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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Nr. 47.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

  (9. Fortsetzung.)


Nur langsam erholte sich Geheimrat Brückner von dem schweren Schlag, der ihn mit der erneuten Niederlage des Sohnes im Examen so unerwartet getroffen hatte. Dagegen wußte seine Frau aus Liebe und Rücksicht für den leidenden Gatten ihr persönliches Empfinden über die Demütigung bewundernswert zu beherrschen. Die Sorge, daß dieser sich dem Gram zu sehr hingeben könnte, ließ sie Trost- und Milderungsgründe finden, die ihr sonst nie gekommen wären, und die Fassung, mit der sie das über sie Verhängte trug, spornte ihn wieder an, sich kräftiger zu zeigen, als er war.

Doch was sollte nun werden? Nach diesem Mißerfolg war der Lebensberuf, für welchen Leo sich bisher vorbereitet hatte, für ihn verschlossen – mit achtundzwanzig Jahren!

Er mußte sich nun für einen anderen Beruf entscheiden, würde natürlich mit unendlichen Schwierigkeiten zu thun haben, zunächst von seinen Bekannten zu den entgleisten Existenzen gezählt werden und vielleicht mit der Zeit auch wirklich eine werden.

Das dachten sie beide mit vor Schmerz bebendem Herzen, aber aus Rücksicht füreinander dachten sie es nur. Man vermied noch immer eine gründliche Aussprache, man berührte das Thema nur flüchtig und entschuldigte sich gewissermaßen voreinander, wenn ein Wort Zeugnis gab von dem, was all ihr Denken beschäftigte.

Endlich, es mochte fast vierzehn Tage, seit jene traurige Botschaft ins Haus gekommen, her sein, sagte der Geheimrat eines Morgens in Anwesenheit Lisbeths zu seiner Gattin:

„Deine Einstimmung vorausgesetzt, Käthchen, habe ich gestern an Leo das Geld zur Rückreise geschickt. Danach wird er also in den nächsten Tagen eintreffen. Sei so gut, sein Zimmer ordnen zu lassen.“

„Leo – zu uns zurückkehren? – Das ist doch nicht Dein Ernst, lieber Mann?“

„Ja, mein völliger Ernst. Er ist jetzt über ein Jahr fort, und es hat absolut keinen Zweck, daß es noch länger geschieht; unter den gegenwärtigen Verhältnissen ist der einzig richtige Platz für ihn hier, bei uns. Ich kann mir den Vorwurf nicht ersparen, daß, wenn ich seine Rückkehr nach dem ersten Examen durchgesetzt hätte, das Resultat des zweiten vermutlich ein anderes gewesen wäre.“

Er schwieg, denn er sah seine Frau an, welche heftig errötet war, und empfand

Die Resi.
Nach dem Gemälde von K. Gebhardt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0789.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2022)