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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)



Ich saß allein in meiner Stube: was ich dachte und fühlte, ich weiß es nicht mehr, nur eines war mir klar, übermächtig klar, die Gewißheit, daß Mama sterben, daß sie mich verlassen würde. Ein wilder Schmerz rüttelte mich, aber weinen konnte ich nicht. Barmherziger Gott, nach Deinem Willen! dachte ich. Was soll sie auf der Welt, die nichts weiter mehr für sie hat als Jammer und Elend? Aber nimm mich gleich mit, ich bitte Dich! Ich wiederholte das Letzte halblaut immerzu. Ach, ich bitte Dich! Ich bitte Dich! Furchtbare Vorstellungen marterten mich, ich sah Wollmeyer verhaftet, fortgeführt, sah den ganzen Hof voll Menschen stehen, voll hohnlachender schrecklicher Menschen, die mit Fingern auf mich und Mama wiesen und sagten: „Die haben auch das Sündenbrot mitgegessen!“ – eine Vorstellung, die mich jäh emporspringen ließ und in der Stube umhertrieb. Laß uns zusammen sterben, lieber Gott!

Niemaud bekümmerte sich um mich, und immer schrecklicher wurden meine Phantasien. Die Komtesse war schon geflohen, als sie aus dem Wenigen, das sie hörte, die Gemißheit gewonnen hatte, daß Brankwitz der „Kravattenfabrikant“ sei, von dem ihr Neffe gesprochen und Wollmeyer sein Kompagnon.

Und das war ja das Schlimmste noch nicht! O, ganz allein würde ich bleiben, sobald Mama gegangen, auch die Komtesse würde mich verlassen!

Und diese unheimliche Stille! Ich schlich mich durch das Vorzimmer und spähte in den Flur hinaus. Man hatte eine Lampe angezündet, und in deren schwachem Schein grinsten mich die lachenden Masken aus dem Tannengrün an mie ein gräßlicher Spuk. Wäre wenigstens die Base bei mir! Wüßte ich nur, wie es oben steht! Und mitten drin überkam mich die Erinnerung an die Knopfmarthe, die so verzweifelt den Mann anklagte, der sie in den Tod trieb, und die Erinnerung an ein Grab in den Thüringer Bergen. Schuld, Schuld, wohin ich blickte, schwere, furchtbare Schuld!

Ich hatte mich auf die Schwelle der Stubenthür gehockt und erwartete weitere Nachricht über Mamas Ergehen. Es war kalt im Flur und so still im ganzen Hause, als läge schon ein Totes darin. Dann kamen schwere Schritte die Treppe herab, und mein Stiefvater ward sichtbar. Ich erhob mich und trat in das Zimmer zurück. Entsetzlich hatte er ausgesehen, so gedrückt, so scheu, so stier die Augen. Seine Tritte folgten mir, ich schloß die Thür in herzklopfender Angst. „Machen Sie auf,“ befahl seine heisere Stimme, „machen Sie auf, ich muß mit Ihnen sprechen – Ihrer Mutter wegen!“

Willenlos gehorchte ich und suchte dann zitternd eines der Fenster, als sei ich dort sicher in der schwachen Helle, die es einließ und die zwei Schritte davor in der Dunkelheit erstarb.

„Ihre Mutter ist sehr krank,“ begann er heiser, „sie ist lebensgefährlich krank.“

„Kein Wunder!“ antwortete ich halb erstickt.

„Sie hat sich erschreckt, alteriert – sie ist so nervös.“

„Jawohl, ich weiß, ich kenne die Ursache, denn ich war bei ihr, als sie erfuhr, daß –“

„Sie?“ Es war wie der Wutschrei eines Tieres.

„Schlagen Sie mich nur tot, ich will nichts Besseres,“ sagte ich.

Er blieb still. „Nun denn,“ stieß er endlich hervor, „dann wissen Sie ja alles, dann brauche ich es nicht zu wiederholen – Sie allein haben das Leben Ihrer Mutter in der Hand.“

„Wenn es Gottes Wille ist, daß meine Mutter am Leben bleibt, so nehme ich sie an der Hand und verlasse mit ihr dies Haus. Ich bin jung, ich kann arbeiten; ich will nicht, daß sie einem Betrüger angehört.“

„Beweisen Sie doch, daß ich ein Betrüger bin, bemeisen Sie es doch! Ich frage Sie zum letztenmal, wollen Sie Brankmitz Ihr Jawort geben oder nicht?“

Ich antwortete nicht, außer mir, drehte ich ihm den Rücken. Doch in diesem Augenblick flog ein Lichtschein durch das Zimmer; mein alter Schutzengel stellte die Lampe auf den Tisch und schloß meine zuckenden Glieder in seine Arme. „Anneliese liebt einen andern, Wollmeyer, sparen Sie Ihre Worte!“

Ich wand mich empört aus den Armen der alten Frau. „Base!“ rief ich zitternd.

„Wen?“ fragte mein Stiefvater.

