Seite:Die Gartenlaube (1896) 0719.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

und zwischen den braunen Schrunden des laufenden Berges liegen sehen. Und jetzt war alles weiß dort oben! Als wäre seit dem Abend neuer Schnee über die Simmerau gefallen! Aber dieser weiße Schnee schien Leben und Füße zu haben: er bewegte sich, er rieselte und schob sich durcheinander, machte Buckel wie eine flüchtige Natter und schlug einen Purzelbaum um den anderen wie ein ausgelassener Junge. Und dumpfes Rauschen klang im windstillen Morgen von der Höhe nieder, als wäre dort oben ein Mühlenrad mit hunderttausend Schaufeln in Bewegung.

„Jesus Maria! Das arme Madl da droben!“ stammelte Schorschl mit erblaßtem Gesicht. „Jesus Maria! Der narrische Berg, der is ja bloß g’laufen …, aber das Wasser, das rennt ja umeinander wie b’sessen! Jesus Maria! Das arme Madl!“

In dieser brennenden Sorge nahm sich der Daxen-Schorschl nicht mehr die Zeit, mit dem gewohnten Blick die Kratznarben auf seiner Hand zu betrachten. Er machte Sprünge wie ein Hirsch, der den Tritt des Jägers hörte. In der Werkstätte riß er einen schweren Eisenpickel aus der Ecke, und durch alle Räume des morgenstillen Hauses tönte seine gellende Stimme: „G’sellenleut’! He! G’sellenleut’! Da her zu mir! Pressieren thut’s!“ Er wartete nur, bis die beiden Gesellen kamen – – nicht, bis sie fertig waren. „Nur g’schwind, um Christiwillen! Laßts alle Arbeit liegen! Nehmts Pickeln und Schaufeln und laufts mir nach! G’schwind, sag’ ich! Geschwind! Jesus Maria! Das arme Madl!“ Er schwang den Pickel auf die Schulter und stürzte davon, ohne Hut und Joppe.

„He! Meister! Wohin denn?“ riefen die Gesellen. „Das müssen wir doch auch noch wissen!“

„Dalkete Dippeln übereinander!“ schrie Schorschl in hellem Zorn über die Schulter zurück, ohne seinen Sturmschritt zu verhalten. „In d’ Simmerau! Wohin denn sonst? Wie kann denn da ein Mensch noch fragen!“

Er eilte weiter, immer mit dem Blick in der Höhe, stolperte in seiner blinden Hast über jede Wasserfurche des Weges, rumpelte bei jeder Ecke gegen die Zäune und rannte die Straße hinunter, daß er schon außer Atem war, als er den Fuß des Berges erreichte. Keuchend hetzte er über den schief ziehenden Fußsteig empor, bis der Pfad unter den sprudelnden Bächen verschwand, die auf dem kreuz und quer zerklüfteten Berghang nach allen Seiten hin ihre Wege suchten: droben in der Höhe schimmerten sie weiß, hier unten aber waren sie gelb von all der Erde, die sie aus den Schrunden des Berges hervorgewaschen hatten und mit sich hinunterführten ins Thal, dessen Moorwiesen und Saatfelder in einen grauen See verwandelt waren. Schorschl verirrte sich in dem Netzwerk dieser mit jedem Augenblick sich verändernden Wassergassen und mußte, um wieder den Ausweg zu finden, hier einen Bach überspringen und dort eine breite Rinne durchwaten. Wenn er die Heubüschel, die geknickten Ruten und die zersplitterten Balkenstümpfe sah, die mit dem Schaum der Wellen von der Simmerau herunterschwammen, brach er immer wieder in den Stoßseufzer aus: „O mein Gott, mein Gott, das arme Madl! Alles reißt’s ihr davon!“

Erschöpft, von Schweiß und Wasser triefend, erreichte er die Nähe der Simmerau und gewahrte gleich den Schaden, den der letzte Erdrutsch und die fressenden Wellen an der Scheune angerichtet hatten.

„Mar’ und Josef! Der ganze Stadel is hin! Jetzt hat das Madl kein’ Stadel nimmer!“

Noch sah er keine Leute; doch im Lärm der Wellen hörte er die Stimmen des alten Simmerauer und seines Sohnes. Aufschnaufend hielt er inne und lauschte.

„Daß ich ’s Madl net hör! ’s Madl! ’s Madl!“

Plötzlich vernahm er die Stimme Vronis.

Jetzt hab’ ich’s gehört!“ Mit diesem Jubelruf sprang er so flink über den steilen Hang empor, daß ihm das Wasser der Pfützen, in die er trat, bis über den Kopf emporspritzte. Auf einem der Bäche, die an der Scheune vorübersprudelten, sah er ein langes Brett daherschwimmen. „Wart’ ein bißl, du! Das Madl braucht ihre Bretter!“ rief er, jagte mit hurtigen Sprüngen hinter dem schwimmenden Brett her, riß es aus den Wellen und trug es an eine sichere Stelle.

Als er in brennender Erregung und dennoch mit befangener Scheu den Hofraum betrat, war Michel der erste, der ihn kommen sah.

