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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

es ihr gewesen, als senke sich eine rosig leuchtende Wolke auf sie herab – ein unendlich wohliges Gefühl, eine süße Mattigkeit; irgend etwas raubte ihr die Besinnung, den Atem, als sollte sie ersticken, und dann? Dann war sie aufgefahren, hatte sich allein im Zimmer gefunden, bis plötzlich Frau von Weßnitz vor ihr stand.

Es war ja am Ende nichts Außerordentliches dabei, ein kaltes Bad morgen früh würde ihre Nerven wieder in Ordnung bringen. Und dennoch überkam sie plötzlich ein Ekel vor sich selbst; es war ihr, als sei eine Veränderung mit ihr vorgegangen, als sei ihr ganzes Wesen von einer Leidenschaft erschüttert, die ihr fremd war und sie erschreckte. Und mit einmal blitzte der Gedanke in ihr auf: Hermann von Weßnitz war zuletzt bei dir! Er wird seine Schwägerin gerufen haben. Habe ich mich verraten? Hat er irgend etwas von dem bemerkt, was in mir vorging?

Sie sprang auf. O, sie wollte ihm zeigen, daß sie genau so war wie früher!

Rasch ordnete sie ihren Anzug mit Hilfe der herbeigerufenen Zofe. Ein Blick in den Spiegel. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, der Teint war grau. Sie kühlte die schmerzende Stirn mit einem angefeuchteten Tuch und verließ das Zimmer, einen herben leidenden Ausdruck in ihren Zügen.

An der Thür zum Tanzsaal blieb sie stehen. Dort wirbelten die Paare durcheinander in rauschendem Reigen. Man lachte, man plauderte, dazwischen Sporenklirren und Gläserklingen. Dort tanzte Lore mit Prinz Sissi; ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten, Leben und Lebensdrang sprach aus jeder ihrer Bewegungen, während ihr schöner Körper nach dem Klange der Musik sich wiegte. Hermann war nicht zu sehen.

Ein Narrenhaus! dachte Edda, und dennoch regte sich in ihr der Wunsch, auch so als „Närrin“ mitthun zu können, ohne Besinnen unterzutauchen in diesen Strom. Ein Herr forderte sie zum Tanz auf und sie mußte über sein erstauntes Gesicht lachen, als sie erklärte, nicht tanzen zu können.

„Gut, dann gestatten Sie mir, Ihnen einige Minuten Gesellschaft zu leisten. Wünschen Sie irgend eine Erfrischung? Sie sehen ermüdet aus.“

„Nein, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Dame des Hauses, die dort am anderen Ende des Saales eben zu tanzen aufhört, sagen wollten, sie möchte mir meinen Vater hierherschicken.“

„Mit größtem Vergnügen.“ Der Herr eilte weg.

Hermann war inzwischen in das Rauchzimmer gegangen, wo er Eddas Vater im Kreis älterer Herren wiederfand. Das scharfgeschnittene Gesicht des Doktors leuchtete aus dem Tabaksdunst hervor. Man schien eifrig zu debattieren und Helm hatte offenbar mit seinem schlagenden Witz die Leitung der Unterhaltung an sich gerissen.

In der Thüre erschien jetzt auch Lore und winkte dem Schwager mit einer Handbewegung.

„Edda ist wieder ganz wohl,“ flüsterte sie ihm zu, als er zu ihr trat. „Sie sitzt dort drüben im Nebenzimmer ohne Gesellschaft und wartet auf ihren Papa, der aber wohl schwer aus seiner lebhaften Unterhaltung hier loszureißen ist. Du könntest ihr wohl indessen Gesellschaft leisten.“ Sie nickte ihm freundlich zu und er eilte davon, dem ihm von Lore bezeichneten Zimmer zu, demselben, in dem er vorhin mit Edda zusammengewesen war. Diese hatte ihn schon von weitem kommen sehen. Sie saß auf dem gleichen Sessel wie vorhin und dennoch schien sie eine andere zu sein, so verändert war ihr Aeußeres, der Ausdruck ihres Gesichts.

