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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

doch jedesmal imstande gewesen, diese Wege aufzudecken und sich zu überzeugen, daß es sich bei der Verwandlung der Kräfte überall nur um einen Wechsel der Form, nicht aber um einen solchen des Inhaltes handelt. Schwindet die Kraft in einer Form, so erscheint sie dafür sicher in einer anderen; und wo sie in neuer Form erscheint, da sind wir auch sicher, daß eine ihrer andern Erscheinungsformen verbraucht ist.

Unter allen Naturkräften, welche wir kennen, ist nun aber die Wärme die allgemeinste und verbreitetste Form von Kraft. Sie kann nicht bloß aus allen uns bekannten Kräften gewissermaßen hervorgelockt, sondern auch in alle zurückverwandelt werden. Wo man früher Kraft recht augenscheinlich verloren glaubte, da war sie gewiß in Wärme übergegangen. Besonders wichtig ist die Beziehung der Wärme zur Bewegung oder zur mechanischen Kraft, für welche Beziehung zahllose Beispiele vorliegen und von welcher auch die große Entdeckung der Erhaltung der Kraft ihren Ausgangspunkt genommen hat. Daher man jetzt die Begriffe von „Kraft“, „Bewegung“ und „Wärme“ in physikalischem Sinne für gleichbedeutend ansieht.

Gerade von dieser wichtigen und gewissermaßen die Grundlage aller andern Kräfte bildenden Wärmekraft sendet nun aber die Sonne trotz des überaus geringen uns zukommenden Anteils an ihrer Gesamtwirkung alljährlich so riesige Mengen zur Erde nieder, daß man damit eine über die ganze Erdoberfläche gelagerte Eisrinde von 30 Metern Dicke würde zu schmelzen imstande sein. In einem Zeitraum von etwa sechzehnhundert Jahren würde die Sonnenwärme hinreichen, um alles Wasser der Oceane verdampfen zu lassen, wenn dasselbe keinen neuen Zufluß erhalten würde.

Daß diese gewaltige Wärmemenge einem ebenso gewaltigen Vorrat von Arbeit oder Kraft entspricht oder entsprechen muß, dürfte nach dem oben Gesagten klar sein; man hat diese Kraftmenge auf die ungeheuere Zahl von 228 Billionen Pferdekräften berechnet. Man hat weiter berechnet, daß die Wärme einiger Quadratmeter der Sonnenoberfläche hinreichen würde, um alle Dampfmaschinen, welche auf der ganzen Erde im Betrieb sind, zu unterhalten.

Wenn auch die Erde nicht alle ihr auf diese Weise von der Sonne zuströmende Kraft zu ihren Zwecken verbraucht, sondern eine große Menge davon wieder als Wärme in den kalten Weltraum zurückstrahlt, so findet doch der größte Teil eine sehr praktische Verwendung und Aufspeicherung, welche sich schon in den Vorbedingungen des Lebens in einer Weise geltend macht, daß ohne sie Leben überhaupt eine Unmöglichkeit wäre. Der für das Bestehen aller luftatmenden Wesen unbedingt notwendige Kreislauf des Luftmeeres und dessen ununterbrochene Strömungen verdanken ihr Dasein ebensowohl der Sonne, wie die für die Existenz aller im Wasser lebenden Tiere nicht minder notwendige Beförderung der Luft durch alle Tiefen der Gewässer mit Hilfe der die Meere nach allen Richtungen durchfurchenden Meeresströmungen, oder der für alles Leben auf der Erde unentbehrliche Kreislauf der Gewässer. Denn die Sonnenkraft ist es, welche bewirkt, daß das durch ihre Strahlen verdampfte Wasser in die Luft steigt, sich in Wolken sammelt und als Regen, Schnee, Tau, Reif, Hagel u. s. w. wieder niederfällt, um Quellen, Bäche, Flüsse und Ströme zu speisen. Wenn man nur die durch allgemeine Wasserverdunstung an der Erdoberfläche geleistete Arbeit der Sonne künstlich nachahmen wollte, so würde man dazu soviel Brennmaterial verwenden müssen, wie nötig wäre, um eine ganze Billion Dampfmaschinen, jede von sechzehn Pferdekräften, in Bewegung zu halten.

Wenn somit schon Leben überhaupt ohne diese von der Sonne abhängigen Vorbedingungen auf der Erdoberfläche undenkbar ist, so wird diese Abhängigkeit von ihrer mächtigen Herrschaft noch viel deutlicher, wenn wir das Leben selbst ins Auge fassen. Wir sind, geradeso wie die Quellen, Bäche und Flüsse, von denen die Rede war, Sonnenkinder oder lichtgeborene Wesen, und zwar, nicht bloß in bildlichem, sondern in ganz wörtlichem oder mechanischem Sinne. Wenn wir hungrig sind, ist es die Sonne, welche uns speist. Wenn wir durstig sind, ist es die Sonne, welche uns tränkt. Wenn wir Arbeit verrichten, einerlei, ob körperlich oder geistig, ist es wiederum dieselbe Sonne, welche die dafür erforderliche Kraft liefert oder leiht.

