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Blätter und Blüten.


Der junge Dürer kommt zu Wohlgemuth in die Lehre. (Zu dem Bilde S. 504 und 505.) Albrecht Dürer, der größte deutsche Maler des Reformationszeitalters, war eines Handwerkers Sohn. Aber dieser Handwerker, der Goldschmied Albrecht Dürer, betrieb sein Handwerk als Kunst; er gehörte mit zu denen, welche dem alten Nürnberg des 15. und 16. Jahrhunderts zu jener Blüte des Kunsthandwerks verhalfen, die wir noch heute bewundern. In der Werkstatt des Meisters hatte der Sohn, der seinen Vornamen erbte, schon als Knabe Gelegenheit, den Sinn an schöner Form, die Hand im Zeichnen zu üben. Doch das früh sich regende Talent des gelehrigen Kleinen fand sehr bald kein Genügen am Zeichnen von Ornamenten für Schmuckwerk und Waffenzier; er überraschte Eltern und Gespielen mit Zeichnungen nach lebenden Personen, so in seinem 13. Jahre mit einem Bildnis, das er von sich selbst aus dem Spiegel aufnahm. Dieses Bild ist uns erhalten; es befindet sich in der „Albertina“ in Wien und vermittelt uns einen Einblick in das früheste Werden der Kunst Albrecht Dürers wie die Kenntnis seines Aussehens als Knabe. Mehr noch als die in ihm bethätigte Kunstfertigkeit verblüfft uns darin die wundersam beseelte Charakteristik der Gesichtszüge und deren bereits vorhandene Aehnlichkeit mit den späteren Selbstporträts des zum Manne gereiften Meisters. Ein sanfter milder Ausdruck waltet in ihnen vor; in den Augen liegt Sinnigkeit und ein früher Ernst, der durch das langgetragene Haar noch gehoben wird; die kräftig hervorspringende Nase und die leichtgewölbten geschlossenen Lippen über dem entwickelten Kinn deuten auf Energie und Bewußtheit des Willens. 1486, zwei Jahre nach dieser Kunstprobe, also in seinem 15. Jahre, kam der junge Dürer zu Michael Wohlgemuth, dem zur Zeit angesehensten Nürnberger Maler, in die Lehre. In der Zwischenzeit jedoch hatte er in der Goldschmiedwerkstatt seines Vaters eine regelrechte Lehrzeit durchgemacht, was für seine künstlerische Entwicklung von hoher Bedeutung war. Mit Recht sagt A. v. Eye in seinem schönen Buch über Dürer, daß dessen hohe Fertigkeit im Zeichnen und Modellieren, sein scharfer Blick für Proportion und künstlerische Anordnung, unter der Anleitung des Vaters seine Grundlage erhielt; gehörte doch das freihändige Gravieren in Metall zu den Hauptkunstfertigkeiten des Goldschmieds. Nur ungern scheint sich der Alte entschlossen zu haben, das reiche Talent seines Albrecht einem andern „Handwerk“ zu überlassen.

Ja, auch die Malerei hatte sich damals in Deutschland noch nicht aus den Banden des zunftmäßigen Handwerks losgelöst. Sie war auch da, wo sie als freie Kunst geübt ward, ein Kunsthandwerk wie die Goldschmiederei, Erzgießerei, Formenschneiderei, Steinhauerei etc. Kunstschulen und Akademien waren dieser Zeit noch fremd; es gab weder Farbenfabriken noch Handlungen mit Malutensilien. Wer Maler werden wollte, trat bei einem Meister als Lehrling ein, lernte bei diesem zunächst die Hilfsleistungen, die Bereitung und das Anreiben der Farben, das Zurichten und Glätten der Holzlafeln, auf denen damals vorherrschend gemalt ward, das Reinigen von Pinseln und Palette, bis er zur kunstgemäßen Anwendung dieser Dinge zugelassen wurde; nach vollendeter Lehrzeit hatte er dann als Gesell auf die Wanderschaft zu gehen und bei anderen Malermeistern Arbeit zu suchen. Auch der Kunstübung selbst haftete viel Handwerksmäßiges an und selbst Meister Michael Wohlgemuth, obwohl in seinem persönlichen Schaffen ein wirklicher Künstler von ernstem Streben, ließ in seiner Werkstatt von zahlreichen Gesellen Votivtafeln und Altarbilder fabrikmäßig nach herkömmlicher Schablone herstellen. Als Albrecht Dürer der Vater hier seinen Knaben einführte und den ergrauten Maler bat, den Sohn als Lehrling anzunehmen, mag dieser freilich beim Betrachten der frühen Talentproben desselben sogleich erkannt haben, daß dieser stille sanfte Knabe mit dem feierlichen Ernste im Blick zu Höherem berufen sei, daß sich ihm hier die beglückende Aufgabe stelle, als Meister der Kunst einen neuen Meister heranzubilden. Und daß er sich dies angelegen sein ließ, das beweist die Anhänglichkeit, welche Dürer, nachdem er selbst zu Ansehen und Ruhm gelangt war, seinem alten Lehrer bethätigt hat und von welcher auch das liebevoll ausgeführte Bildnis zeugt, das er dann von ihm malte. Als Dürer im Alter daran ging, Nachrichten über sein Leben niederzuschreiben, hat er sich über seine Lehrzeit nur kurz dahin geäußert, es habe ihm in derselben Gott Fleiß verliehen, „daß er wohl lernete“, und hinzugefügt, daß er viel von den Gesellen seines Meisters zu leiden gehabt habe. Wir dürfen annehmen, daß nicht nur das vor allem Gemeinen zurückschreckende Wesen des Jünglings den Hohn und Spott ganz anders gearteter Zunftgenossen herausforderte, sondern daß auch die Ausnahmestellung, die dieses Wesen sich beim Meister eroberte, dazu beigetragen hat, ihm die Mißgunst der die Kunst nur als Handwerk betreibenden Gesellen zuzuziehen.