„Den Robert Nordmann – und er liebt sie,“ erklärte unbeirrt die Base. „Und wenn Ihnen etwas an dem Leben der armen Frau dort oben gelegen ist, so sperren Sie sich nicht dagegen – ich spreche noch einmal wohlmeinend mit Ihnen.“

„Was kann mir der Lump –“ stotterte er, „es ist Spekulation von ihm, gemeine Spekulation!“

Ich stieß die Base zurück und wollte sprechen, aber mir war, als ob eine Hand meine Kehle zudrückte.

„Es wäre besser, Sie überlegten Ihre Ausdrücke ein bißchen,“ sagte die Base, „es möchte Sie sonst gereuen.“

Er ward plötzlich kreideweiß im Gesicht.

„Ihr wollt mir drohen,“ schrie er, „nehmt Euch in acht! Meinetwegen mag sie ihn nehmen in des Teufels Namen und machen, daß sie mit ihm fortkommt auf Nimmerwiedersehen!“

„Sie täuschen sich!“ rief ich außer mir. „Robert Nordmann wird nicht wieder gehen, bevor die Ehre seines Vaters, die durch einen Schurken befleckt wurde, wieder hergestellt ist, und ich wünsche mit der ganzen Kraft meiner Seele, daß es ihm gelingen möge!“

„Anneliese,“ mahnte die Base, „bedenken Sie – Ihre Mutter!“

„Mein Leben will ich lassen für Mama, aber dazu beitragen, ein Verbrechen zu bemänteln, das Sühne verlangt, nie!“

„Wahnsinnige Person!“ murmelte Wollmeyer, dann schwankte er aus dem Zimmer.

Die Base war auf den Fenstertritt gesunken, wie eine formlose Masse saß sie da in der schwachen Helle. „Gott im Himmel!“ schluchzte sie. „Und in einer Stunde kommt Robert, gestern hab’ ich ihm telegraphiert!“

„Wie? Sie haben ihn hergerufen? Was denken Sie?“

„Daß Sie das Schicksal von uns allen in der Hand haben! Er liebt Sie – wenn Sie ihn bitten, wird er sich mit Wollmeyer stillschweigend einigen um der armen Frau willen. Roberts Vater ist tot, aber Ihre Mutter lebt, Anneliese – Gott erhalte sie! Was tot ist, ist tot, er muß an die Lebenden denken!“

„Ihn darum bitten – nein – und wenn mein Herz darüber bricht! Das kann ich nicht, Base!“

Ein Mädchen trat in diesem Augenblick ein. „Mit der gnädigen Frau geht es schlechter,“ flüsterte sie.

„Kommen Sie, Anneliese,“ sagte die Base, „vielleicht erbarmt Sie der Anblick.“ Ich folgte ihr stumm.

Eine Frau saß am Bette. Totenblaß lag das schöne Antlitz Mamas in den Kissen. Ich kniete am Lager nieder und barg den Kopf in der seidenen Decke. Sie war augenscheinlich nicht mehr bei Besinnung, sie flüsterte immer leise vor sich hin: „Komtesse, verlassen Sie Anneliese nicht – nehmen Sie sie fort – ganz fort von hier! Es ist aber nicht wahr, daß er schlecht ist – Helene Sternbergs Mann und schlecht! Es ist zum Lachen!“ Sie lachte leise. „So alberne Menschen, die das sagen – einen Orden wird man ihm geben, morgen, und so viele Leute kommen – so viele – immer mehr – immer mehr – sie wollen folgen – folgen! Nein, Pate stehen wollen sie – hörst Du, Anneliese? Das Kind braucht sich seiner Eltern nicht zu schämen – nein!“

Ich hielt mir die Hände vor die Ohren; ich litt wie unter körperlichen Martern. Dann sprang ich auf und stürzte hinunter in meine Stube und wimmernd warf ich mich aufs Sofa. „Mama, Mama – bleib’ bei mir, bleib’ bei mir!“

Da umfaßten mich zwei starke junge Arme und richteten mich empor und dann lag ich an seiner Brust. „Anneliese, meine Anneliese!“ Ich wehrte mich nicht, ich wunderte mich nicht, ich schluchzte nur heftiger als zuvor: „Mama – meine Mama will sterben, ich will nicht leben ohne sie!“

Er ließ mich weinen und strich mir nur sanft über meine Haare. Dann begann er zu sprechen: „Die Base telegraphierte mir, ich sollte schleunigst kommen, Du seist in Gefahr – was ist’s, Anneliese? Hat man Dich wieder wegen Brankwitz gequält? Oder denkst Du, ich sei gekommen, Deiner Mama etwas zu thun? Ach Kind, wie habe ich gekämpft mit mir, mit meinem Gewissen, mit meinem Stolz, seit jener Abschiedsstunde, seit ich Dich geküßt! Nein, Anneliese, ängstige Dich nicht – Deine Mutter lebt und mein Vater ist tot, und im Jenseits, wenn da Gute und Schlechte belohnt und bestraft werden, hat er tausendfach seine Ehre wiedergefunden, die ihm die Menschen hier raubten. Wir wollen suchen, dies alles zu vergessen. Komm mit mir – wo die Liebe ist, da ist auch die echte, die wahre Heimat! Nichts sollst Du im fremden Lande vermissen; komm, Anneliese, sag’, daß Du willst!“

Wie ein süßes Wiegenlied hatten diese Worte geklungen; ich war ganz still geworden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_827.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)