Seite:Die Gartenlaube (1896) 0310.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (18. Fortsetzung.)


In Burgheim hatte die Vermählung Elsas äußerlich nur wenig geändert. Im oberen Stock des Hauses, der für gewöhnlich nicht benutzt wurde, hatte man, da es sich ja nur um einen vorübergehenden Aufenthalt für den Sommer handelte, einige Zimmer für das neue Ehepaar eingerichtet, und zur persönlichen Bedienung des Professors Helmreich war eine erprobte Pflegerin angenommen worden. Der Professor war freilich durchaus nicht einverstanden damit. Er hatte in seinem grenzenlosen Egoismus geglaubt, daß er nach wie vor unbeschränkt über seine Enkelin verfügen werde und sie rücksichtslos wie bisher mit seinen Launen quälen könne, aber Sonneck machte jetzt ebenso ruhig als entschieden die Rechte des Gatten geltend. Er hatte Elsa ein für allemal von der Pflege befreit, die unter diesen Umständen eine doppelt schwere war, sie durfte hinfort nur auf Stunden bei dem Großvater sein und dann war Lothar gewöhnlich zugegen und hielt die Rücksichtslosigkeit Helmreichs in Schranken. Mehr als einmal hatte er bei dessen gewohnten Ausfällen seiner Frau den Arm geboten und sie aus dem Zimmer geführt. Der Professor war im höchsten Grade beleidigt und erbittert darüber, er murrte und grollte den ganzen Tag und machte seiner Umgebung das Leben unendlich schwer; aber wo es sich um seine junge Gattin handelte, blieb Sonneck unbeugsam, wenn er auch sonst die weitestgehende Schonung gegen den Kranken übte. Er wußte ja so gut wie Elsa, daß es zu Ende ging. Helmreich war längst schon an den Lehnstuhl gebannt und seine Kräfte sanken rasch. Nach dem Ausspruche Bertrams handelte es sich nur noch um Wochen, wenn nicht irgend ein Zufall, eine heftige Erregung, die bei der ungemeinen Reizbarkeit des Professors oft aus einem Nichts entstand, das Ende schon früher herbeiführte.

Unter diesen Umständen fand man in Kronsberg, wo das hinreichend bekannt war, die Zurückgezogenheit des Herrn und der Frau von Sonneck begreiflich und geboten. Wenn Lothar seinen vielfachen Beziehungen auch nicht ganz fern bleiben konnte, so fand ein näherer Verkehr doch nur mit Lady Marwood und mit der Bertramschen Familie statt, selbstverständlich auch mit Ehrwald, der noch in Kronsberg zurückgehalten wurde. Es war jetzt entschieden, daß er vorläufig nicht in den Kolonialdienst treten, sondern sich an die Spitze einer neuen Expedition stellen sollte, um tief im Innern Afrikas neue und bisher noch unbekannte Gebiete zu erschließen, aber die Vorbereitungen dazu und die Verhandlungen darüber forderten einstweilen noch seine Gegenwart in Deutschland.

Die Strahlen der späten Nachmittagssonne fielen in den Garten von Burgheim, der trotz seiner Düsterheit heute ganz durchleuchtet war von dem goldigen Schein. Unter einer der hohen Tannen stand ein Tisch, der mit Tagebüchern, Notizen und Skizzen bedeckt war, und daneben lag ein angefangenes Manuskript. Sonneck hatte bereits die Vorarbeiten zu dem geplanten großen Werke begonnen, in dem er all seine Erfahrungen und Erlebnisse auf afrikanischem Boden niederlegen wollte.

Für den Augenblick aber ruhte die Arbeit, Lothar saß in einen Gartenstuhl zurückgelehnt, eines der Tagebücher in der Hand, aus dem er seiner jungen Frau vorgelesen hatte, und knüpfte nun eine längere Erzählung daran. Er war ein ruhiger aber vortrefflicher Erzähler, wenn er auch nicht die feurige hinreißende Art seines Freundes Ehrwald hatte, der seine Zuhörer das alles miterleben ließ und sie wie in atemlosem Bann hielt, so lange er sprach. Sonneck dagegen zeichnete in klaren, festen Zügen Bild auf Bild, indem er kein Auge von Elsa verwandte, die auf einem niedrigen Schemelchen an seiner Seite, fast zu seinen Füßen saß. Es war ein anmutiges Bild, aber ein Fremder würde geglaubt haben, Vater und Tochter zu sehen, für ein Ehepaar hätte er die beiden schwerlich gehalten.

