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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

Im übrigen weißt Du ja, Selma, daß ich Kinder nicht leiden kann, also halte sie mir möglichst vom Leibe.“

Das war aber leichter gesagt als gethan, denn die drei Jungen belagerten die neue Tante von allen Seiten und versuchten Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen. Sie erzählten ihr mit ungemeiner Wichtigkeit, daß sie zwei „afrikanische Onkel“ im Hause hätten und auch den Achmet, der kein Onkel sei, aber gleichfalls aus Afrika komme, und brachten Ulrike durch die fortwährende Erwähnung des verhaßten Wüstenlandes in die übelste Laune. Die Geduld riß ihr aber vollends, als der kleine Hans ganz naiv fragte: „Kommst Du auch aus Afrika?“

„Nein, aus Hinterpommern!“ schnaubte sie ihn an und machte dazu ihr grimmigstes Gesicht. Der kleine Bursche schaute sie anfangs ganz verdutzt an, dann aber schien er diesen Ton und dies Gesicht sehr komisch zu finden, denn er fing laut und herzlich an zu lachen, seine beiden Brüder stimmten ein und es erhob sich ein förmlicher Jubel über die neue Tante, die so köstlichen Spaß zu machen verstand.

„Nun lacht mich die kleine Bande gar noch aus!“ rief das alte Fräulein gereizt und wollte aufspringen, aber Hans kletterte ohne weiteres auf ihren Schoß und setzte sich da fest, und die anderen beiden blockierten sie rechts und links.

Ulrike hatte nie mit Kindern verkehrt, die der unfreundlichen, ewig scheltenden Dame immer scheu auszuweichen pflegten. Diese Zutraulichkeit machte sie daher so bestürzt, daß sie gar nicht versuchte, sich zu wehren, sondern ruhig sitzen blieb. So fand sie denn auch der eintretende Hofrat, der draußen schon von ihrer Ankunft gehört hatte und sie nun in seiner jovialen Art begrüßte.

„Guten Tag, Fräulein Mallner! Bitte, behalten Sie Platz, das ist ja sehr freundlich, daß Sie sich meiner Jungen so annehmen!“

„Die Jungen haben mich genommen,“ erklärte Ulrike, die nun allerdings einen Versuch machte, ihre Bedränger abzuschütteln. Aber das gelang nur teilweise, denn Hans behauptete seinen Platz auf ihrem Schoße und verkündete sehr energisch: „Ich will bei der Tante bleiben!“

Diese ließ sich das merkwürdigerweise gefallen, aber sie gewann es nicht über sich, ihrem alten Widersacher freundlich zu begegnen, obgleich sie sich jetzt als Gast in seinem Hause befand. Ihr Ton war nichts weniger als freundschaftlich, als sie jetzt fortfuhr: „Ihre Frau hat mich eingeladen – ob es Ihnen recht ist, weiß ich nicht.“

„Was meine Frau thut, ist mir immer recht,“ versetzte Bertram artig. „Und überdies kennen Sie ja die Hochachtung, die ich stets vor Ihnen gehegt habe. Also, Sie haben Martinsfelde verkauft –?“

„Genommen hat man es mir – schändlicherweise!“ unterbrach ihn das Fräulein in voller Gereiztheit.

„Sie thun, als habe man Ihnen das Gut geraubt oder gestohlen,“ warf er ein. „Sie haben doch einen schönen Preis dafür bekommen, fast das Doppelte des Bodenwertes, und könnten eigentlich damit zufrieden sein.“

„Zufrieden!“ fuhr Ulrike zornig auf. „Glauben Sie, ich hätte mir mein altes Erbgut, den Hof, auf dem schon meine Eltern saßen, für irgend einen Preis abkaufen lassen, wenn man mir nicht mit dem Zwangsverfahren gedroht hätte? Was soll ich denn mit all’ dem Gelde anfangen?“

„Vermachen Sie es meinen Jungen,“ riet der Hofrat. „Das ist eine sehr nützliche Verwendung.“

„So?“ Sie sah ihn argwöhnisch an. „Haben Sie mich vielleicht deswegen eingeladen?“

„Einzig und allein deswegen! Ich stelle Ihnen die ganze Familie Bertram hiermit als Erbschleicher vor!“

Dabei lachte der Herr Doktor ebenso übermütig wie einst, Selma stimmte mit ein und für die drei Knaben war jedes Lachen ein Stichwort, auf das sie immer einfielen. Fräulein Mallner ließ den kleinen Hans unsanft von ihrem Schoße gleiten und sprang auf.

