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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Ein Verbot.

Kulturbild von Marie von Ebner-Eschenbach.

Das Dörfchen liegt in einer Mulde, an einem sachten Abhang des Marsgebirges in Mähren, und ist im Westen von Waldungen umgeben. Es hat keine Kirche, nur einen Glockenturm, keine Schule, keine Schenke, an öffentlichen Gebäuden überhaupt nur ein Armenhaus, und was dieses wieder nicht hat, ist viel schwerer aufzuzählen als was es hat. Aus seinem völlig schwarz gewordenen Strohdach guckt ein Rauchfang hervor, bei dem man sich wundern muß, wie so viel Kürze so viel Schiefheit aufbringen kann. Die Mauern sind mit hellen Punkten, den Resten der ehemaligen Tünche, übersät. Vier Löcher, ein größeres, das mit alten, zusammengenagelten Latten geschlossen ist, und drei kleinere, die im Sommer bis zur Hälfte, im Winter beinahe ganz mit Lehmziegeln verlegt werden, bilden die Thür und die Fenster.

In dem Armenhause leben in zwei Zimmern fünf Personen. Zwei Männer, ein Weib und zwei Kinder. Senior ist der einst wohlhabendste Grundbesitzer des Ortes, ein achtzigjähriger Greis, dem man heute noch ansieht, daß er bessere Tage gekannt hat. Seine Schwäche gegen seine nichtsnutzigen Kinder war’s, die ihn ins Elend brachte. Jetzt ist er selbst zum Kinde geworden und gutmütig und nachgiebig geblieben. Zur Sommerszeit verdient er noch etwas mit Gänsehüten und Erdbeerenpflücken und weint nur – gerät aber nie in Zorn – wenn seine Leidensgefährten ihm die erworbenen Pfennige wegnehmen.

Kürzlich hat er an dem ehemaligen Schweine- und Ziegenhirten einen Stubengenossen erhalten.

Der wandelnde Branntweinrausch dieser Mensch! Gelb, kahl, Wahnsinn im stieren Blick; seine Sprache ein unverständliches Gelalle, sein Gesang – einst sein Vergnügen und sein Stolz – ein tierisches Geheul. Als die „Stärkungen“, die er unaufhörlich zu sich nahm, ihn so schwach gemacht hatten, daß er umfiel, wenn er mit der Peitsche knallte, steckte man ihn ins Armenhaus, wo er die Qualen einer notgedrungenen Alkohol-Entwöhnungskur litt.

Die weibliche Bewohnerin der humanitären Anstalt war Franzka, die Arbeitsscheue. Sie hatte Schimpf und Schande und Prügel erduldet, ihr angebornes Laster aber siegreich durchgesetzt. Zur Arbeit war sie nicht zu bringen gewesen, hatte immer vom Betteln und Stehlen gelebt, dank ihrer Zudringlichkeit und ihren guten, scharfen Diebsaugen besser als mancher Fleißige.

In der Pfründnerei war sie als Köchin angestellt worden und diesem Amt gewachsen, da es ja so gut wie nichts zu kochen gab. Auch hätte ihr niemand auch nur eine Zwiebel anvertraut. So setzte die starke und gesunde Person ihre altgewohnte Thätigkeit fort, bettelte jeden Vorübergehenden an und stahl, wo und was sie konnte.

Auch ihr Junge, ihr Franzko, mußte stehlen, mußte immer etwas mitbringen, wenn er nach Hause kam: ein wenig Holz, einige Nüsse, Erdäpfel oder Rüben. Kam er mit leeren Händen, waren ihm Schläge gewiß, doch nicht gar arge, denn Mutter Franzka mochte sich auch beim Züchtigen ihres Sohnes nicht anstrengen.

Er war brustkrank, hinkte und sah aus wie ein Sieben-, nicht wie ein Zehnjähriger, der er war. Sein mageres, blasses Gesichtchen hatte hübsche Züge und einen gutmütigen Ausdruck. Seine dunkelbraunen Augen blickten so neugierig und lebhaft, als ob sie sich beeilten, zu erschauen, was ihnen nur irgend möglich war in der kurzen Zeit, die sie hatten, sich in der Welt umzusehen.

Um zwei Jahre mehr als Franzko zählte die Waise Milenka, der fünfte Gast des Armenhauses. Ihre Mutter, eine bildhübsche Bauernmagd, war nach der Geburt des Kindes gestorben, der Vater hüllte sich in Anonymität. Obwohl sie in höchster Armut aufgewachsen war, mißhandelt und verachtet wurde, hatte doch niemand sie je betrübt gesehen, eine übermütige, wilde Lustigkeit lag ihr im Blute. Sie war von ihr besessen und von einer wahren Arbeits- und Erwerbswut. Ueberall wußte sie sich nützlich zu machen, scheute keine Mühe, keine Plage, vor den Pflug hätte sie sich spannen lassen, um ein paar Heller zu verdienen. Und nicht nur beim Taglöhnern zeichnete sie sich aus. In der Schule des benachbarten Ortes Wolitz, die von den Kindern des Dörfchens besucht wird, erhielt sie immer gute Zeugnisse, und zweimal nacheinander hatte sie schon einen ersten Preis für Fleiß und gutes Verhalten beim Religionsunterricht errungen. Daheim war sie ein Satan, und gewöhnlich die Geißel, manchmal aber auch die Spaßmacherin ihrer Hausgenossen. Sie hatte Einfälle, die sogar den Senior lächeln machten.

