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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Schlug es dann voll, so machte Fräulein Nunnemann wohl ihr Buch zu, aber es traf sich dann jedesmal so, daß sie noch an ihrem Pulte zu thun hatte. Sie klappte den Deckel in die Höhe, so daß ihre kleine Gestalt völlig dahinter verschwand, und begann in dem Innenraum zu kramen mit einem Eifer, der sie das Läuten der Hausthürglocke, das Oeffnen der Stubenthür und das einstimmige „Guten Morgen, Herr Beseler!“ der ganzen Klasse völlig überhören ließ. Und erst wenn Herr Beseler mit seinem geschäftsmäßig raschen Schritt an das Pult trat, schnellte plötzlich Fräulein Nunnemann wie ein Geist aus der Unterwelt dahinter hervor, errötete lieblich, stammelte eine Entschuldigung, sie hätte hier noch zu thun gehabt und des Herrn Kandidaten Kommen gänzlich überhört, und zog sich knixend zurück, nachdem Herr Beseler pflichtschuldigst einige höfliche Worte mit ihr gewechselt hatte.

Zuerst nahm der gute Herr Beseler, der in solchen Dingen arglos war wie ein Kind, das ganz bescheiden für Zufall. Nach und nach aber, als die himmelblaue Taille jedesmal hinter der Pultklappe aufleuchtete, wenn er eintrat, befiel ihn eine gewisse Befangenheit und schließlich geradezu Angst. Er kürzte die Unterhaltung, die er zuerst in freundlich harmloser Weise geführt hatte, täglich mehr und mehr ab und kam von Woche zu Woche später in die Stunde, so daß Fräulein Nunnemann endlich doch die Absicht merken mußte. Sie war aber eine zu gute Seele und zu liebevoller Natur, um verstimmt zu werden. Zwar verließ sie die Klasse mit dem Glockenschlage, so daß Herr Beseler bald wieder Mut schöpfte und mit altgewohnter Pünktlichkeit erschien, aber schon nach wenigen Tagen hatte sie ein neues Mittel der Annäherung gefunden.

War nämlich die Stunde etwa halb beendet, so ertönte plötzlich ein leises, zaghaftes Pochen an der Stubenthür. Auf Herrn Beselers „Herein!“ erschien dann Fräulein Nunnemann errötend und verlegen auf der Schwelle.

„Stör’ ich auch?“

„Bitte, bitte,“ sagte der höfliche Herr Beseler, einen Seufzer unterdrückend, „durchaus nicht. Wünschten Sie etwas?“

„Ich muß meinen Bleistift hier vergessen haben – ich brauche ihn notwendig – erlauben Sie vielleicht –“

„Gewiß; gestatten Sie, daß ich suchen helfe,“ entgegnete Herr Beseler gottergeben. Der Bleistift, die Taschenuhr, oder was es sonst gerade sein mochte, fand sich denn auch jedesmal nach einiger Mühe, Fräulein Nunnemann knixte dankend hinaus, und der Unterricht konnte seinen Fortgang nehmen.

Herr Beseler aber ergab sich in sein Schicksal; Fräulein Nunnemann war offenbar zu klug für ihn. Er sah kein Mittel, ihr zu entrinnen, und ertrug die unvermeidlichen Störungen schließlich mit einem Gleichmut, der uns ausnehmend verdroß, denn nun, da er nicht mehr ärgerlich errötete, nicht mehr ungeduldig seufzte, auch nicht mehr ingrimmig die Stirn runzelte, wenn seine beharrliche Verehrerin das Zimmer verlassen hatte, war ja durchaus gar kein Spaß mehr an der ganzen Sache.

Wie es überhaupt möglich war, daß sich Fräulein Nunnemann volle zwölf Monate an unserer Schule behauptete, erklärt sich einzig und allein aus der Thatsache, daß der sonst so kluge und vorsichtige Herr Konrektor Müller sich auf ihren dringenden Wunsch und verführt durch die ungewöhnliche Vorzüglichkeit ihrer Empfehlungen kontraktlich verpflichtet hatte, sie vorläufig auf ein Jahr anzustellen. Kaum aber war diese Frist abgelaufen, so verschwand das kurzweilige Fräulein Natalie ganz plötzlich aus unserem Kreise. Ich schäme mich beinahe, zu gestehen, daß keine ihrer Schülerinnen ihr eine Thräne nachweinte. Aber wir waren, uns selbst unbewußt, der Mißwirtschaft in der Schule eigentlich längst überdrüssig und sehnten uns nach einer festen, liebevollen Hand, die uns sicherer führte, als es im letzten Jahre geschehen war. Fräulein Nunnemann entschwand aus unserem Gesichtskreise vollständig. Keines von uns Kindern, keine der Familien, bei welchen sie Gastfreundschaft genossen hatte, erhielt je einen Brief von ihr. Sie war für uns wie vom Erdboden verschwunden. – –

