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verschiedene: Die Gartenlaube (1896)

über den Kessel, der ohnedies wie ein Spiegel glänzte, und wollte nun an die sonntägliche Toilette gehen, als es auf dem Vorplatz läutete. Es war das Dienstmädchen des oberen Stockwerkes; sie solle vielmals um Entschuldigung bitten, aber der Postbote sei in der Frühe dagewesen, er habe unten geläutet, und da ihm nicht aufgemacht worden sei, habe er sein Paket oben abgegeben; sie, das Dienstmädchen, sei in der Kirche gewesen, und die gnädige Frau habe eben erst wieder an das Paket gedacht, das sie auf dem Vorplatz habe liegen lassen.

Es war ein Paket aus Berlin, das Frau von Feldern freudig erregt in die Stube trug. Gerade in dieser Nacht war sie wieder von den unglücklichsten Vorstellungen geplagt gewesen und erst gegen Morgen in einen unerquicklichen Schlummer verfallen; da mußte der Postbote geläutet haben, und sie hatte es nicht gehört.

Mit zitternden Händen riß sie das Paket auf; ein Rahmen kam zum Vorschein mit einem Bild – mit dem Bild ihres Lieblings. – Aber fast hätte sie aufgeschrieen, so ähnlich war er dem Vater geworden, schon durch den grauen Anzug, den er trug, und den Backenbart, den sie zum erstenmal an ihm sah; sein früher so interessantes schmales Gesichtchen war allerdings rund geworden, ja beinahe feist, und auch ein Etwas in der Haltung – kurz, Kunochen sah nicht mehr so aristokratisch aus wie früher, und Frau von Feldern nahm sich vor, ihn darauf aufmerksam zu machen.

Jetzt aber zum Brief – wie freute sie sich über dessen Länge, mit welchem Behagen setzte sie sich zurecht, das Bild vor sich auf den Tisch stellend! – noch einmal hing ihr Auge an den teuren Zügen, dann beugte sie sich über das Schreiben und las:

 „Geliebte Mutter!

Ich habe lange nichts von mir hören lassen, aber wie Du auf dem Bilde siehst, bin ich nun fein heraus, und so will ich denn endlich Mut fassen und mit der Wahrheit anrücken. Ich habe schrecklich ausgestanden, liebe Mama, und wahrhaft jammervolle Zeiten durchgemacht. Ich glaube, ich bin nicht so begabt, wie Du immer meintest, und welch ein Glück wär’ es gewesen, wenn man das früher herausgekriegt hätte und ich mich nicht so fürchterlich mit Lernen hätte schinden müssen, denn ich war weder zum Studieren, noch zum Soldaten geboren. Hier in Berlin habe ich das sehr bald eingesehen, aber ich wollte Dich nicht kränken, und so habe ich Dir auch alle die Schicksalsschläge verheimlicht, die mich hier nacheinander trafen, denn ich bin gleich im ersten Jahr stellenlos geworden, und, was ich auch unternahm, nichts wollte mir glücken.

Auch war ich keiner Anstrengung gewachsen, und als ich mich einmal sehr elend fühlte und zu einem Arzt ging, sagte dieser mir, ich sei zwar gesund, aber außerordentlich schlecht genährt und habe viel nachzuholen. Dies, liebe Mama, ist gewiß auch der Hauptgrund, warum ich ein so haltloser Mensch ohne Ausdauer geworden bin, und bitte ich Dich, dies ins Auge zu fassen, damit Du mir verzeihen kannst, was ich Dir alles verheimlicht habe und was aus mir geworden ist. Ich habe es nämlich Eduard zu verdanken, daß ich nicht zu Grunde ging, er hat mich fortwährend unterstützt, und Dich auch, liebe Mama, indem er Dir in meinem Namen das Monatliche auszahlte, was ich ja sehr gern gethan hätte, wenn ich es nur hätte können. Du kannst Dir denken, liebe Mama, wie mich das peinigte, wenn Du Dich immer bedanktest. Ich weiß gar nicht, wo all das viele Gelernte hin ist, denn nicht einmal für ganz untergeordnete Stellungen hat mein Kopf ausgereicht. Zuletzt bin ich Kellner gewesen im Café Kleiner, wo ich zuerst die Entdeckung machte, daß ich sehr geschickte Hände besitze, denn ich machte alles am besten und zerbrach nie etwas. Hier auch sollte mich der erste Glücksstrahl meines Lebens treffen; die Besitzerin des Cafés und des gleichnamigen Hotels war eine brave gutmütige Witwe in meinem Alter, kinderlos und sehr umworben. Allein meine feine Lebensart und elegante Erscheinung hat sie zu dem Schritt veranlaßt, mir ihre Hand und ihr Hotel anzubieten. Ich selbst hätte natürlich nie den Mut gehabt, bei ihr anzuklopfen. So siehst Du doch, liebe Mama, daß Deine gute Erziehung nicht umsonst war, sondern gute Früchte getragen hat. Wegen des Namens mache Dir keinen Knmmer: das Cafe behält den Namen Café Kleiner, und die Leute nennen mich Herr Kleiner. Es ist freilich mit mir ein wenig anders geworden als Du es wünschtest, aber zürne mir darum nicht, liebe Mama, es hätte noch viel schlimmer ausfallen können. Es geht mir jetzt so gut, daß ich gar zu gerne möchte, unsre ganze Familie wäre versöhnt. Meine Frau und ich bitten Dich, bei uns zu wohnen, Du sollst es sehr angenehm haben; ich versichere Dich, so ein warmes zweites Frühstück mit Rotwein ist nicht ohne! Ich wäre wirklich sehr glücklich, liebe Mama, wenn ich Dir alles vergelten könnte, was Du an mir gethan.

