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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Und ich habe Sie schon gesehen, Frau Gräfin,“ erwiderte Gabriele. Leise lächelnd setzte sie hinzu: „Die Porträts aus Herrn von Schersens Hand sind so ähnlich, daß man die Menschen nach ihnen wieder erkennt.“ „Ah!“ kam es von Swantas Lippen. „Kann man das Meisterstück nicht sehen?“ wandte sie sich lebhaft an Schersen.

Er erfüllte ihren Wunsch, beglückt über das Wiedersehen, angenehm berührt von der feinen Art des Verkehrs zwischen den beiden Damen, doch auch ein wenig beengt bei dem Gedanken, daß diese zwei ihn ganz durchschauten, daß Swanta sofort seine Beziehungen zu Gabriele erriet und Gabriele so befriedigt ihn der ersten Liebe überließ. Er schlug die kleine Skizze jener in orientalische Schleier gehüllten Dame auf. Gabriele sah lächelnd auf die beiden darüber geneigten Häupter; dann verschwand ihr grauer Schleier hinter Mauertrümmern. Die Gräfin blickte lange auf ihr Porträt nieder. So hatte also die Erinnerung ihr Bild ihm vorgeführt, mit solch kühnem Blick und so reinen Lippen! Ein Glanz stieg in den grauen Augen auf.

„Armselige Stümperei!“ sagte er zärtlich, „obgleich unter den tollsten Wünschen gezeichnet. O, wie einsam habe ich mich in diesen Jahren gefühlt!“ fuhr er mit unverkennbarer Aufrichtigkeit fort. „Ich war so unglücklich, heute noch, vor wenigen Minuten. Und nun, nun fragt doch die Hoffnung: ist endlich die Zeit gekommen, da mir vergönnt wird, nicht nur das Bild, sondern die lebende angebetete Gestalt festzuhalten?“

Ihre klugen Augen sahen ihn prüfend an. Sein gespannter Blick hing flehend, an ihren Lippen. Da sagte sie endlich leise, halb scherzend: „Ndio Bwana!“

„Sie sind grausam, Gräfin, mich so zu quälen,“ rief er.

„Sie müssen sich daran gewöhnen, mich in allen Sprachen der Welt reden zu hören,“ antwortete sie. „,Ndio Bwana‘ ist ein bei den Negern gebräuchlicher Ausdruck und heißt“ – die Weltdame wurde doch rot und übersetzte nur mit leiser Stimme: „Ja wohl, Herr, Du mußt es wissen.“

Ein seliges Aufstrahlen seiner Augen antwortete ihr. Er drückte die Lippen auf ihre schlanke Hand, und Arm in Arm gingen sie dann über den glatten Bergrasen, als sei er das spiegelndste Parkett, in eleganter Salonhaltung, obgleich nur ein paar knorrige Eichen ihre Gesellschaft bildeten, aber beide mit einem Ausdruck in den Zügen wie irrende Wanderer, die den richtigen Pfad gefunden haben.

Und wie irrende Wanderer mit unsteten Schritten ging noch ein anderes Paar über den alten Sagenberg – Holl und Ilse. Sie hatten Gabriele und Schersen aus den Augen verloren, als diese den Festplatz verließen. Unsicher sah Ilse sich um. Und Holl – er konnte das Mädchen doch nicht allein lassen unter den vielen fremden Menschen, mußte ihr helfen, Gabriele zu suchen. So gingen sie ein Stückchen zusammen. „Nach der Kapelle!“ lasen sie vereint von einer befehlend ausgestreckten Hand ab. Es gab beiden einen Stich. Jedes hatte einmal gedacht, ob es mit dem andern wohl zum Altar gehen werde. Unwillkürlich folgten sie der Weisung. Vielleicht fanden sie dort Gabriele.

An dem Rand des Berges führte der Pfad hin. Der schrille Pfiff einer Lokomotive tönte herauf; durch das lichte Gezweig der Bäume sahen sie die schwarze Rauchfahne wehen. Der nächste Zug würde ihren Begleiter entführen – Ilse dachte es mit wehem Herzen, sie wurde noch blasser. So waren sie bis an das alte Heiligtum gekommen. Langsam traten sie in die von Moos überwachsenen Mauern ein. Totenstille herrschte; nur das Federgras, das seine Fähnchen über dem versunkenen Steinboden schwenkte, flüsterte leise. Und wie drüben beim Blutkreuz, war hier an der Stätte, wo einst das wunderthätige Holzkreuz gestanden hatte, ein Christdorn aufgesproßt und nickte mit seinen Knospen ihnen entgegen.

„Da ist das erste Röschen aufgeblüht,“ sagte Holl. Seine Stimme brach ab. Ja, die Zeit hatte die Rosen pünktlich gebracht! Und beide dachten an dasselbe – an die Stunde, da Gabriele das Wort sprach: „Zeit bringt Rosen.“

Da hörte Holl einen Ton, den er lange nicht vernommen hatte – er wandte sich um, bis ins Herz getroffen. Vor dem Röschen stand Ilse, die Hände vor die Augen gedrückt, und weinte.

„Fräulein Großheim!“ Sie schluchzte noch viel mehr. „Ilse!“ kam es leise von seinen Lippen. Er zog ihr sanft die Hände von dem Gesicht. Das Antlitz von Thränen überströmt, sah sie ihn an. Es war wieder ganz die Ilse Großheim, die nicht wog und überlegte, sondern ihren Gefühlen sich überließ.

