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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

unser Fritz wird zeigen, daß er ein ganzer Mann sein kann – gelt, Fritzel?“

Ich habe, sowohl im Leben als auf den Brettern, die das Leben bedeuten, manche ergreifende Scene gesehen, aber keine, die dem Augenblick gleichkam, da der Affe, ob bewußt oder nicht, noch einmal mit den schwermütigen, bereits umschatteten Augen zu Fritz herüberschaute – wie dann das Kind, ohne daß ein Laut über seine tief erblaßten zitternden Lippen kam, den Affen in seine Arme nahm und mit ihm davonging – dem Walde zu!

Wir riefen – wir baten – umsonst; hin und wieder unter der immer schwerer werdenden Last schwankend, aber stetig vorwärts, schritt Fritzens schmächtige Gestalt; er wollte allein sein mit dem gestorbenen Gespielen seiner Tage, mit dem großen Schmerz in seinem kleinen Herzen – und wir ehrten diesen Schmerz.

Andern Tages fuhr die Tante ab, ohne daß mein Mann, den ein Termin in die Stadt rief, ihr zum Bahnhof das Geleite gab. Er hatte seltsamerweise immer Termin, sobald ihm etwas nicht paßte – der gute Mann!

Die Zeit ging ihren Lauf, und auf arbeitsgesegnete Tage folgten bange Nächte, während deren langen Stunden der Flügelschlag der Sorge um unsere Häupter rauschte. Dazwischen führten meine erregten Nerven mir mit wunderbarer Konsequenz das Bild des sterbenden Affen vor Augen, und immer lauschte das Ohr noch auf ein Lebenszeichen jener kleinen Schildkröte, deren Dasein des Tages mannigfache Abziehungen in Vergessenheit brachte – umsonst. – Der Affe war tot, die Kröte blieb verschwunden, und täglich mehr erstarb die Hoffnung in unseren beiden belasteten Herzen.

Müde und niedergeschlagen kam mein Mann an einem heißen Tage vom Felde. „Ich habe dem Briefträger einen Brief von der Tante abgenommen; weiß nicht, ob an mich oder an Dich adressiert; jedenfalls ist mir der Inhalt gleichgültig; lies Du nur, liebe Alte!“ Er schickte sich an, wieder fortzugehen, wurde aber, nachdem ich den Brief überflogen, energisch daran verhindert.

„Alte, Kind – was ist Dir?“

Ich bedurfte einer kleinen Weile, ehe ich mich fassen, ehe ich meine Augen von den emporquellenden Thränen klären, ehe ich überhaupt fähig war, wieder zu lesen. Ich überging den Dank für die genossene Gastfreundschaft – und fing mit dem Kern des Schreibens an: „Und nun, mein lieber Neveu, zu dem Hauptpunkte, der mir die ganze Zeit über auf dem Herzen liegt und mich nicht zur Ruhe kommen läßt, bis ich klipp und klar darüber gesprochen habe. Es wurmt mich die Geschichte mit dem miserablen Vieh, das mich freilich sattsam geärgert hat. Aber das Gefühl der Mörderschaft, und sei es auch nur einem Affen gegenüber, stört einem, der sich bis dahin ganz tadelfrei glaubte, das Selbstbewußtsein und bringt ihn auf allerhand Gedanken, die er sich selbst machen muß, weil einer alten reichen Erbtante niemand mehr die Meinung sagen mag. Und da war es mir auf einmal, als höre ich meines Vaters Stimme: ,Sollst Dir schämen, Kunigunde (er hielt es immer mit dem Dativ, mein seliger Vater), sollst Dir aus tiefster Seele schämen; zuerst der Geldgier, die die Heftigkeit gebar, und dann wegen der Heftigkeit, die zu einer That kleinlicher Rache geworden, wie solche eines noblen Frauenzimmers nie und nimmer würdig ist.‘

So tönte es vor meinem inneren Ohr, und der Klang von Geisterstimmen ist kapabel, den Menschen zu seinem eigenen Heile einmal umzukrempeln wie einen alten Filzhut; ich sah auf einmal ganz klar, daß ich in dieser Sache unrecht hatte. Es ist eine Inkonsequenz gegen mein bisheriges Wesen, daß ich’s euch zugestehe, deshalb kommt es mir auch jetzt nicht mehr darauf an, eine zweite hinzuzufügen, in betreff der euch gekündeten Hypothek nämlich. Ich hatte durch Zufall von eurer Verlegenheit gehört, und als Deine Einladung kam, liebe Nichte, war ich über die Motive zu derselben mich nicht einen Augenblick im unklaren.

