Seite:Die Gartenlaube (1894) 736.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Marthakirche waren die ansehnlichen Wirtshäuser, in denen auch die „Zechen“ der Singschule stattfanden, insbesondere der „Heilsbrunner Hof“, als Schaustätten bevorzugt. Bei der wachsenden Beliebtheit der Sachs’schen Stücke entstand dann das Bedürfnis nach größeren Schauplätzen. Es ward Sitte, die großen Höfe dieser Gasthäuser dafür zu benutzen, wo die bedeckten Galerien an deren Rückseiten vortreffliche Plätze für die Zuschauer boten. Besonders der Hof des bereits genannten Gasthauses, des Heilsbrunner Hofs, erfreute sich großer Gunst. Ein alter Kupferstich, der uns eine Ansicht desselben bei besetzten Galerien übermittelt, hat einem unserer künstlerischen Mitarbeiter die Grundlage geboten für eine Darstellung des frohen Treibens und der drastischen Spielweise, wie sie sich dort zur fröhlichen Fastnacht während der Aufführung eines Schwanks von Hans Sachs im Publikum und auf der Bühne geltend gemacht haben. Man spielt gerade eines der hervorragendsten geistvollsten Fastnachtsspiele, die uns der Dichter hinterlassen hat: das Spiel von der „Frau Wahrheit, die niemand herbergen will“. Ein armes Weib sucht Schutz bei Bauersleuten, die auch arm sind. Sie erzählt, wie sie überall vergeblich, bei Fürsten, Priestern, Richtern, Kaufleuten, Bauern, Unterkunft gesucht, aber keine gefunden habe. Sie wird von den armen Leuten freundlich aufgenommen. Es ist die Wahrheit. Als sie aber nunmehr ihr Wesen enthüllt, d. h. ihren Wirten die Wahrheit sagt, werden auch diese sehr bald gegen sie aufsässig und jagen sie mit derben Grobheiten und Schimpfreden davon.

Die Stoffe zu seinen Dichtungen entnahm Sachs übrigens nicht nur dem täglichen Leben, der Bibel und seinen Erlebnissen, er war auch in der Geschichte des Altertums und den klassischen Dichterm wohl bewandert, kannte die deutsche Heldensage und war im Alter wohl überhaupt einer der belesensten Menschen seiner Zeit. –

Hans Sachs im 81. Lebensjahr.
Nach der Radierung von Jost Amman.

Die äußeren Lebensumstände des Dichters waren von Gott gesegnet. Als 1561 seine erste Frau von dieser Welt abberufen wurde, fand der hohe Sechziger in der schönen gutherzigen Jungfrau Barbara Harscherin eine zweite liebevolle Hausfrau, die sein Alter verschönte und deren Lob er mit jugendfrischer Begeisterung sang. Er überlebte auch diese. Gewohnt hat er als selbständiger Bürger nacheinander in drei Häusern, die ihm zu eigen gehörten. Zuletzt, seit 1542, lebte er nach einer Darlegung, die wir in Mummenhoffs reich illustrierter Festschrift finden, in dem Hause „sant Sebalds Pfarr an der Spitalgassen vornen im Eingang gegen Mittentag“ „und hinten am Kappenzipfel stoßend.“ Unsere Abbildung desselben nach einer Radierung aus dem Jahre 1832, in welcher Zeit es noch das Gasthaus zum güldenen Bären war, zeigt seine äußere Erscheinung noch wenig verändert. Jetzt trägt es eine Gedenktafel und die Gasse führt den Namen des Dichters.