„Jeh, da schau! Da kommt der Daxen-Schorschl! Und den Pickel bringt er auch gleich mit!“ rief der Alte in heller Freude. „Grüß Dich Gott, Schorschl! Grüß Dich Gott tausendmal!“

Bei diesem Ruf ließ Vroni, die neben dem Brunnen einen Graben ausschaufelte, den Spaten sinken und fuhr mit dem Kopf in die Höhe. Sie sprach kein Wort und hatte nicht einmal einen stummen Gruß für den jungen Schmied, der bei ihrem Vater stand und mit scheuen Augen zum Brunnen herüberblinzelte. Aber die Röte, die auf ihren Wangen brannte, vertiefte sich noch, als Mathes ihr mit müdem Lächeln zuflüsterte: „Gelt, ich hab’ recht g’habt, daß er kommt?“

Tiefatmend nickte sie vor sich hin und begann die Arbeit wieder.

Schorschl schien wie auf Kohlen zu stehen; es zog ihn zum Brunnen, aber Michel hatte ihn beim Hemdärmel gefaßt und wollte nicht loslassen.

Erst mußte der Alte ein paarmal niesen, bevor er lachend sagen konnte: „Schau Dir an, Schorschl! Was sagst! Das Wasser umeinander! Das viele, schöne Wasser! Und alles reißt’s davon … den halben Stadel, die Bretter und Balken, den ganzen Boden im Garten … alles reißt’s mit ’nunter! Kruzifix noch einmal! Schau Dir nur an, wie alles schwimmt!“

Das sagte Michel mit so strahlendem Vergnügen, daß Schorschl den Alten erschrocken anstarrte und in Verblüffung stotterte: „Jesses! Michel! Was hast denn? Bist überg’schnappt? Oder hast ein’ Schwammer?“

„Ein’ Schwammer bloß?“ erwiderte der Simmerauer zwischen Lachen und Niesen. „Ah na! Ein’ ganzen Rausch hab’ ich! Ein’ ausg’wachsenen! Ja! Aber vom Wasser, weißt! Vom Wasser! Schau nur an, wie’s arbeit’t, das Wasser! Aber dem Häusl kann’s net an! Na na! Mein Häusl hat g’sunde Mauern! Dem hat der Berg mit seiner ganzen Lauferei nix machen können … dem kann auch ’s Wasser net an! Hatschiiiiih!“ Wäre die Sonne, welche die östlichen Grate vergoldete, schon in der Höhe gewesen, es hätte um Michels Nase her den schönsten Regenbogen gegeben.

„Aber helfen muß man dem Häusl halt, schön fleißig helfen, ja! Und gelt, Schorschl, hilfst mir ein bißl mit, daß wir ’s Wasser in die Gräben ’nüberdrucken?“

„No freilich, Michel! Deßwegen bin ich ja da! Und gleich pack’ ich’s an! Wo kannst mich denn brauchen?“

„Komm nur her da!“

Schorschl wollte den Pickel fassen, doch er zögerte und sah mit ratlosem Blick zum Brunnen hinüber. Es war ihm jener Herbstmorgen eingefallen, an welchem er dem Simmerauer mit so ehrlichem Willen seine Hilfe angeboten hatte – und da klangen ihm wieder Vronis zornige Worte im Ohr: „Na, Vater! Wenn wir allein unser Häusl net halten können … der hilft’s uns g’wiß net halten! Dem lauft ja ’s eigene Haus davon! Was der anrührt, schwimmt ’nunter in’ Bach! Der hat keine guten Händ’! Bleiben wir lieber allein, Vater!“

Schorschl wurde bei dieser Erinnerung rot wie ein Krebs und kraute sich unschlüssig hinter den Ohren.

„So geh’, Schorschl, mach’ weiter!“ rief der Simmerauer, während Mathes kam, um dem Daxen-Schorschl zum Gruß die Hand zu reichen.

Den schweren Atem durch die Nase blasend, spähte Schorschl ins Thal hinunter, in welchem das Dach seiner Schmiede mit dem spitzen Giebel deutlich hervorstach zwischen den anderen Dächern.

Dieser Anblick schien ihm Mut zu machen. Mit dem Ellbogen schob er die Hand zurück, die ihm Mathes reichte, und machte ein paar Schritte gegen den Brunnen.

Noch immer kehrte ihm Vroni den Rücken zu; sie schien nicht zu merken, was hinter ihr vorging, und arbeitete mit solcher Hast, als wäre für die Rettung des Hofes kein Augenblick zu verlieren.

„He! … Du! … Madl!“ klang es mit würgenden Lauten aus Schorschls Kehle.

Vroni ließ den Spaten ruhen und blickte langsam auf.

Als Schorschl diese glänzenden Augen sah, blies er die Backen auf, als ob ihm schwül wäre, und fragte kleinlaut: „Geh, sag’ … verlaubst mir’s denn, daß ich ein bißl mithilf’?“

Der Simmerauer machte große Augen, stemmte kopfschüttelnd die Fäuste in die Hüften und wandte sich zu seinem Buben: „Was treibt er denn da? Hab’s ihm ja ich schon verlaubt! Warum muß er denn erst noch ’s Madl fragen?“

„No mein’,“ flüsterte ihm Mathes zu, „haben thun s’ halt was miteinander, die zwei!“

„Ah! Da schau Dir an!“ Michel mußte niesen. Dann fuhr er sich mit dem Hemdärmel über die Nase und wiegte schmunzelnd

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0719.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2023)