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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

ich ihr Auge in Auge gegenüberstand, einen sehr großen Respekt vor ihr.

„Mutter,“ sagte ich nach einer Weile doch, emsig auf meine Arbeit niederblickend, „hat man nicht auch Pflichten gegen sich selbst?“

„Natürlich,“ entgegnete Mutter bereitwillig, „selbstverständlich hat man Pflichten gegen sich selbst, vor allem zum Beispiel die, sich immer so zu betragen, daß einen von keiner Seite ein Vorwurf treffen kann.“

So – ja – so hatte ich es nun allerdings eigentlich nicht gemeint. „Ich meine,“ begann ich wieder ein bißchen flau, „ich meine –“ merkwürdig, wie unbescheiden es einem vorkam, es anzusprechen, während ich immer so selbstverständlich gefunden hatte, es zu denken „wenn man nun nach irgend einer Richtung hin ganz besondere Talente bekommen hat, ist es da nicht Pflicht –“ und dann stockte ich wieder.

„Natürlich,“ stimmte Mutter mir wieder aufs bereitwilligste zu, „nur muß es auch wirklich ein Talent sein, so eines, das sich sehen lassen kann, sonst ist es Zeitvergeudung! Wer nur ein bißchen Klavier klimpern oder Blumen nach Vorlagen mühsam nachpinseln oder sogenannte niedliche Verse schmieden kann, der hat weder das Recht noch die Pflicht, etwas anderes darüber zu vernachlässigen, sobald das andere seine ihm zugewiesene Arbeit ist. Dilettantenkram, mein Kind, ist gut für Mußestunden, wenn man welche hat; hat man keine, so muß man sich nicht damit befassen.“

Damit ging Mutter zum Plättofen, um sich ein neues Eisen zu holen, und indem sie zurückkehrte und im Gehen mit der angefeuchteten Fingerspitze den heißen Stahl berührte, um zu sehen, ob er den richtigen Wärmegrad hätte, bemerkte sie nicht, wie mir eine Thräne auf die Hand tropfte – die bittere Thräne des verkannten Genies. „Dilettantenkram“, natürlich, das sollte auf mich gehen, „niedliche Verse“, so ganz verächtlich! Nun ja, freilich, sie hatte den Inhalt meines geheiligten Poesiebuches nicht gelesen, sie ahnte nicht, daß das siebzehnte Kapitel meines Romans bereits begonnen war. Ein Roman von vierunddreißig Kapiteln ist kein Dilettantenkram. Aber allerdings, sie konnte das nicht wissen; sie sah nicht, was ich leistete. Vielleicht war es am besten, ihr zu verzeihen! Schon plättete sie wieder gleichmütig, ohne sonderlich auf mich zu achten, und ich stellte mein Eisen auf die Gardine, um mir verstohlen die Thräne fortzuwischen.

„Lene!“ rief es im nächsten Augenblick neben mir, in höchster Entrüstung, „habe ich es nicht geahnt? Siehst Du, da hast Du glücklich ein Loch gebrannt – das Eisen in voller Lebensgröße! Ein Segen, daß ich Dir wenigstens nur die alten, roten anvertraut habe!“

Ja, es war gut, diesmal wenigstens mußte ich Mutter uneingeschränkt recht geben.

In diesem kritischen Augenblick öffnete sich die Thür, und Male erschien in derselben mit kühn geschürzten Röcken und hoch aufgekrempelten Aermeln, in der einen Hand den „Feuel“, in der anderen den „Leuwagen“ haltend, denn sie hatte den Flur geschrubbt und war jetzt dabei, ihn aufzuwischen, zu „feueln“, wie man bei uns sagt.

„Da is ein’!“ meldete sie ziemlich ungnädig, denn Male konnte viel aushalten, aber mitten aus der schmutzigen Arbeit heraus ließ sie sich nicht gern wegholen. Was zu viel ist, ist zu viel!

„Es ist jemand da,“ verbesserte Mutter, welche zu vielen anderen Aufgaben auch noch die freiwillig auf sich genommen hatte, Males schon nicht mehr fragwürdiges Deutsch zu verbessern, ohne durch ihre Bemühungen je den leisesten Erfolg zu erzielen, da Male starrköpfig auf der von ihr selbst gewählten Ausdrucksweise zu beharren pflegte. „Wer ist’s denn?“

„Ich glaube, es is den neuen Doktor,“ erklärte Male. „Er hat ’n neuen Spinthut auf und ’n feinen schwarzen Liefrock an – ’ne Karte hat er mich auch gegeben.“ Dabei präsentierte sie mit der feuchten Hand eine Visitenkarte. Male war von der Kultur noch sehr wenig beleckt. Wir hatten sie, nachdem unsere vorige „Male“ Hochzeit gehabt hatte – die Mädchen heirateten immer von uns aus weg – erst kürzlich „ganz wild“ vom Lande bekommen, und sie erwies sich zwar als sehr treu und fleißig, aber leider auch als allen Bildungsbestrebungen völlig unzugänglich.

