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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Er schloß den Brief, ohne ihn zu überlesen, in ein Couvert, versah ihn mit einer Marke, kleidete sich zum Ausgehen an – unten klingelte er noch einmal der Wirtin, um die Adresse vervollständigen zu können.

Eine Minute später warf er den Brief in einen Briefkasten.

Er lief eine Stunde ziellos spazieren, am Kanalufer, in der Sonne. Die Sache ging ihm im Kopfe herum; er mußte erst mit ihr fertig werden, diese Verstimmung ein wenig auskochen lassen. Hoffentlich nimmt die Dame Vernunft an! Denn wenn sie erst über ihm wohnt, regieren die Kinder oben – als Witwe hat sie natürlich eine Affenliebe für diesen Nachlaß des teuren Entschlafenen! In seiner Praxis hat er wenig mit solchen Knospen der Menschheit zu thun gehabt, höchstens früher in der Studienzeit in den Kliniken; er hat auch als Mensch nie viel für sie übrig gehabt. Sie sind ihm immer nur als die lebendigen Puppen der Weiber vorgekommen, welche sie putzen und herumschleppen und mit denen sie sich die Langeweile vertreiben – die Männer, die sich mit ihnen beschäftigen, waren ihm immer halbe Weiber gewesen.

Diese anspruchsvollen, weichlichen, launenhaften Nichtse, vordringlich und lärmend und unappetitlich! Mit einem festen Griff drückt man sie nieder, und dabei kommandieren sie große verständige Leute wie kleine Sklavenhalter. Solche unglückliche Eltern haben nur ein Auge, einen Arm, nur den halben Verstand für sich übrig …

Kurz, er dachte wie ein richtiger Junggesell.

Möglich, daß das Treiben über ihm nicht gar so lebhaft, so störend für ihn wurde, wie er das im Vorgefühl hatte. Aber es war ihm so eingefallen – es mußte so sein, und er war immer eigensinnig gewesen, wenn er einmal etwas gewollt hatte. Er wollte diese Witwe mit den drei Kindern nicht über sich haben!

*  *  *

Er wartete ein – zwei – drei Tage auf Antwort und er bekam keine. Jetzt ärgerte er sich, daß er nicht lieber gleich persönlich die Dame aufgesucht hatte; noch mehr über die Rücksichtslosigkeit, die einen seiner Meinung nach ganz anständigen Brief einfach ignorierte.

Am vierten Tag lag auf seinem Frühstückstisch ein lichtgrünes Briefchen, lang und schmal und mit gepreßtem Silbermonogramm im Rücken.

  „Geehrter Herr!

Ich möchte nicht noch einmal treppauf, treppab steigen, nur um mir den innern Vorwurf zu ersparen, daß ich das Behagen eines Herrn störe. Ich glaube versichern zu können, daß wir nicht mehr Lärm verursachen werden, als jemand, der nicht eben krank ist – und das sind Sie nicht, wie man mir sagt – in Berlin ertragen können muß.

Ergebenst  
Helene von Einsiedel  
geb. von Kunetzky.“ 

Doktor Hartmann bekam einen roten Kopf über dem Lesen und riß den Brief durch. „Was heißt das?“ sagte er für sich – „treppauf, treppab steigen …“ Aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß er da einen recht feinen Nasenstüber bekommen. Sie hatte sich nach ihm erkundigt – bei wem? Vermutlich bei Homeyers. Die konnten natürlich nicht mit gutem Gewissen behaupten, daß er Nervenpatient oder in der Auflösung begriffen sei … wahrhaftig, seine Gesundheit war die beste von der Welt! Sie hatte damit alle Rücksicht geübt, die er billigerweise verlangen konnte.

„Nun dann nicht,“ sagte er laut. Und in Gedanken fuhr er fort, indem er sich Thee eingoß: „Sie mag auf ihre Art recht haben. Also werde ich für mich selber auf Wohnungssuche gehen.“

Das Verdrießlichste war ihm, daß ihm dieser ganze dumme Zwischenfall die Arbeitslust nahm. Seine Gedanken liefen ihm davon, als er sich nachher an den Schreibtisch setzte. Er sah immer wieder eine schwarze Dame mit feinspöttischem Lächeln, die ihm Sottisen sagte, und um sie krabbelten drei ungezogene schreiende Kinder; und dazwischen sah er bei sich die Wände ab-, die Stube ausräumen: er zog! Wohin? Dieser Winkel in Berlin war ihm so angenehm geworden.

Gleichviel, er zieht! Er geht zu Homeyers hinunter, erfährt, daß die „gnädige Frau“ durch das Mädchen hat fragen lassen, ob der Doktor Hartmann, der im Hause wohnt, etwa krank wäre … „Hätten Sie doch gesagt, ich wäre im letzten Stadium schwindsüchtig!“ … Kurzum: wenn sie wollen, daß er wohnen bleiben soll, so mögen jetzt sie es durchsetzen, den Kontrakt mit ihr rückgängig zu machen; andernfalls zieht er aus!

