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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

zu schweben schien! Wie klar die Stirn, um die in schöner Linie das braune Haar sich legte! Wie schwermutsvoll das Profil, das er auf dem Heimweg manchmal zu erblicken vermochte! Warum schwermutsvoll? Hatte sie ein Grab getäuschter Liebe in der Seele?

Bei dem Gedanken umwölkte sich seine Stirn. Eher wollte er annehmen, daß sie es schmerzlich empfand, nie ein anderes gleichgestimmtes Wesen gefunden zu haben. Innere Einsamkeit macht immer melancholisch. Wie mußte es beseligend sein, diese leise Trauer zu besiegen!

„Kommen Sie mit zu Tisch?“ fragte Holls kräftige Stimme zur Thür herein. „Drüben in der Kastanienvilla rückt schon die ganze Besatzung ab.“

Schersen sprang auf – ein paar Bürstenstriche Über den aschblonden Scheitel, dann eilig den braunen Sammetrock übergestreift – in Civil liebte er den Künstlerstil – und mit seinem leichten federnden Schritt ging er davon.


Tack, tack! lockte es zärtlich von dem Jelängerjelieber her, der mit Tausenden kleiner grüner Sonnenschirme und rötlicher Füllhörner die Holzbogen an der Veranda des Hauses überspann, in dem die beiden Offiziere wohnten. Auf schwankender Ranke schaukelte sich eine Grasmücke. Trätsch, trätsch! zankte es aus einem der liederlichen Nestchen, wie sie dieses Sängervölkchen sich zu bauen pflegt.

„Tack, tack!“ ahmte eine Menschenstimme nach. Auf den Fußspitzen trippelte Ilse heran. „Ein Vogelnest!“ rief sie vergnügt.

„Jawohl, leider!“ antwortete Holl, und sein schwarzer Kopf bog sich von dem duftigen Luginsland zu ihr herab. „Ein so leichtsinnig gegründetes Hauswesen, daß es nächstens die Katzen werden gefressen haben. Das Ding hängt ganz schief. Ein Wunder, daß das unordentliche Weib samt seinen Eiern noch nicht herausgefallen ist.“

„Eier sind drin?“ unterbrach ihn Ilse, ganz Freude, ganz Neugier, und schlich näher. „Ich thu’ Deinen Kindern nichts,“ tröstete sie treuherzig den kleinen Vogelmann, der, ein dunkles Zornkämmchen auf dem gesträubten Kopf, hin und herflatterte.

Holls sonst so scharfer kühler Blick wurde warm. „Wollen Sie das Nest sehen, dann bitte ich, heraufzukommen.“

Sie sprang die Stufen empor. Aus der heißen hellen Sonne trat sie in das dichte Schattengeflecht, in dem eine grüne Dämmerung waltete. Sie waren allein; Stille umgab sie.

Er hob vorsichtig die Ranken auf; sie bog sich hinüber. „Sehen Sie?“ flüsterte er.

Tief in ihr so scharf getadeltes Nest gedrückt, saß die Vogelmutter; ein gesprenkeltes kleines Ei guckte allerdings durch das baufällige Gefüge der Grashalme. Ilse hielt den Atem an; immer näher kam das gespannte rosige Gesichtchen.

Da streifte die Spitze des schwarzen Schnurrbarts ihre Wange.

Sie fuhr zusammen, heiß errötend bis auf den runden Arm, der unter den Spitzen des Aermels sichtbar wurde, und ohne Abschiedsgruß rannte sie plötzlich davon.

Beklommen atmend ging Holl in sein Zimmer. Aber er griff nicht nach dem inzwischen angelangten Militärwochenblatt. Erregt über seine Verwirrung schritt er hin und her. Wenn er bisher Andere verliebte Thorheiten begehen sah, konnte er das Gefühl nie loswerden, daß er sich in ihre Seele hinein zu schämen habe; er verachtete die Männer, die sich von Weibern bestricken ließen. Und nun erlebte er, daß seine sonst unerschütterliche Selbstbeherrschung ihn zu verlassen drohte um eines rosigen Backfischchens willen. So ging’s nicht weiter! Jetzt hieß es: entweder den lebhaften Verkehr einstellen, den Badeaufenthalt abkürzen, oder – oder? Es lag eine unwiderstehliche Verlockung in diesem Oder. Warum auch nicht? Sie mußte freilich erst erzogen werden. Aber gerade bei dieser Aussicht richtete er sich unternehmungslustig auf. Er gehörte zu den preußischen Offizieren, denen von Friedrich Wilhelm dem Ersten her etwas vom Schulmeister anhaftet. Er hatte den Ruf eines guten Erziehers. Die jungen Fähnriche, die in seine Kompagnie eintraten, bildete er alle zu tüchtigen Offizieren heran. Und mit welcher Liebe hingen sie schließlich an ihm! Warum sollte er nicht auch bei dem netten Mädel Erfolg haben?

