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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

wilde Reben angepflanzt, und all die üppig aufgeschossenen Ranken und Zweige, an denen jetzt die welken Blätter in allen Farben spielten, waren dieser täuschenden Malerei noch zu Hilfe gekommen, so daß es wirklich den Anschein hatte, als wäre am Purtschellerhof kein Fehl und Schaden.

Neben der Hausthür war eine steinerne Bank, überdacht von einem Laubengitter, von dessen Latten die losen Ranken des wilden Weins mit roten Blättern wirr herunterhingen. Hier saß Frau Karlin’, das junge Weib des Purtscheller Toni, und vor ihr, auf dem ebenen Backsteinpflaster, trippelte ihr Knabe umher, ein vierjähriges Kind, bleich und schwächlich. Während das Bübchen still und ohne Freude ein hölzernes Pferdchen hinter sich herschleifte und sein Spielzeug, so oft es auch umkippte, geduldig immer wieder auf die mit Rollen versehenen Füße stellte, hatte die Mutter die Hände mit der Häkelarbeit im Schoß liegen und hielt den Kopf wie in tiefer Ermüdung an die Mauer gelehnt. Sie war städtisch gekleidet, weil es ihr Mann so haben wollte – und die schmächtige, zartgegliederte Gestalt hätte die Herkunft aus dem Bauernhaus gar wohl verleugnen können. Sogar weiße Hände hatte sie bekommen, denn der Purtscheller-Toni fand es unter der Würde seiner Frau, daß sie grobe Arbeit that und in der Wirtschaft mithalf. Sie hatte, wie ihr Mann den Leuten zu erzählen liebte, ein Leben, um das jede Gräfin die Purtschellerin beneiden könnte und dennoch fühlte sie an jedem Abend eine Müdigkeit in allen Gliedern, als hätte sie während des ganzen Tages schwer gearbeitet.

Im vergangenen Winter war sie dreiundzwanzig geworden, aber man nahm sie für älter, für eine dreißigjährige. Wohl hatte ihr schmales Gesichtchen noch ganz jene sanfte, rührende Schönheit, die den Stolz des Purtscheller so klein gemacht hatte, daß er sich die Karlin’ aus der Gesindestube des Pfarrers holte. Und wie eine Krone lagen ihr noch immer die vollen braunen Flechten um die Stirn. Aber ein Zug des Leidens war um ihren stillen Mund gegraben, und eine bange, zehrende Schwermut redete aus ihren Augen …

Auf der Straße ging eine Bäuerin vorüber und rief einen Gruß herauf. Die junge Frau erwachte aus ihrem Sinnen und dankte. Langsam strich sie mit der Hand ein Büschelchen Haare von der Schläfe hinters Ohr – das war so eine Gewohnheit von ihr. Dann nahm sie die Häkelarbeit auf, nestelte in der Dämmerung ein paar Maschen – und wieder lehnte sie den Kopf an die Mauer und atmete tief, als empfände sie die Kühle des Abends wie Erquickung.

Wie still und schön dieser Abend war, mit seinem träumerisch ziehenden Nebel, mit dem verglimmenden Licht auf den Bergen! Aus einer ebenerdigen Stube klangen gedämpft die plaudernden Stimmen der Dienstboten, die beim Abendessen saßen. Das Dorf schon in halber Ruhe; nur manchmal ein paar wechselnde Stimmen auf der Straße oder ein lauter Ruf in den Gärten: irgendwo das Knarren eines Scheunenthores, das geschlossen wurde; zuweilen auch der kurze Anschlag eines Hundes, dem ein zweiter Antwort gab; dazu die verworrenen Töne der Dorfmusik, die im Wirtshaus eine Probe hielt – die Sache hatte keinen rechten Klang, es fehlte im Orchester die führende Stimme der C-Trompete, die der Daxen-Schorschl sonst zu blasen pflegte. Und manchmal, wenn der Abendwind ein wenig stärker zog, verschwammen die Geigen- und Klarinettentöne mit dem dumpfen Rauschen des Wassers, das im tiefen Thal aus dem unterhöhlten Berg hervorströmte.

Karlin’ lauschte diesem fernen Rauschen, und seufzend blickte sie über das Gehänge des laufenden Berges empor.

„Die armen Leut’!“

Zu ihrem Mitgefühl gesellte sich eine schmerzliche Erinnerung. Dort oben stand ja auch das Häuschen, in dem sie ein fröhliches Kind gewesen war, als ihre Eltern noch gelebt hatten – es war das Häuschen, das der Gaßner vor vierzehn Jahren gekauft hatte und das er jetzt räumen mußte.

Zwei Thränen stahlen sich über die blassen Wangen der jungen Frau. Da hörte sie ein Klirren vor ihren Füßen – das Bübchen hatte sein Pferdchen umgeworfen und bückte sich, um es wiederaufzurichten.