Den bedeutsamen Augenblick, in welchem der junge Dürer in diese Welt des Lernens eintrat, hat F. Bayerlein in unserem Bilde mit Benutzung all dieser Motive lebensvoll dargestellt. Zur Ausführung der Gestalten des die Zeichnungen des jungen Talents teilnahmsvoll prüfenden Wohlgemuth, des kritisch dreinschauenden Vaters und des gespannt das Urteil erharrenden Knaben, konnte er die Bilder benutzen, in denen Dürer selbst die drei Charakterköpfe der Nachwelt überliefert hat. Im Hintergrund zeigt das Bild einen Lehrjungen gewöhnlicheren Schlags beim Farbenreiben und einen jener Gesellen, von denen der jetzt neu eintretende Lehrling dann so grobe Behandlung zu ertragen gehabt hat. Ihm selber aber sehen wir an, daß Roheit und Unbill seinem Streben nichts anhaben und ihn nicht irre machen werden an seiner Mission, die Handfertigkeiten, die er sich auf dem goldenen Boden des Handwerks erworben, in den Dienst einer Kunst zu stellen, die unter dem Einfluß der Renaissance das innigste Empfinden seiner eigenen Seele, die tiefsten Gedanken seines eigenen Geistes in Darstellungen voll Schönheit und Wahrheit zu offenbaren berufeu war. J. P.     

Am Strand. (Zu dem Bilde S. 501.) Es ist zur Zeit der beginnenden Ebbe. Gestern wütete ein arges Wetter draußen auf See, turmhoch gingen die Wogen und gar manches Schiff mag da seinen letzten Kampf gekämpft haben. Jetzt aber ist Frieden in Luft und Wasser. Das ist die günstigste Zeit für den Fischfang; denn die schuppigen Bewohner der blauen Tiefe, die sich während des Sturmes in die dunklen und unbewegteren Gründe zurückgezogen haben, kommen jetzt wieder zu den lichteren Regionen empor, um frischen Sauerstoff einzunehmen. Sie gehen während des Aufsteigens und der damit verbundenen Suche nach Nahrnng sehr leicht in die Netze und an die Angeln. Die Angehörigen unseres Flschermädchens benutzen bei ihrem Gewerbe jedenfalls das Angelzeug, denn das schwermütig dreinschauende junge Wesen hat nicht so ganz von ungefähr die Gerätschaften zum Köderfang mitgenommen und sich an den Strand begeben. Der an einem langen Stiele befestigte Haken dient ihr nämlich dazu, den „Pierer“ oder Sandwurm aus dem trockengelaufenen Ebbestrand herauszuholen. Der „Pierer“, Arenicola piscatorum, ist der begehrteste Fischköder; überall wo es an den europäischen Flachküsten Sand giebt, ist darin das regenwurmartige Tier zu Millionen zu finden; man erkennt seinen Stand an den bindfadenförmigen gewundenen Erdhäufchen, die oft zu vielen Tausenden einen Quadratmeter freigelaufenen Erdreichs bedecken. Unser junges Fischermädchen ist eine Belgierin oder Nordfranzösin, denn an der deutschen, niederländischen und auch dänischen Küste benutzt man zum Fang des „Pierers“ ein gabelartiges Instrument, mit welchem der Wurm ausgegraben und zugleich aufgespießt wird. Der Hakenstock dagegen herrscht an der belgischen und französischen Küste. Das hat seinen guten Grund; die Küstengewässer werden hier nämlich reicher und reicher an Krabben und kleinen Schaltieren. Der Hakenstock dient nun beiden Zwecken zugleich; der begehrte Fischköder, der „Pierer“, wird mit ihm aus dem Sande aufgehakt und blitzschnell in den Segeltuchsack befördert, der unserem Strandmädchen auf der linken Hüfte hängt, aber auch mancher fette Taschenkrebs, mancher Seeigel muß sich den Haken gefallen lassen, um hinterher in die Basttasche zur Rechten unserer Fischerin zu wandern und später eine gute Abendmahlzeit abzugeben. H. P.     