Dein aufrichtiger Sohn Kuno.“ 

Frau von Feldern ließ die Hand mit dem Brief ihres Sohnes sinken und starrte dessen Bild an; sie starrte es an, ohne es zu sehen, völlig geistesabwesend, als lauschte ihre Seele auf innere Stimmen, die sich da erhoben und nicht mehr zum Schweigen zu bringen waren. Die letzte Rede ihres Mannes fiel ihr ein, und es war ihr, als habe sie jene Worte, die er vor seinem Tode gesprochen, soeben wieder gehört aus dem Brief ihres Sohnes – ja, innerlich und äußerlich, sie waren sich ganz gleich! ...

Sie schauderte zusammen vor der entsetzlichen Helle, die sich plötzlich vor ihr aufthat, aber sie schaute hinein. „Schicksal, Schicksal,“ murmelten ihre zuckenden Lippen, „der eine giebt sein ‚von‘ auf, der andre seinen ganzen Namen!“ Sie stieß ein trockenes Lachen aus, das aber mit einem Schluchzen endigte; welch eine Oede, welch eine Armut des Daseins that sich mit einem Male vor ihren trostlosen Blicken auf – sich sagen zu müssen am Schlusse seines Lebens: es war alles umsonst, und Du hast nichts erreicht, nichts! ...

„Es ist alles Lüge gewesen,“ sagte sie laut und hart, „ein mühevolles Lügen, tagaus tagein – nun aber ist’s vorbei!“

Sie starrte das Bild ihres Sohnes an. „Er sieht aus wie ein Oberkellner – mache Dir das nur klar – mache Dir alles klar!“

Es läutete; Frau von Feldern fuhr in alter Gewohnheit nach dem Kopf, um das Spitzenhäubchen zu ordnen, das sie vergessen hatte, aufzusetzen, und öffnete.

Die Sonntagsgäste traten über die Schwelle – Frau Müller in rauschender Seide, mit dem unternehmenden Gesichtsausdruck einer Person, die sich auf einen lustigen Kampf gefaßt macht – Malchen mit dem stark markierten Bühnenlächeln, das aber urplötzlich von ihrem Gesicht verschwand, während Frau Müller die Augenbrauen bis unter die Haarfransen zog; vor ihnen stand eine gebrochene, unbeschreiblich leidend aussehende Gestalt, die aber, kaum war die erste Frage laut geworden: „Sind Sie krank – fehlt Ihnen etwas?“ wieder aufschnellte und in ihrem alten Ton erwiderte: „Nichts von Bedeutung –“

Man stürzte über Kunos Bild her, und Frau Müller rief beinahe zornig aus: „Herrgott, jetzt hat der Meusch auch noch dicke Backen ’kriegt,“ – sie nahm ihre Lorgnette – „wahrhaftig, ganz dicke Backen!“

Frau von Feldern bereitete den Thee; ihre Hände thaten mechanisch die gewohnten Dinge, während sie innerlich fortwährend nach Fassung rang.

Aber als Frau Müller ihren Thee hatte, schrie diese laut auf: „Pfui Teufel, was haben Sie mir da für ein Getränk gegeben, ich glaub’ wahrhaftig, ’s ist Lindenblütenthee –“

„Entschuldigen Sie –“ Frau von Feldern nahm die Tasse zurück, „eine kleine Verwechslung; da es mir wirklich nicht ganz gut ist, habe ich mir zum erstenmal in meinem Leben Lindenblütenthee gekocht.“

Frau Müller betrachtete Kunos Bild und dann die blasse, veränderte Frau. „Sie,“ sagte sie Malchen ins Ohr, „da hat’s schlechte Nachrichten gegeben, ich wett’ –“ Aber sie that keine Frage und Malchen auch nicht, und so entstand eine Totenstille.

Frau von Feldern sollte die Erfahrung machen, daß für einen, der sein ganzes Leben gelogen hat, die Wahrheit keine leichte Sache ist. Es drängte sie, das Gewebe zu zerreißen und damit herauszukommen, was doch nicht zu verbergen war, aber der gerade Weg war ihr unbekannt.

„Kunochen hat eine sehr gute Partie gemacht,“ sagte sie mit einem eigentümlichen Zittern ihrer Stimme, „ich habe wenigstens selbständige Söhne erzogen und nicht solche, die ewig an der Schürze ihrer Mutter hängen.“

„Das war vorauszusehen,“ fiel ihr Malchen ins Wort, „ich wundere mich über gar nichts, und wenn Kunochen eine Prinzessin geheiratet hätte. Ist sie hübsch? Hat er nicht ihr Bild geschickt?“

„Sie wird gemalt, ich bekomme sie gemalt; sie soll eine wunderschöne Frau sein,“ sagte Frau von Feldern. „Es giebt ja nichts Dümmeres auf der Welt als Hochmut, und darum bin ich auch ganz zufrieden, obwohl sie die Tochter aus einem der ersten Hotels in Berlin ist; sie war sogar bereits ein halbes Jahr verheiratet, aber das geniert mich auch nicht, wo so viel Schönheit und Reichtum ist – die Kinder sind unbeschreiblich glücklich, und ich mit ihnen!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1896). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1896, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1896)_0098.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)