„Cylinder heißt es und Leibrock,“ belehrte Mutter trotzdem mechanisch, während sie die Karte nahm, „und eine Karte faßt man nicht mit – – ja wirklich, Lene, es ist der junge Arzt, der sich hier niederlassen will, natürlich will er seinen Antrittsbesuch machen! Sie haben den Herrn doch in das Wohnzimmer geführt, Male? Sonst thun Sie es gleich.“

Das hatte Male nun natürlich keineswegs gethan, verschwand darum schleunigst vom Schauplatz, und wir hörten sie draußen auf dem Flur mit lauter Stimme herablassend sagen: „Kommen Sie hier man so lange ’n büschen rein. Frau Rat is gerade mit unser Fräulein beis Plätten. Sie macht sich man ’n büschen zurecht, denn kommt sie.“

„Unpassender hätte der Mann die Zeit aber doch auch nicht wählen können,“ sagte Mutter, den großen Haufen Plättwäsche, der noch zu bewältigen war, mit verzweifelndem Blick überfliegend. „Es hätte ja doch nicht geeilt mit den Besuchen, jetzt, wo alle Welt reinmacht. Ich kann hier nicht weg, es ist unmöglich. Dir –“ ein Seufzer – „Dir kann man ja leider die Plätterei nicht anvertrauen. Geh Du hinein; annähernd ordentlich siehst Du ja aus, und der Mann wird ja wohl ein Einsehen haben; sage, Vater wäre nicht zu Hause, wir wären beim Reinmachen, ich ließe um Entschuldigung bitten und so weiter na, das wenigstens wird man Dir ja wohl überlassen können! Hoffentlich geht er dann gleich wieder.“

Damit steckte sie mir noch geschwind den dicken, schwarzen Zopf ein bißchen fester, fuhr mir mit der Hand hastig glättend über das krause, immer widerspenstige Haar und schob mich aus der Thür, als wäre ich eine auf Rollen stehende Figur. (Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.



Eine Reform der Medizintropfen. Nur ein Tropfen! So sprechen wir und bezeichnen damit die geringste Menge der Flüssigkeit, die wir abzumessen pflegen. Und doch ist der kleine Tropfen sozusagen ein sehr weiter Begriff, ein höchst schwankendes Maß. Wir brauchen ja nur die von der Natur gelieferten Regentropfen zu beobachten. Da klatschen mitunter Riesentropfen nieder, deren Schlag uns Schmerzen bereitet, oder es rieselt in feinen und feinsten mikroskopisch kleinen Tröpfchen. Trotz alledem gilt uns der Tropfen doch als ein Maß und wir messen mit ihm obendrein nicht etwa nur harmlose Flüssigkeiten, sondern oft recht zweischneidige Arzneien, die, in einer nur etwas zu großen Menge eingenommen, sehr leicht aus einem Heilmittel zu lebensgefährlichem Gifte werden. „Stündlich 10 Tropfen,“ steht es auf dem Rezept. Wir lassen nun die Tropfen aus der Medizinflasche in ein Glas oder auf ein Stück Zucker fallen, aber wie verschieden groß können die Tropfen sich gestalten. Die Größe und das Gewicht derselben hängt zunächst von der Beschaffenheit der Flüssigkeit, die wir abtröpfeln lassen, ferner von der Beschaffenheit des Flaschenhalses und dem Inhalt der Flasche ab. Je weiter der Flaschenhals, desto großer werden die Tropfen und aus einer vollen Flasche erhalten wir viel größere Tropfen als aus einer halbgefüllten oder nahezu entleerten. Am gleichmäßigsten gestalten sich die Tropfen, wenn wir sie durch enge Röhrchen fallen lassen. Alsdann hängt ihre Größe von der Größe der Ausflußöffnung ab. Jüngst wurden in dieser Hinsicht interessante Versuche angestellt. Läßt man Wasser durch verschieden weite Röhrchen abtröpfeln, so erhält man folgende Ergebnisse. Ist die Ausflußöffnung etwa 0,7 mm weit, so wiegen die Wassertropfen je 13 Milligramm, bei einer Röhrenweite von 1,40 mm erhielt man 26 Milligramm schwere Tropfen, während 15 mm weite Ausflußöffnungen Tropfen von 225 Milligramm Gewicht ergaben. Im Interesse des Kranken und des Arztes ist es nun dringend erwünscht, daß man Tropfgläser verwendet, die stets gleich große Tropfen ergeben. Zu diesem Zwecke hat man vorgeschlagen, die Stöpsel der betreffenden Medizingläser mit etwa 7 mm weiten Glasröhrchen zu versehen. Mit deren Hilfe würde man sozusagen Normaltropfen erhalten. Es würden alsdann auf je ein Gramm verschiedener Flüssigkeiten folgende Tropfenmengen kommen: von destilliertem Wasser 10 Tropfen, Karbolwasser 15 Tropfen, rektifiziertem Spiritus 29 Tropfen, Olivenöl 21 Tropfen, Chloroform 26 Tropfen, Aether 41 Tropfen etc. Hoffentlich wird eine derartige wünschenswerte Reform unserer medizinischen Tropffläschchen demnächst erfolgen!*      

Amerikanische Verkehrskuriosa. Die beiden folgenden Beispiele von der Kühnheit, mit welcher die Technik in den Fragen des Verkehrs alle natürlichen Schwierigkeiten überwindet oder sogar in Vorteile verwandelt, sind mitten aus dem Eisenbahnleben der Vereinigten Staaten gegriffen und wären wohl auch kaum in einem anderen Lande denkbar. In den kalifornischen Gebirgen kreuzt die Bahn eine tiefe, von Prachtexemplaren alter, riesiger Bäume ausgefüllte Schlucht. Man verschmähte es, hier eine Brücke zu schlagen, und meinte, zum Tragen der Geleise wären die Stämme der prächtigen Rotholzbäume gerade gut genug. So wurden die der Trace hinderlichen Kronen einfach in der Höhe der Schienen abgesägt, Schwellen und Schienen auf den 75 Fuß hohen Stümpfen der stärksten Bäume befestigt, und auf dieser primitiven

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0147.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2023)