Verwaist! (Zu dem Bilde Seite 513.) Der Pirschgang ist des Jägers größte Kunst und größte Lust. Sich hinsetzen und dem heranziehendcn Bocke die Kugel zuzusenden – das kann jeder, aber den Bock geräuschlos schleichend aufsuchen und dann bei wenig Deckung schußmäßig an den alten schlauen Burschen heran zu weidewerken – das ist des Jägers höchste Befriedigung. Beim Weidewerken hat man alles im Auge und sieht auch manches, was man sonst nicht zu sehen bekommt – da steht auch einmal auf der Waldblöße eine Ricke, umtollt von ihren buntgefleckten Kitzchen; in dir macht sich der Wunsch rege, das reizende Familienidyll ganz in der Nähe zu betrachten, und du pirschst heran. Du verstehst die Sache und bist endlich nur noch zwanzig Schritte von ihnen entfernt, so daß du genau die Zeichnung ihrer Decke unterscheiden kannst – die hellen Tupfen auf braungrauem Grunde und die dunklen treuen Rehaugen. Jetzt, wo du den lieblichen Geschöpfen so nahe bist, möchtest du eins fangen und als alter Praktikus weißt du auch, wie man es macht.

Mit laut gellendem Aufschrei springst du plötzlich hinter dem Busche hervor – die Ricke rennt ins Dickicht und wie vom Blitz erschlagen sind die Kitzchen im langen Grase verschwunden. Rasch eilst du nach der Stelle hin, wo du sie eben noch hast spielen sehen – da liegt eins platt auf die Erde gedrückt, und wenn du es aufhebst, stellt es sich leblos und ist steif, als wäre es vom Starrkrampf befallen. Allein bald erholt es sich von seinem Schreck und auf den gellenden Hilferuf eilt schmälend sofort die Mutter herbei bis unmittelbar vor dich, umkreist dich, „schnellt“ mit den Vorderläufen den Boden und schimpft und tobt so lauge, bis du dem Kitzchen die Freiheit giebst.

Des Jägers Feind ist jeder, der Flinte und Büchse führt und nicht den Weidmannsspruch befolgt:

„Das ist des Jägers Ehrenschild,
Der treu beschützt und hegt sein Wild,
Weidmännisch jagt, wie sich’s gehört,
Den Schöpfer im Geschöpfe ehrt“ –

sein größter Feind aber der Wilderer, der alles niederknallt, was er sieht und was er mit seinem Mordgewehr erreichen kann – ja, der den Hilferuf des Kitzchens nachahmt, um die Ricke heranzulocken und ihr meuchlings das todbringende Geschoß zuzusenden.

Dort, wo solches Raubgesindel sein Unwesen treibt, kann es dem weidewerkenden Jäger begegnen, daß er eine verendende Ricke im Buschwerk findet. Neben ihr stehen die verwaisten, schmachtenden Kitzchen, zupfen trauernd an der kalten Mutter herum und können nicht begreifen, daß sie nicht aufsteht, um ihnen Nahrung zu reichen und mit ihnen durch Hain und Feld zu ziehen. Aber die Ricke steht nicht auf; und ein Glück für die Kleinen ist es, wenn der Jäger sie findet und mit nach Hause nimmt, um sie dort mit Hilfe der Milchflasche zu Spielgenossen der Kinder aufzuziehen. Karl Brandt.     


Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (6. Fortsetznng). S. 501. – Am Strand. Bild. S. 501. – Der junge Dürer kommt zu Wohlgemuth in die Lehre. Bild. S. 504 und 505. – Das neue Goethe-Schiller-Archiv in Weimar. Von Dr. K. Markscheffel. Mit Abbildung. S 507. – Die Marskanäle. Ein Beitrag zur Frage über die Bewohnbarkeit der Planeten. Von Dr. H. J. Klein. S. 508. Mit Abbildungen S. 509 und 510. – In letzter Stunde! Novelle von Victor Blüthgen. S. 511. – Verwaist. Bild. S. 513. – Blätter und Blüten: Der junge Dürer kommt zu Wohlgemuth in die Lehre. S. 516. (Zu dem Bilde S. 504 und 505.) – Am Strand. S. 516. (Zu dem Bilde S. 501.) – Verwaist! Von Karl Brandt. S. 516. (Zu dem Bilde S. 513.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0516.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2023)