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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

dagegen, wenigstens keinen offiziellen Grund, und flehentlich bat mich die Komtesse, nicht etwa heimlich davonzulaufen, „denn,“ erklärte sie, „er hat das Recht, Dir alle Existenzmittel zu entziehen, er kann Dich auf alle mögliche Weise quälen und drangsalieren.“

„Aus Deinem Hause laufe ich nicht fort, Tante, heute und morgen nicht,“ sagte ich. „Aber es wird, es muß sich ein Ausweg finden - nimm mir nicht jede Hoffnung!“

Drei Tage nach dem Eintreffen seines Briefes, gegen Abend, holte mich Wollmeyer ab. Die Komtesse ließ sich nicht sehen. Sie hatte mich in meinem Stübchen ans Herz gedrückt, bis mir der Atem verging. „Im Notfalle weißt Du, wo ich wohne,“ sagte sie mit seltsam gedämpfter Stimme; „es giebt Situationen, da fürchte ich mich vor dem Teufel nicht. Gott behüte Dich, mein Kind!“

Die Aprilsonne stand noch hoch am Himmel, als ich neben ihm durch die Gassen schritt. Ich hatte nicht geweint; ich war wieder in den finstern starren Trotz verfallen, der mich seit Mamas Tode gepackt hielt, der mich selber schmerzte und quälte. Jedenfalls um den Leuten zu zeigen, daß er in bestem Einvernehmen mit mir sei, redete Herr Wollmeyer in einem fort mit freundlicher Miene auf mich ein. Ich sah auf die Steine des Pflasters und antwortete nicht. Der lange Kreppschleier meines Hutes flog im leisen Winde zu seiner Schulter hinüber und blieb dort liegen, ich riß ihn zurück, als sei der ganze Mensch Gift.

„Nun! Nun!“ sagte er lächelnd.

Als ich in das Haus trat, in dem ich meine Kindheit verlebt hatte, den Flur wiedersah, in dem ich gespielt, die Treppe, über die mein Vater so oft geschritten an glückliche Tagen, die Thür, an die Mama so oft geklopft in der letzten schweren Zeit, wenn sie mich besuchen wollte – da drohte meine Fassung mich zu verlassen. Zu seinem Befremden ließ ich Herrn Wollmeyer stehen und schlug sofort den Weg nach meiner alten Stube ein. Wie im Taumel kam ich über die Schwelle, die Base saß dort – gottlob, gottlob! „Aber, Annelieseken,“ sagte sie, als ich bebend und schluchzend in ihre Arme fiel, „weinen Sie doch nicht; Sie bleiben hier bei mir. Ich will Sie schon pflegen, tausendmal mehr als früher, mein Goldpünktchen, mein Vögelchen!“ Und sie nahm mir den Hut ab und brachte mir ein Glas Wasser. „Schauen Sie, da ist Papas Bild, und im Garten ist’s in diesem Frühjahr so schön, so schön, Sie glauben’s nicht; eine Baumblüt’, wie seit Jahren nicht – sehen Sie nur ein einziges Mal aus meinem Stübchen hinaus!“

Ach, was half mir die Baumblüte! Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf die Estrade; sie ging in ihr Stübchen und kam mit einer Photographie zurück.

„Ist’s ähnlich?“ fragte sie.

Mein Herz klopfte so laut, daß ich es zu hören vermeinte, als ich Robert sah, zum Sprechen ähnlich, in der knappen Uniform, das ernste hübsche Gesicht dem Beschauer entgegengewendet, als wollte es sagen: „Schau mich nur an, ich kann deinen Blick ertragen.“

Ich legte das Bild auf den Tisch und betrachtete die alte Frau, deren Benehmen ich in der letzten Zeit so gar nicht begriffen hatte. „Base,“ sagte ich, „weshalb kamen Sie nicht einmal, mich zu besuchen, so lange ich bei Tante Komtesse war?“

Sie senkte den Kopf und bastelte am Schürzenband. „Ich konnte nicht fort, Anneliese, konnte um die Welt nicht aus dem Hause.“

„Liebste Güte, Base, Sie brauchten doch nicht Angst zu haben, daß das alte Gerümpel hier mitsamt seinem kostbaren Inhalt fortgetragen werde? Was sollte denn passieren? Vor was hatten Sie Angst?“ Ich legte ihr die Hand auf die Schulter; sie sah so schrecklich bekümmert aus.

„Ja, freilich,“ murmelte sie, „aber es ging eben doch nicht!“

„Hat er es Ihnen verboten?“

„Gott bewahre, Anneliese, o nein, nein! Im Gegenteil, er hat ’mal gefagt, ob ich denn festwachsen wollte in meiner Stube. Aber – es ging doch nicht!“

