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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)


Ein Buchstabe!

Eine wahre Geschichte.0 Nacherzählt von Ernst Wichert.


An hellen Sommertagen sieht man von dem breiten, auf einem Pfahlgerüst ruhenden Holzstege aus, der in dem Ostseebade Cranz fünf Minuten weit über den Seestrand geführt ist, fern im Nordosten die weißen Sanddünen der Kurischen Nehrung aufleuchten.

Keinen trostlos öderen und weltverlasseneren Strich Landes kann es geben als den dort zwischen den beiden großen Wassern – Sand, Sand und Sand, bis zweihundert Fuß hoch aufgeschüttet, im Sturme wandelnd, alles Leben begrabend!

Ich schlenderte mit dem alten Regierungsrat v. D. da über den Steg, als im Sonnenschein einige der entfernten Kuppen blitzten. Er hatte eben Hans Hoffmanns grandiose Erzählung „Der Landsturm“ gelesen, die in dem schrecklichen Winter von Anno Zwölf zwischen jenen Sanddünen spielt, und konnte nicht müde werden, die wahrhaft dichterische Schilderung dieser grausig erhabenen Einsamkeit in immer wechselnden Stimmungsbildern von erstaunlicher Anschaulichkeit zu rühmen. „Der hat’s gesehen,“ sagte er. Er erinnerte dann auch daran, daß ein anderer Hoffmann – Theodor Amadeus, der Verfasser des „Kater Murr“ und der „Kreisleriana“ – auch eine in seiner Jugend vielgelesene, jetzt vergessene Novelle, „Das Majorat“, geschrieben habe, in welcher das Schloß den Namen Rossitten führe. Eine Dorfschaft Rossitten liege dort hinter den Sandbergen auf der Haffseite, „übrigens auf dem einzigen etwas ausgedehnteren Plan fruchtbareren Landes,“ fügte er hinzu. „Die Geologen behaupten, diese sich noch heute weit vorbuchtende Oase habe einst Zusammenhang mit dem gegenüberliegenden Festlande gehabt, sei dann durch die Seefluten als Insel abgesprengt und endlich durch zwei Sandbänder nördlich und südlich gleichsam festgebunden worden. Von alters her befanden sich da Wohnstätten. Der Deutsche Orden baute ein festes Amtshaus und eine Kirche; zum Sprengel gehören die elenden Fischerdörfer auf und ab, deren Insassen aus meilenweiter Entfernung Sonntags sich zum Gottesdienst einzufinden pflegen, oft eine stürmische Bootsfahrt, im Winter eine Schlittenreise über das gefrorene Haff nicht scheuend.“

Nachdem er dann eine Weile nachdenklich neben mir hergegangen war, schien ihm etwas sehr Vergnügliches einzufallen, denn er fing halblaut zu lachen an. „Ich könnte Ihnen auch eine Geschichte von Rossitten erzählen,“ nahm er dann wieder das Wort, „in der ich einmal – es sind viele Jahre darüber vergangen – selbst mitgespielt habe. Sie hat den Vorzug, von Anfang bis zu Ende wahr zu sein, wenn das in Ihren Augen ein Vorzug ist.“

Ich bat natürlich darum.

„Eine Geschichte ist’s eigentlich kaum zu nennen,“ schränkte er sich sogleich ein, „nur eine kuriose Begebenheit, die aber so recht charakteristisch für diesen ganz einzigen Erdenwinkel ist.

Der Tourist findet in Rossitten des Bemerkenswerten genug, um sich ein paar Stunden oder auch einen halben Tag recht gut zu unterhalten. Zur Sommerfrische möchte schon nicht leicht jemand den Ort wählen. Gar Sommer und Winter dort zu hausen, so fast gänzlich abgesperrt von der Welt, dazu muß schon, wenn man nicht zu den eingeborenen Bauern und Fischern gehört, die zwingendste Notwendigkeit nötigen. So eine zwingendste Notwendigkeit bestand aber für zwei Männer, von denen der eine studiert, der andere wenigstens eine gute Bürgerschule durchgemacht hatte: für den Geistlichen und für den königlichen Rentmeister, der zugleich Polizeiverwalter war. Sie repräsentierten in diesem Orte so ungefähr Staat und Kirche.