Im Jahre 1554 war er des Dichtens müde geworden und wollte seine Thätigkeit beschließen: da erschienen ihm im Traume die neun Musen, und Melpomene wies auf die himmlische Gabe hin, die sie ihm verliehen:

„Deshalb bistu aufs Mindst
Dieweil du lebst in unserm Dienst
Verbunden und verpflicht.“

Und er dichtete in seltener Regsamkeit bis an sein seliges Ende. Am 19. Januar 1576 beschloß Hans Sachs, „der weitberühmt Dichter“, sein arbeitsvolles fruchtbares Leben, tief betrauert von dem Volke, auf das nach Luther keiner einen solch gewaltigen Einfluß ausgeübt hatte wie er. Die Liebe und Verehrung des Volkes waren wohl die einzige Anerkennung, die Hans Sachs für sein Wirken gefunden. Die Gleichgültigkeit des Rats und der Honoratioren seiner Vaterstadt wird er mit philosophischem Gleichmut getragen haben; wenn Albrecht Dürer aus Venedig schreiben konnte: „Hie bin ich ein Herr, daheim ein Schmarotzer,“ so darf dieses Uebersehen dem Schuhmacher gegenüber noch weniger auffallen.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ward des Dichters noch ziemlich lebhaft gedacht; die Jämmerlichkeit des Dreißigjährigen Krieges, die allenthalben sich breit machende Verwelschung aber brachte Hans Sachs bald in Vergessenheit. Die mit französischen und italienischen Brocken übersättigten Dichter vermochten den urdeutschen Geist dieser Dichtungen nicht mehr zu verstehen – sie hatten nur Spott für Hans Sachs. Der abgeschmackteste aller Verse, von dem „Schuh–Macher und Poet dazu“, stammt aus dieser traurigen Epoche. Noch im 18. Jahrhundert ward Sachs so verkannt, daß der sittlich strenge, aller Völlerei abholde Dichter von einem englischen Künstler als „lustiger Niederländer“, seine Frau als eine ausgelassene Grete dargestellt wurde.

Da brachte Goethe unseren Dichter wieder zu Ehren. Gerade 200 Jahre nach dem Tode von Hans Sachs schrieb Wieland an Lavater, um ihm das Erscheinen von Goethes „Erklärung eines alten Holzschnittes vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung“ anzukündigen: „Haben Sie schon gewußt, daß Hans Sachs würklich und wahrhaftig ein Dichter von der ersten Größe ist? Ich weiß es erst seit 6 bis 8 Wochen. Wir beugen uns alle vor seinem Genius, Goethe, Lenz und ich. O die Teutschen, die stumpfen, kalten, trägherzigen Teutschen! … Doch noch wollen wir sie nicht schimpfen; den meisten ist’s mit Hans Sachsen wohl wie mir gegangen – sie haben ihn nie gekannt, nie gelesen, nie gesehen. Aber Wahrheit muß doch endlich durchbrechen; in weniger als 4 Monaten a dato soll keine Seele, die Gefühl und Sinn für Natur und Empfänglichkeit für den Zauber des Dichtergeists hat, in Teutschland seyn, die Hans Sachsens Nahmen nicht mit Ehrfurcht und Liebe aussprechen soll.“

Und dank diesem gewaltigen Fürsprecher sieht man seit dieser Zeit in Hans Sachs nicht mehr den Schuster, der auch Reime schmiedete, sondern den gottbegnadeten Dichter, den liederreichen Sprossen des thatkräftigen deutschen Bürgertums, der den größten Einfluß auf sein Volk nur in allerbestem Sinne ausübte und immer größer und liebenswerter wird, je näher man ihn kennenlernt.

Die Vaterstadt des Hans Sachs erfüllt daher nur eine Ehrenpflicht, wenn sie im Begriff steht, die vierhundertste Wiederkehr des Geburtstages ihres große Sohnes, „des größten deutschen Dichters jener ganzen Epoche“, „eines der fruchtbarsten überhaupt, unter dessen heiteren Stücken nicht wenige zu dem Gelungensten gehören, was die deutsche Poesie in dieser Art aufzuweisen hat“ (Koberstein), des Dichters, „dessen Poesie eine humanistische Volkslehre ist“, der „ein Reformator in der Poesie so gut wie Luther in der Religion, wie Hutten in der Politik ist“ (Gervinus), dessen „Poesie zur Ehre Gottes, zum Nutzen des Nächsten, zu Lob und Preis der Tugend und zum Troste trauriger Herzen“ (Gödeke) dienen soll – festlich zu begehen. Der Mann verdient es, daß das ganze deutsche Volk, das ganze Bürgertum an dieser Feier teilnimmt.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_736.jpg&oldid=- (Version vom 20.9.2023)