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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Ilse sah ihn finster an. Das Höchste? Allen, die ihr bisher huldigten, war sie das Höchste, und dieser Hauptmann, den sie auszeichnete, erklärte, daß ihm ein Paar breiter roter Streifen oder das stumpfe Karmoisin des Generalstabs die Hauptsache im Leben sei. Er kam ihr beschränkt vor, aber das Herz that ihr weh dabei.

Da wurde die Einleitung zur Française gespielt, die das Fest beschließen sollte. Auf die Bitte des Vorstandes hatte Holl übernommen, dieselbe vorzutanzen und durch allerhand Kotillontouren zu erweitern. Er trat zu Ilse und verbeugte sich. Ihre Lippen waren zusammengepreßt, die blauen Augen wichen ihm aus. Sie ließ ihn eine Sekunde warten. Er schüttelte leise den Kopf.

Gabriele sah ihn voll Teilnahme an. Neben ernster Mahnung meinte sie in seinen Augen noch einen anderen Ausdruck zu lesen, eine tiefe Zärtlichkeit, die dem Mädchen an seiner Seite zu sagen schien: das Liebste bist Du mir doch. Aber das Wort kam nicht über die spröden Lippen.

Nachlässig reichte ihm Ilse die Hand. Seine Brauen zogen sich zusammen, er wurde ungeduldig. Unverweilt führte er sie in das Carré und rief mit lauter Stimme die erste Tour aus.

„Jetzt sind Sie ganz in Ihrem Element, Sie kommandieren,“ spottete Ilse, vor ihm balancierend.

„Es ist leider immer notwendig,“ antwortete er, den Pas zu einem energischen schnellen Schritt umwandelnd.

„Aber man braucht nicht zu gehorchen,“ stieß sie heraus.

Er reichte ihr die Hand zur Tour des mains. „Wer sich mit mir – sei es auch nur zu einem Tanz – vereint, muß bereits die Entscheidung getroffen haben, meine Führung anerkennen zu wollen.“

Sie zuckte die Achseln. Sein Kopf reckte sich höher. „Zweiter Herr, erste Dame: en avant deux!“ rief er so befehlend, daß Ilse unwillkürlich gehorchte und davonflog. Aber plötzlich besann sie sich. Und ihr Kleid mit gespreizten Fingern fassend, hopste sie, die regelrechten Pas bis zur Karrikatur übertreibend, dem Referendar entgegen, der sofort eine Darstellung von Hirsch in der Tanzstunde gab. Alle lachten. Nur Holl sah mißbilligend zu.

„Soll ich vielleicht zur Strafe nachexerzieren?“ warf Ilse hin, sein strenges Gesicht mit kurzem bösen Blick streifend, während die andere Seite die Tour ausführte.

Er blickte ihr fest in die Augen. „En avant quatre!“ Dann sagte er, scheinbar auf den Tanz hindeutend: „Ist es nun nicht Zeit, vernünftig zu werden?“

„Ach, Vernunft, wohin sie gehört!“ rief Ilse, ihm die Hand entziehend. „Ein Ball ist keine Arbeit, sondern ein Vergnügen. Ich will mich amüsieren.“

Es wetterleuchtete in den dunklen Augen. „Herrenronde!“ kommandierte er, in dem Ton eines Feldherrn, der meuterischen Truppen gegenübersteht, und gab dem Bürgermeister und dem Ingenieur die Hände. Die Musik spielte aus dem Troubadour:

„Lodernd zum Himmel
Steigen die Flammen!“

Nach dem feurigen Takt chassierte Ilse als rosiger Kopf der Damenschlange um die Herren herum – und plötzlich zur Saalthür hinaus.

Einen Augenblick führte Holl noch seine Partei, die Rückkehr der Damen erhoffend. Dann blieb er stehen, als gedenke er auf dem Parkett festzuwurzeln. Nur ein finsterer Blick richtete sich hinaus. Die andern Herren schauten ebenfalls dahin.

Wie bunte Riesenschmetterlinge flatterten die Damen, geführt von Ilse, in den dunklen Laubgängen hin; bald schimmerte blaue Seide in einem Mondenstrahl, bald glühte eine dunkelrote Schärpe im Licht einer Laterne auf. Gleich sprühenden Funken umschwärmten aufsteigende Leuchtkäfer weiße duftige Gestalten. Noch eine Sekunde hielt die jungen Männer das Beispiel des Vortänzers im Zaum. Dann über stoben sie hinaus, allen voran der Referendar. Leichte Schreie ertönten. Die Mütter erhoben sich und eilten ihren zerstreuten Küchlein zu Hilfe. Eine allgemeine Verwirrung entstand.

Da kam der ganze Schwarm der Mädchen und jungen Frauen hereingeflattert, wie verfolgt vom Habicht. Ilse voran, glühend, vom raschen Lauf das Gelock verwirrt, das Kleid am Gebüsch zerzaust.

Im selben Augenblick winkte Holl die Musik ab und führte Ilse stumm auf ihren Platz zurück.

„Aber der Tanz ist noch nicht zu Ende,“ widersetzte sie sich.