Er hat halbjährige Kündigung, aber es kommt ihm gar nicht darauf an, früher zu ziehen, sobald er eine passende Wohnung gefunden hat.

Damit nimmt er die Thürklinke und geht.

Und der Wirt, der ein kleiner Rentier ist, macht seufzend den Versuch, die Gnädige umzustimmen, aber er kehrt sehr rasch zurück und hat gar nichts ausgerichtet.

„Weun bloß der unglückliche Umzugstermin erst vorbei wäre,“ sagt Doktor Hartmann zu seinen Freunden, die heimlich über ihn den Kopf schütteln (denn zureden kann man ihm nicht); „dann habe ich wenigstens alle Tage meinen Normalärger, habe Thatsachen vor mir und meine Phantasie hat Ruhe. Jetzt macht mir die eine Menge Spuk zurecht, in angenehmer Abwechslung, zum Aussuchen – und ich kann nichts arbeiten …“

Am vorletzten Septembertage, als die Packer bei Rechnungsrats zu rumoren anfangen, muß ihm Frau Fricke das Notwendigste für einen Ausflug zusammenlegen – er fährt für einige Tage nach Potsdam.

*  *  *

So, nun ist geschehen, was er nicht hat abwenden können.

An dem Abend, da er zurückkehrt, hat er ein Gefühl, als müßte man dem Hause ansehen, daß darin eine große Veränderung vor sich gegangen. Aber das Haus macht sein altes Gesicht – nicht einmal den Gardinen da oben kann er abmerken, daß sie nicht die alten sind, denn die Wahrheit zu sagen: er weiß gar nicht, wie die früheren ausgesehen haben. Er läßt sich von Frau Fricke noch Thee und etwas zu essen geben.

„Das wahr wohl eine schöne Wirtschaft oben die Tage?“

„Ach ja, gepoltert hat’s genug,“ haucht Frau Fricke, „es war ganz recht, daß der Herr Doktor verreisten. Gestern haben sie noch den ganzen Tag Nägel eingeschlagen.“

„Haben Sie denn die Leute gesehen, die eingezogen sind?“

„Ja – eine schöne Frau, Herr Doktor,“ sagt sie wie in einer milden Verzückung; „und so niedliche Kinderchen!“ dabei legte sie den Kopf auf die Seite. „Und gute Sachen! Alles so vornehm. Das Mädchen sagte auch: die gnädige Frau wäre sehr vornehm, aber sie hätte es dabei sehr gut bei ihr. Sie hätte viel durchgemacht, die arme, der Herr wäre beinahe anderthalb Jahr krank gewesen, sehr jähzornig und zuletzt ganz gestört im Kopfe! Einmal wäre er ein paar Wochen in einer Anstalt gewesen, aber er hätte es nicht ausgehalten.“

„Wahrscheinlich Morphinismus, Gehirnerweichung oder so etwas ähnliches“, brummte Doktor Hartmann für sich. „Das ist freilich kein besonderer Genuß für eine Frau.“

„Ja – und in ihren Verhältnissen sind sie wohl auch dadurch ein bißchen zurückgegangen …“

„Das ist ihre Sache!“ Damit drehte er sich um, das bekannte Zeichen für Frau Fricke, zu verschwinden.

Doktor Hartmann lag nach dem Essen auf dem Paneelsofa und las Zeitungen. Nur die große Glockenlampe über dem Eßtisch mit dem Bronzenetz über der Glocke leuchtete in der Wohnung – das Nebenzimmer jenseit der aufgeschlagenen Portiere lag dämmerdunkel bis auf einen schrägen Streifen mattbeleuchteten Teppichs vorn. Es war alles so still, nur das Gas in der Flamme zischelte, und zuweilen knisterte die Zeitung in der Hand des Lesenden.

Der las zerstreut, horchte – auf was? Auf den ersten Ton über sich. Nur den ersten Ton wollte er hören. Merkwürdig, welche Wichtigkeit diese künftigen Geräusche da oben für ihn gewonnen hatten, daß er beständig an sie denken mußte! Wenn das so blieb, so wurde er nervös, wurde er verrückt! … Er sprang ärgerlich auf, ging, sich eine Cigarre anzuzünden, und legte sich dann wieder hin. Da – da rückte ein Stuhl und ein dumpfer Tritt bewegte sich weiter, in das Nebenzimmer, kehrte zurück, leicht, elastisch, doch klirrte die Glocke auf Doktor Hartmanns Lampe ein klein wenig; dann war wieder Ruhe, nur das Schälchen, welches den Ruß fängt, schwankte eine Weile nach.

Dies war also wohl die Frau von Einsiedel, die über ihm saß, die schöne Witwe mit der kühlen ironischen Miene, wie er

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