrem Gesichtskreise. Sie hatten sich beide nicht gesetzt, und so stand sie, ohne sich zu regen. Endlich schüttelte sie den Kopf. „Mein Gott,“ sagte sie für sich, „was will er? Dieser Mann macht mich unruhig. Das ist keiner, den man übersieht – das ist ein sehr kluger Mensch und eine große Natur. Er vergewaltigt die andern, wenn er will …“ Und sie setzt sich für ein paar Augenblicke und grübelt. „Ich habe Frieden, und ich will ihn behalten … ich habe genug gelitten… ich muß ihn fern halten … wie unvorsichtig war ich! Er wünscht das Gegenteil, das ist deutlich …“

Sie träumt: der Doktor Hartmann spricht noch, und die Wärme seines Tones strömt in sie, durchströmt sie. Ihr gegenüber hängt an der Wand das Oelbild eines brünetten jungen Offiziers, ein keckes, lebenslustiges Gesicht mit einem sinnlichen Zug um den Mund und herausfordernden grauen Augen – wie zufällig hebt sich ihr Blick, begegnet diesen Augen … ein leiser Schauder durchrieselt sie …

Zur Thür neben ihr tappeln Kinderfüßchen. „Mama!“ ruft Kurts Stimme, „tomm’ mal her.“

„Nein, nein,“ sagt sie für sich. „Ich habe genug.“ Und sie erhebt sich. „Ich komme, Liebling!“

*  *  *

Doktor Hartmann ist bei Theta gewesen, an ihrem Bettchen, ohne die Mutter, nur mit dem Kindermädchen. Die Frau Hauptmann war in den Zimmern, die er durchschritt, nicht zu sehen, und er fragte nicht nach ihr. Nur flüchtig streifte sein Blick über eine Einrichtung, die in den Hauptstücken ziemlich luxuriös war und Sinn für das Lebhafte und Glänzende verriet. In dem Krankenzimmer standen zwei Kinderbetten, außerdem der Kinderwagen mit dem Kleinsten drin.

Theta war über den Besuch sehr glücklich; die Untersuchung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0802.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2023)