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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Kinderfüßchen.

Novelle von Victor Blüthgen.

      (Fortsetzung.)

Die Kinderfüßchen blieben Doktor Hartmanns Studium in den nächsten Tagen; sie ließen ihm, da zum Glück das Wetter sich hielt, erträglich Zeit zum Arbeiten; so hatte er gute Laune. Es machte ihm Spaß, früh oder nachmittags ein Stündchen zu sitzen, die Cigarre in den Fingern, und mit allem Scharfsinn die zahlreichen Nuancen dieses Trapp, trapp, trapp festzustellen und zu deuten. Jugenderinnerungen, vergessene Eindrücke von hie und da wurden lebendig und halfen das Erratene in Bilder umsetzen. Er war bald überzeugt, daß die Füßchen eine nicht mißzuverstehende Sprache redeten: sie erzählten von Frohsinn, Uebermut, Niedergeschlagenheit, Furcht, Zärtlichkeit, Begehrlichkeit – von allem, was die kleinen Gemüter oben bewegte; sie deuteten dies und jenes Spiel an, wobei freilich rollende Marmeln, das Auf und Nieder des Schaukelpferdes und allerlei andere Geräusche dolmetschen halfen. Schade, daß er seine Vermutungen nicht kontrollieren konnte!

Welch eine harmlose, sonnige Welt da oben! Junges Leben, Fleisch und Blut – er sah im Geiste die kleinen, drallen Beinchen sich rühren, in Strümpfchen und Schnürschuhchen, das übrige mehr schattenhaft dazu gefügt – Miniaturempfindungen und Miniaturinteressen, abseits vom großen, ernsten Lebensgang spielend … merkwürdig anheimelnd war das! Manchmal überkam es ihn, als stände er mitten dazwischen, väterlich eingreifend, helfend, mahnend … und im Nebenzimmer bewegte sich waltend eine schlanke schwarzgekleidete Frau, stand wohl einmal in der Thür und sah ihn mit spöttischer Miene, doch nicht unfreundlich an: „Ei ei – ich denke, Sie wollten unserthalb ausziehen, Herr Doktor?“

Einmal geschah es, als er, im Begriff auszugehen, auf den Treppenflur hinaustrat, daß er diese Frau – endlich! – zu sehen bekam. Sie schritt die Treppe herab. Nur ein paar Stufen war sie noch über ihm. Er zweifelte nicht einen Augenblick, daß sie es war; in Schwarz vom Kopf bis zu den Füßen, hochgewachsen, mit ruhig gemessener Haltung und elastischem Gang, wie er sie gedacht; ein schlank aufgesetzter, jugendlicher, blonder Kopf mit blassem aristokratischen Gesicht, aus dem ein Paar ernster graublauer Augen melancholisch vor sich hin blickte. „Eine schöne Frau!“ sagte es in ihm; er fühlte, daß ihm das Freude machte, aber deutlicher noch, daß ihn das unerwartete Begegnen verwirrte. Als ob er ihr gegenüber kein reines Gewissen hätte! Unwillkürlich nahm er seinen Hut in die Hand und neigte ein wenig den Kopf, als sie an ihm vorüber schritt.

Keine Bewegung an ihr verriet, daß er sie interessierte, obwohl ihre Gedanken ebenso sagen mußten: das ist er! Nur daß doch ihre Blicke ihn flüchtig streiften, als sie seinen höflichen Gruß etwas nachlässig, wie er meinte, erwiderte. Im Augenblick ärgerte ihn das. Aber wie sie tiefer stieg, verfolgten die Augen des Nachschreitenden doch mit Wohlgefallen die Linien dieser Figur und das anmutend Beherrschte ihrer Haltung. Sie schien so etwas zu fühlen, denn sie ging bald schneller.

So, nun wußte er, wie sie aussah.

Ungefähr so, wie er heimlich gewünscht hatte.

„Diese Frau muß ich kennenlernen,“ sagt er bei sich. „Vielleicht hält sie mich zur Zeit für einen Narren, und jetzt – wenn es eine giebt, von der ich das nicht wünsche, so ist sie es. Vielleicht überschätze ich sie … es ist ja möglich … aber ich glaube es nicht.“

Er hatte für den ganzen Abend ausgehen wollen, allein er änderte seinen Entschluß und kam bald zurück. Im Hausflur traf er Frau Homeyer, die Hausbesitzerin.

„Apropos: haben Sie schon Schritte gethan, um meine Wohnuug wieder zu vermieten?“ fragte er, sich zu ihr umwendend.

„Wir haben sie angezeigt, ja …“

„Lassen Sie sein, ich bleibe vorläufig noch …“

Er legte nachlässig die Hand an den Hut, ging hinauf, aß oben Abendbrot und verträumte diesen Abend. Er hörte noch die Kinderfüßchen, bis sie bei der Hinterthür verklangen – und die größeren, kräftigeren Schritte der schönen Mutter, diese noch durch Stunden, manchmal, auf kurzen Gängen.

