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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

aufrafft, das ist bei ihr bitterer Ernst. Es stirbt sich nur nicht so leicht, wie sie glaubt, und dann droht bei dieser furchtbaren Nervenüberreizung das schlimmste – der Wahnsinn oder der Selbstmord!“

„Um Gotteswillen, Doktor!“ sagte Reinhart erbleichend, „das ist ja eine entsetzliche Prophezeiung!“

„Die sich aber leider erfüllen wird, wenn nicht noch in letzter Stunde eine rettende Hand eingreift. Ich habe Sonneck bestimmt, seinen Einfluß geltend zu machen, und er hat es auch redlich gethan, aber es war umsonst, sie hört auch auf ihn nicht mehr – und da habe ich an Sie gedacht!“

„An mich?“ fuhr Reinhart betreten, beinahe unwillig auf. „Wie kommen Sie darauf?“

Der Arzt rückte seinen Sessel um einen Schritt näher und dämpfte die Stimme, als er fortfuhr: „Nun, ich bin ja damals bei dem Duell mit Marwood Ihr Sekundant gewesen und es ist mir schließlich kein Geheimnis geblieben, was die Veranlassung dazu war. Der Lord sah in Ihnen das größte Hindernis seiner Bewerbung, und wohl mit Recht. Man sprach ja auch bereits in der Gesellschaft von Kairo über die Vorliebe des Fräuleins von Osmar für Sie. Was später dazwischengetreten ist, werden Sie wohl am besten wissen, aber ich bin der Meinung, daß Sie der einzige Mensch sind, der jetzt noch Einfluß auf Lady Marwood hat.“

Ehrwald hatte die Arme verschränkt und sah finster zu Boden, endlich sagte er halblaut: „Sie sind im Irrtum, Bertram – das ist vorbei – längst vorbei!“

„Das käme doch auf die Probe an. Sie sollten die Frau nur einmal sehen, wie ich sie leider öfter sehe, wenn ihr die Maske vom Gesicht fällt, wenn sie erschöpft zusammenbricht und mit all den Leiden kämpft, die bereits der Anfang vom Ende sind. Es ist doch ein Jammer, daß dies schöne, reichbegabte Geschöpf rettungslos dem Untergange verfallen soll. Ehe ich das zulasse, wollte ich wenigstens noch das Letzte versuchen und Sie zur Hilfe aufrufen – jetzt thun Sie, was Sie wollen!“

Reinhart gab keine Antwort, aber auch der Hofrat brach ab und sagte, zu seinem alten jovialen Ton zurückkehrend: „Ja, es ist eine Gottesgabe, wenn man das Talent hat, das Leben leicht zu nehmen. Ich habe es von jeher gehabt und meinen Jungen werde ich das anerziehen. Doch was ist denn das für ein Aufstand da im Salon? Ah so, Mylady geht selbst an den Flügel! Kommen Sie, Ehrwald! Das dürfen wir nicht versäumen. Sie läßt sich nur äußerst selten herab dazu, aber Sonneck sagt, sie spiele meisterhaft.“

Im Salon war in der That alles in Bewegung geraten. Zenaide hatte den stürmischen Bitten nachgegeben und war an den Flügel getreten, und sofort schloß sich ein dichter Kreis um sie. Alles drängte heran, und dann trat atemlose Stille ein.

Lady Marwood spielte allerdings meisterhaft, nicht wie eine Salondame, sondern wie eine Künstlerin, und es war auch nichts Eingelerntes, was sie ihren Zuhörern gab, sondern freie Phantasien. Da wogte ein berauschendes Meer von Tönen auf, aber es war ein sturmbewegtes Meer. Das jagte und stürmte dahin im jähen Wechsel, jetzt schien es zu jubeln und aufzujauchzen in glühender Lust und dann wieder klagte es in düsterer Schwermut, es hielt die Zuhörer wie in einem dämonischen Bann.

In der Nähe des Flügels gab sich eine leichte Bewegung kund. Herr von Verden und der Baron machten artig dem eben herantretenden Ehrwald Platz, er stand jetzt in unmittelbarer Nähe. Zenaide war aufmerksam geworden, ein flüchtiger Blick fiel nach jener Seite hinüber, aber sie spielte weiter.

Wieder brauste es auf unter ihren Händen, voll Glut und Leidenschaft, doch jetzt rang sich etwas daraus empor, das kein Lied, eigentlich auch keine Melodie war, eine seltsame, fremdartige Weise, die unendlich einförmig und unendlich schwermütig immer nur dieselben Töne wiederholte. Erst tauchte sie nur in einzelnen verlorenen Klängen auf und ging wieder unter, dann wurde sie immer klarer, immer deutlicher und endlich herrschte sie allein und wehte hinüber zu den erstaunten Zuhörern wie eine Sprache aus einer ganz anderen Welt.