„Tonerl?“ fragte die Mutter. „Magst denn net schlafen geh’n? Schau, es wird ja schon finster und bald wird der Sandmann an alle Thüren klopfen. Da müssen die braven Kinder im Betterl sein. Geh, komm schlafen, Herzerl!“

Das Kind schüttelte das Köpfchen. „Vaterl warten!“

Karlin’ seufzte und spähte über die dämmerige Straße hinaus. In der Gesindestube wurden Bänke und Stühle gerückt, Schritte polterten und die Dienstboten begannen mit monotonem Gehaspel den Abendsegen zu beten: „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft …“

Dann kamen die Knechte heraus, mit den Pfeifen im Munde. Sie zogen den Hut, als sie an Frau Karlin’ vorübergingen. Hinter ihnen kam eine dralle, hübsche Dirne, die sich für den Abendplausch in den Nachbarhäusern schmuck aufgeputzt hatte.

„Guten Abend!“ sagte sie, und dabei zuckte ein merkwürdiges Lächeln um ihre vollen Lippen.

„Guten Abend, Zäzil!“ erwiderte die junge Frau; ihre Stimme klang ruhig, doch eine matte Röte stieg ihr in die Wangen; und sie wandte das Gesicht ab, wie um der Dirne nicht nachsehen zu müssen.

Schlendernden Schrittes ging das Mädchen durch den Garten, pflückte eine der spätblühenden Nelken und steckte sie ans Mieder. Immer lächelte sie noch, und als sie über die rote Treppe hinunterstieg, blickte sie verstohlen über die Schulter nach der Steinbank zurück. Kaum hatte sie die Straße betreten, als mit freundlichem Ton ihre Stimme klang: „Jeh! Du! Seit wann bist denn wieder daheim? Recht schön’ guten Abend!“ Sie hatte den Schritt verhalten, als sollte nun ein lustiges Geplauder beginnen. Doch der Bursche, dem ihr zutraulicher Gruß gegolten hatte, sagte ihr kurzen Dank und ließ sie stehen.

Der Klang dieser Männerstimme machte Frau Karlin’ aufblicken und da sah sie auf der Straße einen vorübergehen, der mit Joppe und blauer Soldatenhose bekleidet war und zwei Aexte mit neuen, weißen Holzstielen auf der Schulter trug; er sah gerade vor sich hin und ging seinen ruhigen Schritt – und Frau Karlin’ erkannte ihn erst, als er schon hinter der Hecke verschwinden wollte.

„Der Mathes!“

Sie sprang auf, warf ihre Häkelarbeit auf die Bank und eilte zur Treppe hinunter.

„Mathes!“ rief sie ihm nach.

Aber er schien sie nicht zu hören, beschleunigte seinen Schritt und bog so hastig in das zum Gehänge des laufenden Berges führende Sträßchen ein, als hätte er dringende Eile, nach Hause zu kommen.

Frau Karlin’ legte die Arme über den steinernen Treppenpfeiler und blickte ihm in Gedanken nach.

Fünf Jahre hatte Karlin’ den Mathes nicht gesehen – seit sie die Frau des Purtscheller-Toni geworden war. Wenige Tage vor ihrer Hochzeit hatte er das Dorf verlassen – weil ihm draußen im Unterland eine gute Stelle angeboten wurde, so hatte Vroni ihr damals gesagt. Und jetzt war er nach so langer Zeit wieder heimgekehrt? Gewiß hatte ihn die Sorge, die seine Eltern um ihr Häuschen trugen, in die Heimat zurückgerufen! Und da war es nicht schön von ihm, meinte Karlin’, daß er so an ihrem Haus vorüberging wie ein Fremder. Er hätte doch für ein paar Minuten zusprechen können, um dem Nachbarskinde von einst und der Schulkameradin ein Grüß Gott zu bieten – um ihr zu sagen, wie es da droben stünde, in der Simmerau! Von den Leuten im Dorfe hörte sie ja so wenig. Vor Wochen, als der Berg über Nacht das Laufen angefangen hatte, war freilich im Dorf ein großer Lärm gewesen. Doch schon nach wenigen Tagen, als die Dorfbauern merkten, daß die Bewegung des laufenden Bodens gegen das tiefere Thal zu ging und das Dorf nicht bedrohte, hatte ihre Sorge sich beschwichtigt. Ihre eigenen, teueren Häuser wären ja sicher – nur die billigen Hütten da droben standen in Gefahr. „Lieber Gott, was kann der Mensch viel machen bei so was?“ pflegten die Bauern zu sagen, wenn Frau Karlin’ mit ihnen vom Simmerauer reden wollte, vom Gaßner und von den anderen da droben. „So ein Berg is wie ein unsinnig’s Vieh …. wenn er Hunger hat, will er fressen! Und fragt net, was er frißt! Freilich, so ’was is hart, aber …“ Ein mitleidiges Achselzucken pflegte den weisen Spruch zu schließen.

Die junge Frau stand regungslos, und noch immer blickte sie auf die von Dämmerung umwobenen Büsche, hinter denen Mathes verschwunden war.

„Schau nur, schau, jetzt is der Mathes wieder daheim! Gott sei Dank für den alten Michel! Jetzt kann er ihn brauchen, sein’ Buben! Der hat zwei feste Arm’!“

Sie strich die Härchen von der Schläfe hinters Ohr und atmete auf, als wäre ihr, seit sie den Mathes gesehen hatte, der Gedanke an den armen Simmerauer leichter geworden.

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0415.jpg&oldid=- (Version vom 17.6.2023)