Er kam sich keineswegs närrisch darum vor, daß er da saß und darauf horchte; er fand das ganz natürlich und nicht im mindesten langweilig.

Ein paar Tage später – er hatte sich eben an den Schreibtisch gesetzt – öffnete Frau Fricke schüchtern die Thür.

„Wollen Sie sie einmal sehen, Herr Doktor?“

„Wen?“

„Die Kinder!“ Und sie winkte mit dem Kopf nach oben. Er machte eine ungeduldige Miene, aber er hörte es hinter ihr trappeln – irgendwo draußen – er stand auf, ging ihr nach. Iu der Küche stand das Kindermädchen von oben mit zwei reizenden Puppen: der Junge in weißem Flanellmäntelchen, ein weißflockiges Hütchen auf dem derben Blondkopf, der ihn aus großen braunen Augen trotzig furchtsam anstarrte, das Mädchen im kirschroten Prinzeßkleidchen mit rotem Wollmützchen, langes weißblondes Gelock im Nacken, blauäugig wie die Mutter, ein zierliches lächelndes Elfchen.

„Ei, so seht ihr aus, ihr kleinen Hummeln,“ sagte Doktor Hartmann, „und mit den Füßchen da springt ihr über meinem Kopfe herum!“ Er mußte unbedingt diese Füßchen genau ansehen.

„Ich habe auch einen Ziegenbock,“ sagte der Junge trotzig mit tiefer Stimme.

„So? Wie heißt Du denn, kleiner Mann?“

„Turt von Einsiedel.“

„Und dein Schwesterchen?“

„Theta.“

Das Kindermädchen stupfte die Schwester ermunternd: „Sag doch, wie Du heißt!“ Und das anmutige Geschöpfchen knixte flüchtig: „Margarete von Einsiedel.“

„Ah so! – Also Du hast einen Ziegenbock. Kann er meckern?“

„Ja, wenn man ihn auf den Kopf drückt,“ beeilte sich Theta zu erklären.

„Ich habe auch einen,“ sagte Doktor Hartmann. „Willst Du ihn sehen? Einen ganz großen!“

Das Gesicht des Jungen wurde verklärt. „Ja,“ nickte er.

„Dann mußt Du einmal wiederkommen mit Theta, jetzt schläft er gerade. Willst Du das?“

„Ja!“

„Schön, dann geht nur jetzt spazieren. Ich habe auch eine große Puppe für Theta. Aber ihr dürft niemand etwas davon sagen, auch der Mama nicht, hört ihr wohl? Sonst kommt nachts der Knecht Ruprecht und holt alles weg.“

Er gab dem Kindermädchen einen Wink, der es zum Schweigen verpflichtete. Zur Frau Fricke aber sagte er, als die Drei draußen waren, so obenhin: „Niedliche Dinger! Vielleicht gewöhne ich mich an sie.“

„Das Kleinste müßten der Herr Doktor sehen!“ hauchte Frau Fricke. „Den ganzen Kopf voll brauner Löckchen!“

„Sie scheinen ja eine große Kinderfreundin zu sein … Sorgen Sie, daß das Mädchen reinen Mund hält.“

Am Nachmittag kaufte Doktor Hartmann den größten Ziegenbock, den er in einem Spielladen finden konnte. Er war gesattelt, hatte eine Klingel um den Hals, und für die Beine gab es ein Gestell zum Schaukeln und ein zweites mit Rädern zum Fahren.

Außerdem ein Wunder der Puppenerzeugung im Alter des kleinen Equipagenbesitzers oben, mit einem Wagen und sonstigem Zubehör. Als sich das erste Erstaunen über die geforderten Preise gelegt hatte, bezahlte er, was man haben wollte, und das war ein kleines Vermögen. Er hatte gerade die Laune dazu.

Hinterher sagte er freilich bei sich: „Es ist ein Schwabenstreich! Die Fricke ist schuld. In dem Studium der unbekannten Kinderfüßchen lag Poesie – ob der persönliche Verkehr mit den Kindern mir behagen wird, ist eine andere Sache. Welch ein Heidengeld kosten mich die Knirpse!“

*  *  *

In der nächsten Zeit änderte das Leben in der Wohnung des Doktor Hartmann vollkommen sein Gesicht.

Es war ein feierlicher Augenblick, da die Frau Fricke zum erstenmal die beiden Kinder hereinführte, vor die gekaufte Herrlichkeit. Doktor Hartmann stand händereibend und studierte ihre Gesichter, wie die erste Schüchternheit allmählich dem Verlangen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0799.jpg&oldid=- (Version vom 27.4.2023)