,Wirst trotzdem die Einladung annehmen,‘ dachte ich bei mir selber; ,wirst dir einmal das gepriesene Familienleben dort in der Nähe betrachten; wirst dich anständig für die Gastfreundschaft revanchieren, durch einen silbernen Tischaufsatz oder was noch sonst in dem Haushalte fehlt – aber das Geld wirst du dem Herrn Neffen nicht geben; auch nicht einen Deut!‘

Ich wußte also, daß ihr bei eurer Einladung nur an die Hypothek gedacht; ich roch die Hypothek aus der Rose, die man mir auf meinen Teller gelegt; ich schmeckte die Hypothek aus dem Lieblingsgericht, das mir Deine Frau bereiten ließ; und wenn ihr euch eingehend mit meinen Interessen zu beschäftigen schient, so wußte ich, daß der Hintergedanke die Hypothek war! – In jenem Augenblick aber, wo angesichts des von meiner Hand getöteten Tieres Deine Frau in gerechtem Zorn aufbrausen wollte, und wo der Druck Deiner Hand das Wort auf ihren Lippen festbannte, damit das Kind nicht erfahren sollte, was ihm die alte Tante für ein Herzeleid gethan, habt ihr beide nicht an die Hypothek gedacht.

Du dachtest auch nicht daran, da Du mich ohne Deinen geleitenden Arm von Deiner Schwelle gehen ließest, trotzdem jesuitische Klugheit geboten hätte, das Eisen zu schmieden, solange Reue und Zerknirschung es in Glühhitze halten, und gerade darum habe ich euch die Motive zu eurer Einladung vergeben. Wer der Armut im Leben gegenübergestanden, weiß außerdem, daß der Teufel in der Not Fliegen frißt, und daß der Landmann in Not sich, die Zähne zusammenbeißend, alte Tanten als Sommervögel invitieren thut.

Mithin kannst Du Dir das Geld von der Bank abholen; morgen, übermorgen, wann es Dir paßt; sollst es aber nicht auf den Namen „Kunigunde von Böhmer“ eintragen lassen, sondern einfach auf den Namen Deines Jungen, dieweil die alte Tante den Blick nicht vergessen kann, den Blick, den der Affe und das Kind zum letztenmal auf dieser Erde gewechselt. – Es ist aber von altersher ein Brauch, daß der Mensch, wenn er eine Schuld mit sich herumträgt, dem innern Drange nach einer Sühne nachgeht – wollt ihr der alten Kunigunde diese Sühne verwehren?

Sollt aber die Zinsen des Kapitals nicht etwa in einer Menagerie anlegen, oder in Dingen, die in Bezug auf die Nützlichkeit auf gleicher Höhe mit dem sündhaften Gardinen-Ueberfluß stehen; sollt die Zinsen zum Kapital schlagen, damit mein Fritz – Kinder, gönnt mir die Freude, ihn hin und wieder so zu nennen – dereinst bei der Kavallerie eintreten kann; denn: ,Es ist doch ein ander Ding um den Mann auf sechs Beinen,‘ hat mein seliger Vater immer gesagt!

Nun habt ihr aber noch eine Liese, über welche Liese, trotzdem ich ihr keinerlei Getier umgebracht, auch noch ein Wörtchen gesprochen werden soll. Sollte dieses Kind dereinst auf den thörichten Zopf anbeißen, zu heiraten, so wendet euch wegen der Aussteuer an die alte Base, die Parkstraße 103 zu finden ist. Und sollte sie bis dahin schon eine Staffel höher gezogen sein, einberufen als Rekrut der großen Armee, die unser Herr Jesus Christus kommandiert, und bei der mein seliger Vater nun schon über fünfzig Jahre steht, so ist im Testament dafür gesorgt. Kannst ruhig die Sofas und das Gestühle bestellen, liebe Nichte, damit die Liese mit dem Lieutenant ihres Herzens dereinst bequem und gut zu sitzen kommt.

Aber nun noch eins! So Gott will und ich gesund bleibe, möchte ich im künftigen Jahr noch einmal als alter Sommervogel bei euch Einkehr halten, und ich meine, daß ihr mich dann um meiner selbst willen freundlich willkommen heißen werdet!“


Nachdem wir diesen Brief gelesen, war es eine Weile sehr still im Zimmer – – – ich hatte die Arme um den Hals meines Mannes geschlungen – und wir haben leise, vor uns hingeweint; er nach Männerart, nur der Thränlein eines oder zwei – ich deren so viele, daß er mit dem Taschentuch energisch über meine Augen fuhr.

„Aber Alte, fasse Dich doch; aller Sorgen ledig, unser Fritz sichergestellt – gesegnetes altes Tantenherz – August soll hereinkommen – hörst Du nicht, August?“

August kam.

„Kannst Dir heute eins antrinken, August, obschon es erst Donnerstag ist – knüppeldick – kannst die ganze Welt für einen Tanzsaal ansehen“ –

Unzweifelhaft hätte August einen Luftsprung gemacht, wäre der Respekt nicht ein Hemmnis gewesen; außerdem richtete sich die Aufmerksamkeit des Alten fest auf den Bücherschrank, dessen leichtangelehnte Thüre durch eine sanfte Gewalt von innen sich sachte öffnete – worauf hellen Blickes ein zierlicher Schildkrötenkopf lauschend durch die Spalte äugte.

Jetzt kam der Luftsprung doch zur Ausführung – klatschend fiel die Hand aufs Knie und, „Vogel, lebst Du auch noch?“ klang Augusts Stimme in den Dank und Jubel unserer Herzen fröhlich hinein!


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0623.jpg&oldid=- (Version vom 2.12.2022)