„Ich habe das Ende befohlen,“ antwortete er kurz, nahm die Hacken zusammen, verbeugte sich nach allen Seiten und verschwand. Dagegen trat Frau Kern an Schersens Arm in die Mitte des Saales und schlug, eine Partie nach der Höhle vor. Der neue Plan dämpfte die Aufregung über Ilses Streich.

„Dann wäre morgen der einzige Tag, der sich dafür eignete,“ erklärte der Bürgermeister. „Denn übermorgen haben wir mit den Vorbereitungen zum Kyffhäuserfest zu thun.“

„Also morgen, meine Herrschaften!“ verkündigte Frau Kern.

Gabriele konnte sich nicht ausschließen, da alles so harmlos verlief. Von Schersen geleitet, der ihren weißen Mantel trug, begab sie sich nach Hause, bedrückt und stumm. Auch er sprach nicht. Aber auf seinen Zügen lag eine liebenswürdige Siegesgewißheit: ihre Seelen verstanden sich auch im Schweigen. Und das war gerade das Höchste, Süßeste.

Ilse ging trotzig nebenher. War es denn möglich, was sie erlebt hatte? Umkrempeln, ducken lassen sollte sie sich! „Nun, Herr Hauptmann, Sie sollen mich kennenlernen!“ murmelte sie ingrimmig.

Holl war hinausgestürmt ins Freie. Es war ihm unmöglich, zur Ruhe zu gehen. Der Widerstand, den Ilse ihm entgegensetzte, machte ihn rasend. Zum erstenmal scheiterte sein Wille, seine Ueberlegenheit, und gerade diesmal hatte er sich selbst mit eingesetzt. Sein Mannesgefühl war verletzt bis zu einer Empfindung von Schmerz. So wie sie jetzt war – nein, nein! Eine solche Frau – unmöglich! Wie sollte er die Sammlung des Geistes bewahren, deren heute jeder benötigte, der vorwärts strebte, wenn er zu keiner Zeit vor ihren übermütigen Streichen sicher sein durfte? Woher die Zeit nehmen, um einzudämmen, wo sie überschäumte, aufzuklären, wo sie mißverstanden wurde? So blieb ihm nichts übrig als abzubrechen und zu versuchen, bei dem Bataillon, das er in der Kürze zu führen bekommen würde, die Sache zu vergessen. Es war ihm, als würde seine Brust zusammengeschnürt. Er mußte tief Atem holen.

Der Duft von allen den Blüten, die in die warme Juninacht ihr traumhaftes Leben hauchten, drang ihm bis ins Herz. Ein Summen und Knistern erfüllte die Luft, hervorgebracht von Myriaden unsichtbarer Insekten, von Knospen, die ihre Hülle sprengten; manchmal trat das tiefstimmige Brummen eines vorübersausenden Nachtschmetterlings stärker hervor, um gleich wieder unterzugehen in dem allgemeinen unzerlegbaren Geräusch dieser verheißungsvollen Werdezeit. Da zog ein goldiger Funke über das hohe weite Himmelszelt, das über das Thal sich spannte. Ilse rief dabei immer: „Ich wünsche mir – ich sage nicht, was!“ Er sandte einen Seufzer hinauf. Energisches Aufstampfen mit dem Fuß sollte ihn widerrufen. Zum Kuckuck! Konnte er nicht aus der Schlappheit heraus? Was war ihm früher der Sternenhimmel gewesen? Das viereckige graue oder blaue Stück über dem Kasernenhof, an den er in den letzten Tagen gar nicht mehr gedacht hatte. Ueberhaupt – wohin war es mit ihm gekommen? Wenn ihm sonst nur die Signale auf dem Exerzierplatz wichtig dünkten, so interessierte ihn jetzt schon ein „Tack, tack!“, „Trätsch, trätsch!“

Seine Gedanken hielten an bei der Erinnerung. Er sah wieder das Köpfchen an seinem Gesicht und wie sie davonlief. Die Zorneswellen legten sich. Sie war doch ein echtes sprödes unschuldiges Mädchen. Lohnte es nicht die Mühe, einen letzten Versuch zu machen? Vielleicht kam sie zu sich – eine Nacht lag dazwischen – am andern Tag steht man immer den Ereignissen besonnener gegenüber.

Langsam ging er seiner Wohnung zu.


Eine Reihe von Wagen rollte am nächsten Nachmittag durch die sammetweichen Wiesen, wo würdevoll der Storch spazierte und am Flüßchen die backsteinrote Mühle behaglich klapperte, der Höhle zu, über deren Eingang die wüste Falkenburg sich erhob.

Still und ernst lehnte Gabriele in den Polstern eines Landauers, wo sie mit einer Dame aus dem Chor der Mütter und mit Schersen Platz genommen hatte. Die Träumerei von gestern war verflogen, ihr Blick klar geworden, wie sie es ersehnte. Als der Baron ihr heute entgegengetreten war, die Augen strahlend von sonniger Heiterkeit, um den Mund einen Zug von lachendem Glück, ein Bild schöner Jugendlichkeit, die etwas Rührendes hatte, da wußte sie, daß sie der Entscheidung nicht mehr ausweichen durfte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_786.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2023)