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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Nun vergleiche man mit dieser Erdkarte die neue Karte der Marsoberfläche. Welch ein Unterschied! Zwischen einigen dunklen Flecken mit jenen weichen, verschwommenen Umrissen, welche die Gestade der Meere auf der Erdkarte zeigen, sehen wir auf dem Mars ein höchst kompliziertes System von geraden Linien, welche Dreiecke und Vielecke miteinander bilden, ein geradezu geometrisches Netz. Und thatsächlich sind diese Linien – die berühmten „Kanäle“ – schnurgerade, wie längs des Lineals gezogen, viele darunter doppelt, einander parallel laufend wie die Schienen einer Eisenbahn. Man muß sich immer wieder daran erinnern, daß diese schnurgeraden scharfen Linien wirklich auf dem Mars zu sehen sind, wenn auch nicht alle zugleich, schon weil der Mars sich um seine Achse dreht und in nahezu 24½ Stunden uns alle Teile seiner Oberfläche nacheinander zuwendet. Auf keinem andern Planeten, ebensowenig wie auf der Erde, findet man Naturgebilde, welche auch nur im entferntesten diesem komplizierten Netze von schnurgeraden einander durchkreuzenden Kanälen zu vergleichen wären. Die dunklen großen Flecke sind, wie erwähnt, Wassermassen, Meere, und von ihnen gehen die Kanäle aus und durchziehen alle Teile des hellen Festlandes. Wo sich mehrere Kanäle treffen, sieht man meist einen runden dunklen Fleck, eine kleine seeartige Erweiterung. Merkwürdig ist, daß diese Kanäle auch in den größeren Meeresbecken sichtbar sind. Dies ist nicht immer der Fall, sondern nur zu gewissen Zeiten, wodurch bewiesen wird, daß jene Meere nur seichte Wasserbecken sein können, die im Laufe des Marsjahres sogar periodisch zu einer Art Sumpf zusammenschrumpfen.

Fig. 1. Karte des Mars in Mercators Projektion nach Lowell.

Ueberhaupt zeigt schon ein vergleichender Blick auf die Erd- und Marskarte, daß auf dem Mars verhältnismäßig nur wenig Wasser vorhanden ist, von jenen gewaltigen Oceanen, wie bei uns das Stille Weltmeer oder das Atlantische Meer, kann dort absolut keine Rede sein. Ein durchgreifender Unterschied zwischen der Erde und dem Mars ist danach vor allem der, daß auf dem Mars im allgemeinen Mangel an Wasser herrscht, und wenn man dies weiß und beachtet, scheint damit sogleich das Verständnis des seltsamen Kanalnetzes eröffnet. In der That, wer ersähe nicht aus der Karte, daß dieses Kanalnetz so angelegt erscheint, als wenn es dem trockenen Innern des zusammenhängenden Festlandes das belebende Naß zuführen sollte? Unter dieser Voraussetzung können wir die Kanäle in ihrer Anordnung begreifen, andernfalls ist es unmöglich, sie zu deuten. Sehen wir nun zu, was die beiden genauesten Kenner des Mars, Schiaparelli und Lowell, über die Meere und das Kanalsystem desselben ermittelt haben. Sie sind darin einig, daß die Kanäle, deren Durchmesser von 30 bis zu 200 Kilometern wechselt und die eine Länge von 500 bis 2000 Kilometern und darüber besitzen, ein wirkliches hydrographisches System bilden, welches dem Durchgang von Wassermassen dient und im Kreislauf der Jahreszeiten auf dem Mars eine wichtige Rolle spielt. Auf diesem Planeten ist das Wasser, wie bereits erwähnt, ziemlich knapp bemessen und die wechselnden Erscheinungen an seiner Oberfläche hängen von dem Schmelzen des Schnees in seinen Polargegenden ab. Sobald die große Schneeschmelze im Frühjahr beginnt, zeigt sich die weiße Schneezone an ihrem äußeren Rande von einer dunklen Borde umsäumt, welche mit dem zurückweichenden Eise gleichen Schritt hält. So sah es Lowell bei seinen Beobachtungen im Jahre 1894 und das Gleiche hat Schiaparelli wahrgenommen.

Fig. 2. Die Erde vom Mars aus gesehen, in Mercators Projektion dargestellt.

In dem Maße als die Jahreszeit (auf der südlichen Hälfte des Mars) fortschritt und die Eiszone kleiner wurde, sah Lowell auch den dunkeln Gürtel schmaler werden, dagegen erschienen dunkle Streifen auf der fast hellen Fläche, offenbar Ströme von Schmelzwasser, und gegen den Aequator des Mars hin wurden immer mehr Kanäle sichtbar; endlich wuchsen sie so sehr an, daß sie das ganze Festland in zahlreiche Inseln zerschnitten. Nachdem die Eiszone völlig verschwunden, der Schnee daselbst also geschmolzen ist, verschwinden auch die zeitweiligen Meeresbecken, indem die dunklen, blaugrünen Flächen erblassen und orangegelb werden. Die Oberfläche des Mars bietet dann einen eintönigen Anblick. Die Frage, wo das Wasser jetzt hingekommen ist, beantwortet Lowell dahin, daß die blaugrünen Flächen mit Vegetation bedeckt waren, für welche schon eine verhältnismäßig geringe Wassermenge ausreicht, deren An- oder Abwesenheit unmittelbar für uns nicht wahrnehmbar ist, sondern nur ihre indirekte Wirkung in der Vegetation, welche sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 509. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0509.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)