Die junge Frau in dem hellen luftigen Sommerkleide war freilich eine ganz andere Erscheinung als das stille ernste Mädchen, um das Sonneck geworben hatte. Wie eine Knospe, die, noch gefangen in ihrer grünen Hülle, die einstige Schönheit nur ahnen läßt und sich dann über Nacht zur duftenden Rose erschließt, so war Elsa von Sonneck in den wenigen Monaten aufgeblüht. Die Züge hatten Leben gewonnen, die Augen schimmerten in tiefem, feuchtem Glanz, als habe ein Sonnenstrahl das ganze Wesen des jungen Weibes durchleuchtet und es geweckt aus einem langen Traum. Als sie so dasaß, die Hände um die Knie geschlungen, im gespannten Lauschen zu dem Gatten aufblickend, da hatte sie wieder ganz den Ausdruck, wie er in jenem Kinderköpfchen lag, das Lothar einst gezeichnet und das nun auf seinem Schreibtische drinnen stand.

„Nun aber genug für heute!“ schloß er seine Erzählung. „Wirst Du denn nie müde zuzuhören? Einst lag Dir das alles so fern und fremd, daß ich fast daran verzweifelte, Dein Interesse dafür zu erwecken, und jetzt habe ich in meiner kleinen Frau das erste und dankbarste Publikum für meine Lebenserinnerungen.“

„O, Du hast so viel, so unendlich viel erlebt!“ sagte Elsa mit kindlicher Bewunderung. „Ich könnte Tag und Nacht zuhören, wenn Du mir von dem Sonnenlande da drüben erzählst.“

„Nun, Du bist doch auch ‚da drüben‘ gewesen,“ scherzte Lothar. „Du hast das freilich alles nur mit den Augen eines Kindes geschaut und jahrelang war es Dir ganz entschwunden, bis ich die Erinnerung wieder weckte. Aber ich bereue das beinahe, denn jetzt träumst Du unaufhörlich davon und Deine Gedanken, die von Rechts wegen bei mir sein sollten, fliegen immer nur hinaus in die Weite.“

„In die Weite!“ wiederholte die junge Frau leise, während sich ihre Augen träumerisch in die Ferne verloren. „Ja, sie muß schön sein, die weite große Welt, und wenn Du davon sprichst, dann ist es mir immer, als müßte ich hinausfliegen über all die Berggipfel, über das Meer, immer weiter in die endlose Ferne. Als müßte ich dort etwas suchen und finden. Was – das weiß ich nicht, irgend etwas Großes, Herrliches –“

„Wie es im Märchen steht!“ ergänzte Sonneck lächelnd. „Gerade wie Reinhart! Der schwärmte auch so, als er das erste Mal mit mir den afrikanischen Boden betrat, der wollte es sich erjagen, sein großes, grenzenloses Glück. Erreicht hat er es nicht, aber er ist trotz all der Phantastereien doch ein echter Mann der Wirklichkeit geworden, mit einem eisernen Willen. Nein, mein Kind, da in der Ferne liegt das Glück nicht, aber ich kenne einen, der es gefunden hat – hier in der Heimat.“

„Lothar!“

„Willst Du das nicht hören? Und Du kennst doch den einen so genau wie ich. Als ich damals nach Europa zurückkehrte, krank, allein, mit dem vernichtenden Bewußtsein, daß es mit meinem Wirken zu Ende sei, da glaubte ich, die Heimat würde nur noch ein Grab für mich übrig haben, und sie gab mir das höchste Glück, gab mir Dich, meine Elsa. Sie sei tausendfach dafür gesegnet!“ Es wehte eine unendliche Zärtlichkeit aus den Worten, die junge Frau antwortete nicht, aber sie beugte sich nieder und drückte ihre Lippen auf die Hand ihres Mannes, doch er entzog sie ihr mit einer raschen, beinahe unwilligen Bewegung.

„Elsa, ich bitte Dich!“

„Darf ich das nicht?“ fragte sie unbefangen. „Ich thue es doch so gern.“

„Aber mich beschämt es. Einem Vater küßt man die Hand, dem Gatten nicht. Du thust mir weh mit dieser kindlichen Ehrfurcht, die mich immer wieder an das erinnert, was ich so gern vergessen möchte, daß beinahe vierzig Jahre zwischen uns liegen, daß Du Deine Jugend einem Manne gegeben hast, der an der Schwelle des Alters steht. Kann er Dich denn glücklich machen?“

„Du bist so gut!“ sagte Elsa in überströmender Dankbarkeit, „so unendlich gütig und liebevoll, und ich habe nie Liebe erfahren seit mein armer Vater starb. Du weißt ja, der Großvater – doch ich muß jetzt wohl zu ihm, es ist Zeit.“

„Noch nicht,“ widersprach Lothar. „Willst Du mir nicht einmal eine halbe Stunde gönnen?“

„Wir sitzen ja bereits seit zwei Stunden hier.“

Sonneck zog die Uhr hervor und warf einen höchst erstaunten Blick darauf. „Wahrhaftig! Nun dann noch ein paar Minuten!“

„Ich fürchte nur, der Großvater erwartet mich um diese Stunde,“ sagte die junge Frau zögernd. „Er ist heut’ noch viel reizbarer und erregter als sonst. Wir müssen es beide büßen, wenn ich nicht pünktlich bin.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0310.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)