„Das scheint ja hier recht lustig zuzugehen,“ rief sie entrüstet. „Wird hier immer so gelacht?“

„Meistenteils,“ bestätigte der Hofrat. „Sie sehen, ich bin noch immer so ‚empörend vergnügt‘ wie damals in Luksor, und meine Jungen schlagen in dieser Beziehung ganz nach dem Vater.“

Jetzt mischte sich Selma ein, sie schlug vor, den Gast nach dem Fremdenzimmer zu führen, und die drei Knaben beteiligten sich schleunigst an dem Aufbruch. Adolf stürzte sich auf die Reisetasche, Ernst auf den Regenschirm, um sie hinaufzutragen, und der kleine Hans, der nichts mehr zum Tragen fand, hing sich an das Kleid Ulrikens und schrie aus vollem Halse: „Ich will auch mit!“

„Laß die Tante in Ruhe, Hansel,“ sagte Bertram. „Du reißt ihr ja das Kleid vom Leibe, Du bleibst hier!“

Fräulein Mallner schien aber dies Verbot merkwürdigerweise übelzunehmen, denn sie fuhr nicht den kleinen zudringlichen Burschen, sondern dessen Vater an: „So lassen Sie doch das ewige Verbieten! Was liegt an dem alten Kleide – Hansel, Du kommst mit!“

Dabei packte sie ihn derb am Arme und schleifte ihn mit sich, was dem Hansel ein unendliches Vergnügen bereitete, er jauchzte förmlich darüber.

Das Zimmer für den neuen Gast lag im oberen Stock, und als die ganze Gesellschaft in den Hausflur trat, traf sie mit Sonneck und Ehrwald zusammen, die gerade die Treppe herabkamen. Da gab es nun natürlich ein gegenseitiges Erkennen und Begrüßen. Für Fräulein Ulrike Mallner war Sonneck immer noch der einzige „Mensch“ und folglich der einzige, den sie mit ihrem Wohlwollen beehrte. Sie schüttelte ihm freundschaftlich die Hand und wandte sich dann zu seinem Gefährten mit der liebenswürdigen Bemerkung: „Nun, und Sie sind ja inzwischen auch ein großes Tier geworden, von dem die halbe Welt spricht.“

„Ja, so eine Art Wüstentier!“ versetzte Reinhart, der mit der Ausdrucksweise der Dame noch zu vertraut war, um das übelzunehmen. „Verabscheuen Sie das Wüstenland noch immer so, Fräulein Mallner? Ich denke stets mit Vergnügen an unseren Ausflug nach Karnak, wo ich die Ehre hatte, Sie eine volle Stunde lang unterhalten zu dürfen, allerdings bei erhöhter Temperatur, während wir uns im heißen Sande gegenüber saßen. Und inzwischen benutzte dieser hinterlistige Hofrat die Gelegenheit zu einer Liebeserklärung und Verlobung.“

„Wovon Sie natürlich keine Ahnung hatten,“ warf Ulrike ein, in einem Tone, der verriet, daß sie jetzt über den Zusammenhang im klaren war.

„Nicht die geringste! Aber im Grunde hatte er recht. Sehen Sie sich nur diese drei prächtigen Jungen an!“

Damit hob Reinhart den kleinen Hansel empor, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf.

„Lassen Sie doch diese gefährliche Spielerei!“ schalt das Fräulein. „Das Kind kann ja fallen.“

„Es fällt nicht, dafür sorge ich schon,“ lachte Ehrwald. „Und übrigens schadet den Bertramschen Jungen auch ein Luftsprung nicht, die sind von guter Rasse.“

Er machte Miene, das Spiel zu wiederholen, das stets ein Hauptvergnügen für den Hansel war, jetzt aber fuhr Ulrike dazwischen und riß ihm den Kleinen förmlich aus den Händen.

„Das haben Sie wohl bei Ihren Wilden gelernt?“ rief sie zornig. „Den kleinen schwarzen Kobolden schadet es freilich nicht, wenn sie auf den dicken Schädel fallen, ich will es aber nicht mit ansehen, wie der Hansel sich hier vor meinen Augen Arme und Beine bricht. Und die Eltern stehen ganz ruhig dabei – das geht ja barbarisch zu in diesem Hause!“ Damit nahm sie den Hansel auf den Arm und steuerte mit ihm eiligst nach der Treppe, als wollte sie ihn in Sicherheit bringen. Während Selma ihr oben im Zimmer die Aussicht zeigte, widmeten die Knaben ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gepäck, das man bereits heraufgebracht hatte, und der kleine Hans machte sich zum Sprachrohr der allgemeinen Erwartung, indem er sich vor die Tante hinstellte und angelegentlich fragte: „Tante Ulrike, was hast Du uns eigentlich mitgebracht?“

Fräulein Mallner geriet vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben in Verlegenheit. Sie hatte natürlich nicht daran gedacht, den Kleinen Selmas irgend eine Freude zu machen, aber den drei frohen erwartungsvollen Kindergesichtern gegenüber fühlte sie doch so etwas wie Beschämung. Als jedoch Adolf und Ernst anfingen, die Herrlichkeiten aufzuzählen, die Onkel Ehrwald ihnen mitgebracht hatte, ärgerte sie sich von neuem.

„Dieser unerträgliche Ehrwald!“ grollte sie innerlich. „Ueberall Will er die erste Rolle spielen, sogar bei den Kindern, aber den Spaß werde ich ihm verderben. – Was möchtest Du denn eigentlich, Hansel?“ frug sie den Kleinsten.

„Ein Schaukelpferd!“ rief Hansel mit strahlenden Augen und maß den Koffer der Tante, ob er wohl groß genug sei, um das Gewünschte zu bergen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0243.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)