Der Alte mußte freilich jedesmal „blechen“ für die Unterhaltung. Milenka nahm ihm sein Geld nicht weg wie Franzka und der Hirt thaten; sie schmeichelte es ihm ab, nachdem sie ihn in gute Laune versetzt hatte.

Dann sah er abwechselnd sie und seine leeren Hände an und sagte traurig: „Mädel, Du bist schlecht.“

Und sie ganz bös: „Schimpf mich nicht! Ich werf’ Dir Deine lumpigen Heller vor die Füß’ und Du wirst schon seh’n …“

Sie wußte selbst nicht, was er sehen würde, und er konnte sich ebenfalls keine Vorstellung davon machen, aber die vage Drohung erschreckte ihn und er versuchte einzulenken: „Warum sollst Du nicht schlecht sein? Kinder sind schlecht. Meine Kinder sind auch schlecht.“

Der Aelteste und der Jüngste im Hause erlitten den Einfluß der willensstarken kleinen Person. Für Franzko war’s ein seliges Leiden. Er bewunderte seine Spielgefährtin immer, ihr Anblick machte ihm immer Freude, nur wenn sie von ihrem baldigen Scheiden sprach, fühlte er sich unglücklich.

Sie sah es wohl und es schmeichelte ihr und war ein Grund mehr für sie, recht oft davon zu sprechen.

„Zu Pfingsten geh’ ich in Dienst nach Wolitz,“ sagte sie einmal wieder mit einem Stolz, wie wenn sie gesagt hätte: Ich gehe zur Krönung. „Es ist schon alles ausgemacht. Ich krieg’ dreißig Gulden aufs Jahr und ein neues Gewand. Und zehn Gulden hab’ ich schon beim Herrn Pfarrer und fünf verdien’ ich mir heuer noch dazu mit Erdbeerbrocken.“

In dem Jahre waren zum Glücke des Armenhauses die Erdbeeren wunderbar geraten, und Absatz für sie fand man reichlich. Besonders gut wurden sie bezahlt in dem Badeort an der Petsch, eine Viertelstunde Weges hinter Wolitz. Der Wald wimmelte von dörflichen Besuchern und dabei mehrten sich täglich die Frevel an den Kulturen und an dem Wilde. Den ärgsten Unfug trieben nachweisbar die Armenhäusler. In seiner Kinderunschuld zertrat der Senior die jungen Anpflanzungen, und Franzka that’s aus Faulheit, um sich einen Umweg zu ersparen. Man fand jämmerlich verendete Hasen und Rehe in Fallen, die – darüber herrschte nur eine Stimme – der Hirt gelegt hatte.

An der Spitze des Forstamtes in Wolitz, dem der Wald unterstand, hatte ein langmütiger Oberjägermeister sich befunden, der zu den Unthaten der Dörfler ein Auge zudrückte. Um das andere war er vor langer Zeit durch einen Schuß aus dem Gewehr eines Wilderers gekommen.

Nach dem Tode des alten Herrn trat sein Sohn an seine Stelle, machte der schwachen Regierung ein Ende und begann einen energischen Kampf ums Recht zu führen.

Erste Verordnung: Niemand darf mehr ohne Erlaubnis in den Wald! Die kann sich aber jeder Arme im Forstamt holen. Sie wird in Gestalt eines nummerierten Blechplättchens erteilt. ZweiteVerordnung: Außer dürrem Holz, Erdbeeren und Schwämmen darf aus dem Walde nichts fortgetragen werden!

Die beiden Erlasse erweckten unendliches Gelächter. Was? Man darf nicht mehr ohne Erlaubnis in den Wald? Seit Menschengedenken haben ihn alle Leute als ihren Nährvater und als ihren Belustigungsort betrachtet. Er lieferte ihnen Holz und ab und zu einen Braten, und Streu und Gras für ihr Vieh. Er war das Stelldichein der Liebenden, die Wonne der Freunde unbefugter Jagd. Und was er gewesen ist, wird er bleiben. Es fällt niemand ein, sich an die neuen Verordnungen zu kehren. Wenn „die oben“ sehen werden, daß sie sich umsonst plagen mit ihrem Verbieten, werden sie es schon aufgeben. Maßloses Staunen brach aus, als die ersten Strafen erfolgten, als eine Fuhre Waldstreu konfisziert und der Dieb bei Gericht angezeigt wurde.

Der Spott verwandelte sich plötzlich in Erbitterung; den Schaden, den man dem Walde bisher durch Unachtsamkeit und Mutwillen zugefügt hatte, verursachte man ihm jetzt durch Trotz

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 764. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0764.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2023)