Nur Zwei gab es, die diese Sprache verstanden, die jene Weise kannten, und als sie jetzt wieder ertönte, nach langer, langer Zeit, da versank den beiden der lichtstrahlende Salon mit all den Menschen, die ihn erfüllten, und statt dessen tauchte ein anderes Bild auf: die schimmernde Flut eines mächtigen Stromes im letzten Abglanz des scheidenden Tages. Drüben am jenseitigen Ufer ragten die Palmen und ein langer Zug von Kamelen schritt langsam dahin, scharf und dunkel sich abhebend von dem lichten Abendhimmel, während auf die ferne Wüste weiche graue Dämmerung niedersank. Und vom Bord des Schiffes, das leise auf jener schimmernden Flut dahinzog, erklang die uralte Weise, einförmig und schwermütig, wie sie schon vor Jahrtausenden hier erklungen war.

Sie wehte herüber in den Palmengarten, wo ein junges glückliches Wesen mit dunklen, sehnsüchtigen Augen das Haupt an die Brust des geliebten Mannes lehnte, und wo dieser Mann sich niederbeugte, um das Wort auszusprechen, das sie einen sollte für das Leben. Leise und fern verklang das Lied, aber aus jener weichen, träumerischen Dämmerung schien es heranzuschweben, wovon die beiden träumten, das große, das grenzenlose Glück, und ihnen zu nahen mit seinen leuchtenden Schwingen.

Die Weise brach plötzlich ab, wie mit einem schneidenden Mißlaut, grelle, wilde Töne fluteten darüber hin, so daß die Zuhörer fast erschraken, und mit einem rauschenden Fortissimo schloß das Spiel.

Lady Marwood erhob sich und man umringte sie von allen Seiten mit lauter Bewunderung. Man fand diese Art zu spielen originell, geistreich, blendend und fand nicht Worte genug, um sein Entzücken und seine Begeisterung auszusprechen. Zenaide lächelte, aber es zuckte dabei wie herber Spott um ihre Lippen. Bildeten sich denn diese Menschen wirklich ein, man habe für sie gespielt? Der Eine, dem es galt, sprach kein Wort der Bewunderung und machte auch keinen Versuch, sich zu nahen, er verharrte noch immer an seinem Platze, aber er fuhr wie aus einem Traum auf, als Hofrat Bertram, der hinter ihm stand, halblaut sagte: „Ihr Spiel ist wie sie selbst nervös und krankhaft überreizt. Was war das wieder für ein jähes Abbrechen und für ein wilder Schluß! So etwas versteht man ja gar nicht!“

„Nein, Sie können es auch nicht verstehen,“ versetzte Reinhart ernst, „aber Sie haben recht“ er brach plötzlich ab, und dem mahnenden Blick des Arztes begegnend, setzte er leise hinzu: „Ich will es versuchen!“

(Fortsetzung folgt.)


Allerlei Recorde.

Von Richard March.


Unsere Zeit steht im Zeichen der Geschwindigkeit! Auf allen Gebieten herrscht ein rastloser fieberhafter Thätigkeitsdrang: man begnügt sich nicht mehr mit der Güte der Leistung an sich, sie soll auch in möglichst kurzer Zeit vollbracht sein. Der Wettbewerb, auf welchem ja auch aller gesunder Fortschritt beruht, ist dadurch ins krankhafte gesteigert worden: wir hasten und jagen, wo unsere Vorfahren gemächlichen Schrittes auf das gesteckte Ziel losgingen. Zu Lande sucht eine Eisenbahngesellschaft die andere in der Schnelligkeit ihrer Züge zu überbieten und zu Wasser eilen die Dampfer um die Wette. Der Verkehr gestaltet sich zu einem Wettrennen, und der gilt als Sieger, der in kürzester Zeit das ferne Ziel erreicht. Dieselbe fieberhafte Hast regiert in der Industrie: Scharfsinn und Maschinenkraft werden aufgeboten, um allerlei Dinge, die unsere Bedürfnisse befriedigen sollen, in kürzester Zeit zu erzeugen. Ein ähnlicher hastiger Zug macht sich selbst in den Vergnügungen und der Erholung der modernen Menschen bemerkbar. Leibesübungen und Bewegungsspiele haben in weitesten Kreisen den Charakter des Sports angenommen. Im Laufen und Springen, im Rudern und Schwimmen, im Radfahren und Marschieren sucht einer den andern zu übertreffen; als Meister gilt auch hier, wer in kürzester Zeit die größte Leistung zustande gebracht hat. Eine solche Leistung wird seit einiger Zeit bei uns mit dem englischen Worte „Record“ bezeichnet, und man sucht nicht nur in Wettspielen Recorde zu schaffen. Das Verlangen, in der Geschwindigkeit als Meister zu gelten, hat die verschiedensten Kreise wie eine Sucht ergriffen. Neben den sportlichen giebt es heute noch allerlei andere Recorde, die zusammengenommen einen bezeichnenden Charakterzug unserer Epoche bilden.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0282.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2023)