Mit einer Freude, die ihm die Gefahren des Weges, der zum Herzen führt, verhüllte, vertiefte er sich in seine erzieherische Aufgabe. Kein Gedanke kam ihm, daß seine strenge Lebensführung, die ihm nicht Zeit gelassen hatte, im Verkehr mit den Frauen Erfahrungen zu sammeln, ihm jetzt zur Klippe werden könnte. –

Drüben stand Ilse vor ihrem Toilettespiegel und strählte ihr Haar, daß es knisternd auseinanderstiebte wie ein leuchtender Kometenschweif. Sie sah ihr glühendes Gesicht nicht, ihre Gedanken waren noch bei dem eben Erlebten. Sie überhörte, daß Gabriele fragte, warum sie so erregt sei; ihr Herz klopfte, daß ihr das Blut in den Ohren sauste. Warum war sie denn nur so außer sich? Sie hatte sich geärgert darüber, daß „er“ sogar ein Vogelweibchen zur Arbeit kommandieren wollte; alles sollten die Frauen thun: kochen, sich beherrschen, selbst das Haus bauen! Ja, ja, sie hatte sich geärgert – das war’s!

Gabriele wiederholte die Frage nicht, als sie keine Antwort erhielt. Ihre eigenen Angelegenheiten nahmen sie mehr und mehr in Anspruch. Sogar über die Kleidung mußte sie sich den Kopf zerbrechen. Seit Schersen jenes gelbe Sträußchen zwischen sich und ihr geteilt hatte, trug er stets ihre Farbe wie der Diener die seiner Herrin. War sie weiß gekleidet, steckte eine Gardenie an seinem Rock; mit ihrem Veilchenhütchen korrespondierte bei ihm das Sträußchen der jetzt so seltenen Blumen. Als sie endlich schwarze Spitzen wählte, gelang es ihm, ein fast ebenso dunkles Stiefmütterchen aufzutreiben. Und wenn dann ihr Gruß und Wesen zurückhaltend wurde, schien er so unbefangen, der Plauderton, den er anschlug, so harmlos, daß sie meinte, sich lächerlich zu machen, wenn sie die kleine Huldigung, die dem Weltmann Gewohnheit war, wichtig nahm. Wo sollte sie auch Farben finden, die in der Blumenwelt nicht vertreten waren? Täglich erschlossen sich Tausende von Knospen. Unter den Buchen, die wie freundliche Krausköpfe von den Bergzügen grüßten und frischen Waldesatem bis in die verbautesten Gäßchen sandten, sproßten Maienglöckchen und bunter Frauenschuh auf. Blaue Vergißmeinnicht säumten das Flüßchen, das seine bräunlichen Wellen der Stadt so harmlos zutrieb, als sei nie von silbernen Flußbändern gesagt und gesungen worden. Die Gärten, welche die Landhäuser umgaben, wurden eng von den sich aufbauschenden Schneebällen, den gleich gelben Schleiern wehenden Blüten des Goldregens.

Nur die Rosen im Garten zeigten noch nicht die königliche Blüte, streckten dagegen gleich zierlichen Krallen die Dornen aus, dem Guerillakrieg entsprechend, der von Holl und Ilse zwischen ihren Hochstämmchen ausgefochten wurde. Er hatte ganz planmäßig seine Erziehung begonnen, und sie wehrte sich mit dem Trotz eines verwöhnten Kindes. Schon das erste Begegnen war immer ein Kampf, obgleich beide sichtlich danach strebten, es herbeizuführen. Spähenden Blickes streifte Ilse rastlos durch die Promenaden. Frau Kern, die täglich neue Vergnügungspläne entwickelte, seit sie in Ilse einen Magneten für die Herrenwelt entdeckt hatte, erhielt einsilbige oder verkehrte Antworten von ihr. Wenn jedoch Holls hohe Gestalt auftauchte, seine Augen schon von weitem über die Köpfe hinweg sie faßten, schien sie ihn gar nicht zu sehen, begann sie plötzlich die lebhafteste Unterhaltung, und sei es gleich mit Lolo und Lulu, die sie nicht leiden konnte. Währenddem wartete Holl, überlegen lächelnd, bis sie sich endlich ihm doch zuwenden mußte, verwirrt, erregt, atemlos, um seinen Gruß zu erwidern. Aber es kam auch vor, daß er Gleiches mit Gleichem vergalt, sie ebenfalls nicht bemerkte und nur Gabriele respektvoll grüßend davonging. Dann schlich Ilse verdrießlich nach Haus unter dem Vorwand, der schwüle Jasminduft habe ihr Kopfschmerzen verursacht.

Als sie bei einem Nachmittagskonzert ein Kleid von violett und orange schillernder Plüschgaze trug, das allerdings der Mode, aber nicht einem feinen Geschmack entsprach, sagte er, sich verbindlich verbeugend: „Ich bin sehr erfreut, daß Sie es sind, Fräulein Großheim. Ich fürchtete schon, das Regenbogenbanner des seligen Münzer spuke!“

„Von einem Regenbogen kann bei solcher Trockenheit nicht die Rede sein,“ versetzte Ilse schlagfertig.

Am nächsten Tag stürmte sie alle Blumenhandlungen, um eine Garnitur von frischen brennend roten Geranien zu bekommen, mit der sie die Ballonärmel, die zierlichen Einsätze ihres blaßroten Foulardkleides verzierte, das sie bei der allwöchentlich wiederkehrenden Tanzunterhaltung tragen wollte.

Fernher tönte bereits Musik.

Drüben trat Holl im Gesellschaftsanzug heraus, zog die Uhr, warf einen Blick herüber und ging dann stracks davon. Schersen folgte zögernd, knöpfte an den Handschuhen und sah sich immer wieder um.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_771.jpg&oldid=- (Version vom 21.9.2023)