„Ist es wahr, daß Brankwitz fort ist?“

„Anneliese, das wissen Sie nicht? Er ist in Amerika. Die Nacht noch, in der Mama starb, haben sie alle Drei zusammengesessen bei verschlossenen Thüren, Ihr Stiefvater, Brankwitz und Olga Sellmann, und haben verhandelt. Es ist heftig zugegangen, sehr heftig, aber dann ist Ruhe geworden. Frau Sellmann ist zuerst abgereist, und am Begräbnistage auch Herr von Brankwitz. Einmal ist er noch wiedergekommen, da haben sie sich wieder lange eingeschlossen, und endlich ist er ganz fort mit dem Hamburger Schnellzug. Wollmeyer erzählte, er wolle nach San Francisko, ‚den sehen meine Augen nicht wieder‘, setzte er hinzu, aber er that einen Seufzer dahinterher. Was wird’s sein, Anneliese? Er hat ihn eben unschädlich gemacht – für Geld ist ja alles feil auf dieser Welt. Kurz und gut, der ist besorgt und aufgehoben!“

O weh, er hat ihm seine Papiere abgekauft, dachte ich, nun hat Robert Nordmann einen Beweis weniger. „Ach, Base, wie soll ’s werden hier! Ich glaube, ich halt’s nicht aus.“ Müde sah ich mich im Zimmer um, das mir wie ein Gefängnis vorkam. „Ich sterbe gewiß bald, Base, und das wäre das beste!“

„Da sei Gott vor!“ rief sie erschreckt. „Es geht alles vorüber, das Gute und das Schlimme – Sie müssen leben, lange und glücklich!“

„Glücklich?“ Ich lachte auf. „Hören Sie, Base, da kommt schon mein Glück!“

Herrn Wollmeyers schwere Schritte klangen durch das Vorzimmer. Ich preßte die zitternden Hände fest um mein Taschentuch und sah ihm finster entgegen. Er trat ein und suchte mich mit etwas unsicheren Blicken.

„Ich wollte Ihnen nur sagen, wie ich mir unser ferneres Zusammenleben wünsche,“ begann er. „Ich erwarte natürlich gar keine Rücksichten von Ihnen, Sie haben mir nie Veranlassung gegeben, dies zu thun. aber das verlange ich, daß Sie wenigstens die äußere Schicklichkeit beobachten. Wir werden also unsere regelmäßigen Mahlzeiten zusammen halten; Entschuldigungen unter allerlei nichtigen Vorwänden wie Kopfschmerzen und so weiter, die Ihre gütige Mama gelten ließ, finden bei mir kein Verständnis. Ihre Spaziergänge werden sie in meiner Begleitung machen; Sie mögen Ihre Freundinnen empfangen, die Zimmer Ihrer Mutter stehen Ihnen dazu zur Verfügung; Sie mögen diese Besuche auch erwidern – aber diese eigenmächtige rasche Ausführung von allem, was Ihnen gerade durch den Kopf fährt, hört auf, meine liebe Anneliese, so lange Sie noch unter meiner Aufsicht stehen. Im übrigen –“

Ich sah ihn an von oben bis unten – er wollle mir Vorschriften machen!

Er ward um einen Schein fahler. „Im übrigen fürchten Sie nicht,“ sprach er weiter, „daß ich jemals wieder versuchen werde, Ihnen eine sorgenfreie Zukunft zu verschaffen. Sie können, wenn Sie mündig sind, mit Ihrer Hand und Ihrem Herzen beglücken, wen Sie wollen, falls Sie es nicht vorziehen, als Erzieherin Ihr Brot zu verdienen – in Armut und Edelsinn. So lange ich aber noch Pflichten gegen Sie habe, bitte ich mir Gehorsam aus. Doch darum keine Ungemütlichkeit! ’s ist immer gut, wenn man weiß, woran man ist!“ Er lachte wie früher auch nach solchen Phrasen, aber es klang anders als sonst. „Damit Sie indes sehen, daß es keineswegs eine so grausame harte Zukunft ist, der Sie einstweilen entgegengehen, teile ich Ihnen und der Base mit, daß wir das Pfingstfest auf der Mühle verleben werden – ich sage immer noch ,auf der Mühle‘ – im Schlößchen natürlich. Die Base mag sich hinsetzen und dazu in meinem Namen den Herrn Nordmann einladen. ’s ist lächerlich, daß das Gezank ewig dauern soll – es war eben ein Dummerjungenstreich, daß er davonlief. Was sagten Sie, Anneliese?“ unterbrach er sich.

Ich hatte nichts gesagt, hatte nur nervös gelacht über diese ungeheure verzweifelte Frechheit meines Stiefvaters. Die Base stand an dem Tische mit gesenktem Kopf und schwieg.

„Sie lachten? Es ist auch zum Lachen, daß man sich so herumbringen läßt; aber man wird weich, man wird wie Wachs, wenn man einen so großen Schmerz erlebt hat, wenn man in die Hand einer Sterbenden ein Versprechen gab, ein Versprechen, das gefordert wurde als letzter Liebesbeweis. Es betraf Sie und den Jungen – verstanden?“

Er griff täppisch zuthulich nach meinem Ohr; ich stieß die plumpe Hand unsanft zurück. „Sie halten mich für blödsinnig oder für ganz –“

„– furchtbar verliebt“, vollendete er neckend, als ich stockte, und blinzelte mir zu. „Meine gute Anneliese, man küßt sich doch nicht im Schlitten, im dunklen Wintermorgen, wen man sich nicht von ganzem Herzen gut ist – wenigstens Sie würden das nicht thun und einen Mann küssen, den Sie nicht zu heiraten gedenken.“

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