Und an diese Ilse Großheim richtete Holl plötzlich die Frage: „Wollen Sie meine Frau werden, Ilse?“

Da legte sie beide Hände in die seinen und sagte, durch die Thränen lächelnd: „Ja, es soll das letzte Mal sein, daß ich thu’, was ich will.“ Und nun kam doch der Augenblick, da sie ihre Arme um seinen Hals schlingen und an seinem Herzen sich geborgen fühlen durfte. Auch das erste Röschen wurde ihr eigen: der Bräutigam steckte es ihr selbst in den Gürtel.

Auf stillen Bergpfaden ging sie, an ihn geschmiegt, nach dem Festplatz zurück; dort fiel sie Gabriele um den Hals und flüsterte ihr so lange ins Ohr, bis die Freundin sie auf die Stirn küßte, Holl die Hand drückte und dann das eine Brautpaar dem andern zuführte.

Ueberrascht sahen die Herren sich an. „Also doch noch das verwirrte Whistspiel zu glücklichem Ende geführt?“ fragte Holls blitzender Blick. „Also doch einmal einem gefaßten Entschluß untreu geworden?“ lächelte es aus Schersens Augen.

Man ging zu Tisch wie alle die andern Gäste, die schon um die Tafel sich reihten. Die jungen Herren der Badegesellschaft trösteten sich bei den übrigen jungen Mädchen über Ilses Verlust, der Referendar mit seinem Seidel.

„Wieder einmal ein echt deutsches Mahl,“ sagte die Gräfin. „Aus der Erdbeerbowle, dem mit Wachholder gewürzten Rehbraten duftet der deutsche Wald wie aus der Ananas die afrikanische Glut. Was meinen Sie,“ wandte sie sich an Schersen, „zu einem gebratenen Fußknorpel vom Nashorn, einem Filet vom Zebra?“

„Ich verzichte an meinem künftigen häuslichen Herd ebenso darauf wie auf die Negersprache im Boudoir,“ erwiderte dieser lachend.

„Wo haben Sie dieses absonderliche Menu gehabt, Frau Gräfin?“ fragte Holl.

„In Sansibar“ erwiderte sie. „Aegypten war mir doch zu sehr von der Kultur beleckt. Erst als ich auf einer Barke die Niltour bis zum zweiten Katarakt machte, sah ich endlich ein Krokodil – angebunden im Strom. Ich schloß mich dann einer Gesellschaft an, die einen Ausflug nach unseren ostafrikanischen Kolonien unternahm.“

„Haben Sie sich da nicht gefürchtet, Frau Gräfin?“ rief Ilse. „Vor den Schlangen und den Menschenfressern?“

„O, dort war alles sicher,“ erwiderte Swanta. „Weit hinein trifft man auf europäische Ansiedelungen. Ein Schulhaus, in dem ein Missionär unterrichtet, ist an der Stätte erbaut, wo noch vor fünfzehn Jahren ein Häuptling die Expedition ermorden ließ, bei der auch ein junger deutscher Geolog, Eduard Haller, seinen Tod fand.“

Vergeblich hatte Schersen, der das Ende ahnte, sie unterbrechen wollen. Gabriele war blaß geworden. Aber sie wiederholte doch mit seltsam leuchtenden Augen: „Ein Schulhaus!“

Schersen flüsterte Swanta die Erklärung zu, und sie sah nun bestürzt zu Gabriele hinüber. Aber diese reichte ihr die Hand. „Haben Sie Dank für Ihre Botschaft! Eduards Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Er hat neue Bahnen erschließen helfen, auf denen die Kultur nun ihren Weg geht. Es giebt auch weiße Rosen. Eine solche hat ihm und mir die Zeit gebracht.“

Es war still an der Tafel geworden. Nur ein leises Wehen, das den Duft des frischen Eichenlaubes hereinführte, war vernehmbar. Aber Gabriele wollte nicht, daß der erste Glückstag den jungen Paaren wehmütig ausklingen sollte. Sie faßte nach dem Römer.

Lassen Sie uns noch einmal anstoßen auf mein Lieblingswort! Wir haben es in mannigfacher Weise erfüllt gesehen, und ich möchte es Ihnen mitgeben als hoffenden Wunsch und tröstliche Verheißung. Wenn wir so mutig unseren Idealen zustreben wie die gethan, die da droben das Denkmal bauen lassen, so arbeitsfreudig wie die, deren schwielige Hand den schweren Pflug unverdrossen in die Erde drückte, bis sie ihnen frei gehörte, so selbstlos wie jene“ – ihre Stimme wurde leise und bebte –, „über deren Gräbern im Dunklen Erdteil jetzt das Evangelium der Liebe verkündet wird, dann dürfen wir sicher darauf hoffen, daß auch für unser Streben die Rosen sich entfalten werden.“

Sie hatten sich alle erhoben. Die Römer klangen aneinander.

Während dann die beiden Paare, in der Abendkühle langsam hinwandelnd, besprachen, was ihnen jetzt wichtig war: daß Schersen von der Gräfin sich mit entführen lassen sollte zu ihren Gastfreunden, Holl seiner Braut auf dem Fuß folgen würde, um von ihren Eltern das Ja zu erbitten, stieg Gabriele zum alten Turm empor, um dort die Sonne untergehen zu sehen.

Die andern blickten zuweilen zu ihr hinauf. Sie sahen die lichte graue Gestalt zu Füßen des alten Bergfrieds, wo sie sich niedergelassen hatte, das Gesicht dem flammenden Abendhimmel zugewendet, und sie sagten sich, daß sie jetzt weile in dem Lande, wo ihre Rosen blühten – in dem Lande der Erinnerung.


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