Und die Jahre vergingen. Aus uns kleinen Rekruten wurden große Mädchen der ersten Klasse, ohne daß uns die feste, liebevolle Hand geworden wäre, die uns hätte leiten sollen. Herr Konrektor Müller wurde versetzt, Herr Beseler erlag einem Magenleiden, und unsere kleine Familienschule hatte wahrhaft abenteuerliche Schicksale der seltsamsten Art. Zuweilen waren wir höheren Töchter längere Zeit ganz ohne irgend welchen Unterricht, verwilderten stark und waren in Gefahr, das Bißchen, was wir bis dahin gelernt hatten, völlig zu vergessen. Aber eine vergnügliche Kindheit hatten wir auf diese Weise, und frisch und gesund blieben wir dabei. Das Wort „Arbeitsüberbürdung“ war uns ein leerer Schall. Ich wurde konfirmiert, wurde, wie es sich nun einmal gehörte, fortgeschickt, „um Haushaltung zu lernen“, besuchte das Lehrerinnen-Seminar – es war bereits ein schleswig-holsteinisches – wunderte mich, daß ich mit anderen, besser vorbereiteten Schülerinnen Schritt halten konnte, und war endlich beinahe achtzehn Jahre alt und nach meiner eigenen damaligen Ansicht äußerst ernsthaft, gereift und verständig geworden, als das drohende Gespenst der „Prüfung für höhere Töchterschulen“ mir von Tag zu Tag mit unheimlicher, geradezu beängstigender Schnelligkeit immer näher rückte.

Ich hatte in den letzten Jahren manchmal im innersten Herzensschrein den vermessenen Gedanken gehegt, ziemlich viel zu wissen und meinen Mitschülerinnen wenigstens in einigen Fächern erheblich überlegen zu sein; jetzt, da ich die Tage bis zum Examen an den Fingern bequem abzählen konnte, wurde es mir auf einmal mit gräßlicher Gewißheit klar, daß ich eigentlich überhaupt gar nichts wüßte und jedenfalls von allen Examinandinnen die unfähigste wäre. Ein unsinniger Eifer erfaßte mich, noch alles zu lernen, was ich nicht wußte, und ein paar Tage lang arbeitete ich, als wenn es um mein Leben ginge.

Dann sah ich plötzlich ein, daß es verlorene Liebesmühe sei, die gähnenden Abgründe meiner bodenlosen Unwissenheit jetzt auf einmal noch ausfüllen zu wollen, und ich arbeitete gar nichts mehr, was vielleicht das Beste war, was ich thun konnte. Hatte ich früher gehofft, eine Eins zu erreichen, so beschloß ich jetzt kleinlaut, zufrieden zu sein, wenn ich nur nicht durchfiele, und mich über eine Drei noch zu freuen. Ich schrieb nach Hause, man möchte dort, bitte, auf das Entsetzlichste gefaßt sein, und benahm mich mit einem Worte, wie es achtzehnjährige Mädchen, die vor der Lehrerinnenprüfung stehen, vermutlich noch heute thun.

Und der mit schaudernder Sehnsucht erwartete Tag der Prüfung kam heran.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.

Das Jung-Bismarck-Denkmal auf der Rudelsburg. (Zu dem Bilde S. 532.) Die deutschen Corpsstudenten haben die Rudelsburg an der Saale hellem Strande zum Standort patriotischer Denkmäler gewählt. Dort errichteten sie ein Kriegerdenkmal zum Andenken an ihre im Kriege um Deutschlands Einheit gefallenen Kommilitonen; dort verherrlichten sie durch einen Obelisk Kaiser Wilhelm I., und nun ist auf der Höhe der Rudelsburg am 23. Mai die Hülle von einem dritten Denkmal gefallen, durch das die deutschen Corps ihrer Liebe und Verehrung für den Fürsten Bismarck einen beredten Ausdruck verliehen haben. Es ist ja bekannt, daß die deutschen Corps in Fürst Bismarck nicht nur den großen Staatsmann, den Einiger Deutschlands feiern, sondern auch ihn als den größten unter den alten deutschen Corpsstudenten ganz besonders in ihr Herz schließen. Hat doch Bismarck, der alte Bursch des Corps Hannovera zu Göttingen, niemals die Sympathien für seine Kommilitonen verleugnet. Dementsprechend nimmt auch das Bismarck-Denkmal auf der Rudelsburg in der großen Zahl der Denkmäler des Fürsten eine ganz eigenartige Stelle ein. Wir sehen auf ihm nicht den eisernen Kanzler, nicht den markigen Mann der vollbrachten That, sondern Jung-Bismarck, den schneidigen Bursch. Norbert Pfretzschner, auch ein alter Corpsbursche, hat das Denkmal in Bronze und Granit trefflich ausgeführt. Frisch und markig ist die Gestalt Jung-Bismarcks, der mit übergeschlagenem Bein, den Schläger in der Rechten, dasitzt und frohen Muts in die Welt hinausschaut. Sie ist in doppelter Lebensgröße in Erz gegossen. Den oberen Teil des granitnen Sockels umschließt ein Kranz aus Eichenlaub und auf dem Unterbau ist außer einigen studentischen Emblemen die aus Bismarcks Studentenzeit bekannte Dogge Ariel angebracht. Die Vorderseite des Sockels zeigt ein gleichfalls von Pfretzschner modelliertes Reliefbild des greisen Reichskanzlers, während die auf unserer Abbildung dem Beschauer zugewandte Seite folgende von Dr. Hans v. Hopfen, dem verdienstvollen Vorsitzenden des Gesamtausschusses des Verbands alter Corpsstudenten, gedichtete Widmung trägt:

„Das deutsche Volk in Einigkeit,
Ein neues Reich in neuer Zeit,
Millionen haben darüber gedacht,
Aber nur Einer hat’s fertig gebracht.
Einer der Unsern in Lieb und Zorn,
Ein Bursch von echtem Schrot und Korn,
Ein alter deutscher Corpsstudent,
Den alle Welt Fürst Bismarck nennt.
Dies Bild stellt ihn als Jungbursch dar,
Dankt Gott, daß er der Unsere war.“

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