Ich will keine Namen nennen. Der Rentmeister war einmal Feldwebel gewesen und hier eingesetzt worden, wo ein Mann des unbedingten Vertrauens gefordert wurde. Er hatte diesen Posten nun schon länger als zwanzig Jahre zur Zufriedenheit der Regierung und auch seiner Untergebenen verwaltet und sich in den Gedanken hineingelebt, in ihm auch sein Dasein zu beschließen. Er war kein großer Geist, aber ein starker Charakter und von unerschütterlicher Rechtlichkeit, starrköpfig und gutmütig zugleich und an selbständiges Handeln nun schon so gewöhnt, daß er sich in einer engeren Bureaustellung neben andern Subalternbeamten und unter steter Kontrolle eines sich seiner Würde bewußten Vorstehers kaum noch denken konnte. Hier in Rossitten war er den Leuten mehr als irgend ein Herr Regierungsrat in Königsberg oder selbst als der Oberpräsident, und sie dachten sich eigentlich den König gleich über ihm, an den aber nicht so leicht zu appellieren war. Er that auch gewiß keinem wissentlich unrecht und verlangte nur, daß nicht viel räsonniert würde, da er ja doch immer nur anordnete, was dem Ganzen nützlich und nach seiner langen Erfahrung den besonderen Verhältnissen der Ortschaft gemäß war. Man hütete sich in Königsberg auch, ihm dreinzureden, weil man’s ja unmöglich besser verstehen konnte, und stärkte so das Bewußtsein seiner diktatorischen Unfehlbarkeit. Es ist wahr, er verfuhr mitunter etwas despotisch, aber immer aus aufrichtigem Wohlwollen; so strenge er sein konnte, wenn die Ordnung aufrecht zu halten war, so freundlich nahm er sich auch der armen Insassen mit Rat und That an, wenn sie in Not waren, und verstand gelegentlich durch die Finger zu sehen, wenn der Buchstabe des Gesetzes nicht beachtet wurde.

Mit einem Wort: er regierte patriarchalisch, und das ließ man sich gern gefallen, schon weil die weite Reise vom Beschwerdeführen abschreckte. Er wußte mit den Leuten in ihrer Sprache zu reden, und das will nicht nur gelernt sein, sondern fordert besondere Anlagen. Von Geburt war er ein Litauer. Da er nun meinte, daß er sich nirgends in der Welt in amtlicher Stellung so wohl fühlen könnte als in Rossitten, auch durch einen Orden ausgezeichnet wurde, der ihm in seinem Wirkungskreise womöglich noch mehr Ansehen gab, so schaute er längst schon nicht mehr ehrgeizig über seinen Amtsbezirk hinaus und setzte seinen besonderen Stolz darein, da, wo er war, für unentbehrlich zu gelten. Alles in allem: das Muster eines Beamten vom alten preußischen Schlage, zu dem vor mehr als hundert Jahren der zweite König den sicheren Grund gelegt hat.

Anderer Art war der Herr Pfarrer, ein noch jüngerer Mann. Aus Neigung mochte er schwerlich hierher auf die Kurische Nehrung gegangen sein, zumal das geistliche Amt ihm und seiner Familie knapp genug den notwendigen Unterhalt schaffte. Er besaß keine geringe theologische Gelehrsamkeit, war sogar Licentiat und philosophischer Doktor und arbeitete emsig für Fachblätter. Später sind von ihm auch selbständige theologische Streitschriften ausgegangen, die seinen Namen in weiteren Kreisen bekannt machten. Er gehörte also nicht recht unter die Bauern und hatte die Pfarre auch wohl nur angenommen, weil sie ihm angeboten wurde und die Möglichkeit gab, seine langjährige Braut heimzuführen. Nun predigte er aber schon so manchen Sommer und Winter in der Kirche zu Rossitten, taufte, segnete ein und begrub, immer seiner Gemeinde nicht ganz verständlich, wenn er sich selbst ein Genüge leistete, aber um so mehr von ihr als ein großes geistliches Licht angestaunt und in Ehren gehalten. Er merkte auch bald, daß er keine Gefahr lief, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er seine Predigten in nicht zu langen Zwischenräumen wiederholte, und fand es dann überflüssig, den Vorrat zu vermehren, benutzte aber um so eifriger die freie Zeit zu gelehrten Bibelstudien und pries in voller Gottergebenheit sein Schicksal, an diesen einsamen Ort verschlagen zu sein, der ihm seinen Liebhabereien nachzugehen gestattete. Uebrigens scheute er keine Fahrt durch den glühenden Dünensand und keine stürmische Winterreise, wenn sein geistlicher Beistand erfordert wurde. Die Nehrunger gaben zu, daß sie einen tapfern Pfarrer hätten, auf den jederzeit Verlaß sei. Von seinen Sporteln ließ er sich freilich ungern etwas abbetteln; er war aber auch selbst arm und ging meist wie ein Bauer gekleidet.

Der Rentmeister und der Pfarrer waren gute Freunde. Nicht daß sie in ihren Lebensgewohnheiten und Lebensanschauungen durchaus übereinstimmten. Der Rentmeister war ein Praktiker, der Pfarrer ein Theoretiker. Der ehemalige Unteroffizier und Feldwebel hatte sich früher einschränken müssen und führte dagegen hier, bei aller Bescheidenheit der Haushaltung, ein gewisses Wohlleben. Seine treffliche, aber wenig gebildete Frau spielte ihre eigene Köchin, hatte ihre Kuh im Stall und auf der Weide, ihr Schweinchen im Koben, ihre Hühner auf dem Hof und ihre Gänse und Enten auf dem Teich. Der Rentmeister fühlte sich „herrschaftlich“, während er sonst zu den Honoratioren nicht gehört hätte. So erschien er sich denn als der wohlhabende Mann, während der Pfarrer, wenn er seine Lage mit der vieler seiner Amtsbrüder verglich, immer genötigt war, sich ein wenig unter seinen Stand zu ducken, seiner kränklichen Frau auch keine schweren Haus- und Wirtschaftslasten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0272.jpg&oldid=- (Version vom 13.7.2023)