Denn wenn wir uns – um dies im einzelnen deutlich zu machen – die Frage vorlegen: woher kommt die Kraft unserer Muskeln, mit denen wir körperliche, oder die Kraft unseres Gehirns, mit dem wir geistige Arbeit verrichten? – so lautet die Antwort des Physiologen: aus dem Blute, welches allen Organen unseres Körpers ununterbrochen die ernährenden Stoffe zuführt und ohne dessen steten Zu- und Abfluß deren normale Thätigkeit keinen Augenblick würde bestehen können.

Fragen wir weiter: woher kommt das Blut? – so lautet die Antwort: aus dem Milch- oder Speisesaft.

Fragen wir weiter: woher kommt der Speisesaft? – so lautet die Antwort: aus den Speisen, welche entweder pflanzlicher oder tierischer Art sein können. Da nun aber die Fleischfresser oder Fleischesser von den Pflanzenfressern leben und daher tierisches Leben in letzter Linie ohne pflanzliches eine Unmöglichkeit ist, so erscheint die Pflanze als letzte und einzig wirkliche Quelle aller auf der Erde vorhandenen Nahrung.

Fragen wir nun endlich: woher kommt die Pflanze? – so lautet die Antwort so bestimmt wie möglich: unmittelbar von der Sonne!

Denn Licht und Wärme sind die Nahrung der Pflanze. Unter dem Einfluß dieser zwei mächtigen Naturkräfte, welche aber nur eine einzige Kraft bilden, da Licht nur eine besondere Form der Wärme darstellt, zersetzt die Pflanze bekanntlich die Kohlensäure der atmosphärischen Luft derart, daß der Sauerstoff frei und der Kohlenstoff in dem Gewebe der Pflanze, deren Hauptbestandteil er bildet, festgelegt wird. Oder – mit anderen Worten – die lebendige Kraft der Sonnenstrahlen wird in die ruhende oder Spannkraft der von der Pflanze erzeugten Stoffe umgewandelt. Diese Stoffe nähren nun das Tier. Tier und Pflanze nähren den Menschen – abgesehen davon, daß der durch den geschilderten Prozeß des Pflanzenwachstums freigemachte Sauerstoff das unentbehrliche Lehenselement aller luftatmenden Wesen bildet.

Also genießen wir in der Pflanze oder dem Tier, das von ihr gelebt hat, ein Stück Sonnenwärme oder Sonnenlicht oder Sonnenkraft und erzeugen damit alle Kraft unseres Leibes und Lebens. Wir können daher mit vollem Recht sagen, daß die Sonne, indem sie unsere Speisen erzeugt, auch die einzige und letzte Quelle aller von unserem Körper entwickelten Kräfte, Bewegungen und Thätigkeiten ist. Wir sind – um es zu wiederholen – im wahren und vollen Sinne des Wortes Sonnenkinder.

Vielleicht könnte jemand den Einwand erheben, daß, wenn wir uns (mittelbar oder unmittelbar) von Pflanzen nähren würden, welche allenfalls in einem Treibhause mit Hilfe künstlicher Wärme und künstlichen Lichtes erzeugt worden wären, wir eine Arbeit oder Kraft entwickeln würden, welche nichts mit der Sonne zu thun hätte. Aber eine sehr einfache Ueberlegung zeigt, daß alle jene Mittel oder Stoffe, mit deren Hilfe wir das Treibhaus erwärmen und erleuchten möchten, wie Holz, Torf, Kohle, Gas oder Petroleum, in letzter Linie nur von der Sonne geborgt oder geliehen sein können. Namentlich sind jene riesigen Steinkohlenfelder im Innern unserer Erde, welche uns jetzt das meiste Brenn- und Leuchtmaterial (mittelbar oder unmittelbar) liefern, und ohne welche unsere ganze Kulturentwicklung in Frage gestellt sein würde, nichts anderes als das Werk jener vorweltlichen Sonnenstrahlen, welche vor Millionen von Jahren über den ehemaligen Steinkohlenwäldern brüteten. Die Kraft, welche die Dampfmaschine treibt oder die schnaubende Lokomotive mit ihrer angehängten Last spielend über die Schienen dahinjagt, ist nichts anderes als ein Tropfen Sonnenwärme oder Sonnenlicht, der ehemals in eine Pflanze umgewandelt, alsdann in die Erde eingesargt, mit Schutt, Steinen und Lehm bedeckt und heute wieder durch die Hand des Menschen dem dunkeln Schoß der Erde entrissen wurde, um von neuem in Licht und Wärme umgewandelt zu werden. Daher die Lokomotiven von den Gelehrten mit Recht den poetischen Namen der „Sonnenrosse“ erhalten haben.

Auch mechanische, chemische oder elektrische Kräfte, mittels deren wir allenfalls versuchen möchten, das Treibhaus zu erwärmen und zu beleuchten, müssen entweder unmittelbar oder auf dem Wege der Kraftumwandlung von der Ur- oder Grundkraft der Sonne abstammen, welche die Atome des Weltäthers in Bewegung setzt und in allerletzter Linie wahrscheinlich gleichbedeutend ist mit der der Sonne innewohnenden Gravitation oder Anziehungskraft.

„Alle Kräfte der Erde, alle Aeußerungen des Lebens,“ sagt der berühmte englische Physiker Tyndall ebenso poetisch wie wahr,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 700. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_700.jpg&oldid=- (Version vom 25.3.2023)