„Sind Sie wieder ganz wohl, Fräulein Helm? Ich habe mich selten in einer so hilflosen Lage befunden.“

Edda lächelte unwillkürlich. Dieser Gegensatz zwischen der hohen kraftvollen Erscheinung und der selbsteingestandenen Hilflosigkeit! Sie mußte daran denken, welch ein verblüfftes Gesicht er bei ihrer Ohnmacht gezeigt haben mochte.

„O, es war nur eine Kleinigkeit! Aber ich bedauere, Ihnen einen Schreck eingejagt zu haben.“

„Daß es nichts Ernstes war, bemerkte ich schon,“ sagte Hermann verlegen. „Uebrigens sitzt Ihr Herr Vater sehr vergnügt im Rauchzimmer und unterhält alle Anwesenden!“

„Ich habe schon Lore bitten lassen, ihn hierherzusenden. Würden Sie nicht die Güte haben, ihm mitzuteilen, daß ich jetzt gern nach Hause möchte? Ich denke, für ihn wie für mich ist es genug, Mitternacht ist lange vorüber.“

Wortlos ging er hinaus. Man tanzte den Kotillon. Er nahm einen Strauß frischer Maiglöckchen und rief dann den alten Doktor. Edda kam den beiden Herren, als sie miteinander zurückkehrten, schon aus der Garderobe entgegen, eingehüllt in einen weiten grauen Mantel und um den Kopf einen dichten schwarzen Schleier, unter dessen Falten ihr Gesicht fast geisterbleich hervorleuchtete.

Hermann war erstaunt über den seltsamen Ausdruck dieser Züge. Man muß sich bei ihr immer aufs neue zurechtfinden! dachte er, während er sie zum Wagen führte.

Als sie schon Platz genommen hatte, reichte er ihr das Sträußchen. „Eine kleine Erinnerung an den heutigen Abend!“

Sie griff mit einer verwirrten linkischen Bewegung nach den Blumen. „Ich danke. Gute Nacht, Herr von Weßnitz!“

Ein kurzer Händedruck, dann rollte der Wagen davon.

„Ein netter gescheiter Kerl, dieser Weßnitz! Mir lieber als der Bruder! Ein Mann von gutem Schrot und Korn, der fest in seinen Schuhen steht,“ sagte Doktor Helm, sich in seinen Pelz wickelnd.

Edda schmiegte sich schweigend in die Wagenecke. Sie drückte die Hand fest um das kleine Sträußchen, führte es empor und senkte, tief atmend, das Gesicht darauf hinab. Wie ein schmeichelnder Traum umfing der Duft der frischen Blumen ihre Sinne.

„Thorheit!“ flüsterte sie dann plötzlich, mit einem hastigen Ruck ließ sie das Fenster herab und warf die Blumen hinaus.

„So schließe doch das Fenster!“ murmelte ihr Vater halb schlaftrunken.

Edda erwiderte nichts, die Lippen fest aufeinander gepreßt, zwischen den Augen eine tiefe Falte, starrte sie durch die trüben Fensterscheiben, gegen die der Wind prasselnd Schnee und Regen schleuderte. – –

Als Hermann in die Gesellschaftsräume zurückkehrte, rüsteten sich die Gäste schon zum Aufbruch. Er selbst fühlte sich übellaunig und abgespannt. Lore stand mit müdem Gesichtsausdruck in einem Kreise von Herren und Damen und nahm von jedem einzelnen mit mühsam stets neubelebtem Lächeln die Versicherung entgegen, daß der heutige Abend reizend gewesen sei.

„Gute Nacht, Lore!“ sagte ihr Schwager, von rückwärts an sie herantretend.

„Bitte, bleib’ noch einen Augenblick!“ flüsterte sie ihm hastig zu, und gutmütig trat er wieder zurück. Als sich die Flügelthüren hinter dem letzten Gaste geschlossen hatten, schlug Lore plötzlich beide Hände vor das Gesicht, das gleichmäßige Lächeln der letzten Stunden verlor sich mit einmal, und sich rasch zu Hermann wendend, rief sie nerväs aus:

„Mein Gott, ist das ermüdend und geisttötend! Hast Du einige Minuten Zeit für mich? Bruno kann wie gewöhnlich kein Ende finden und hat noch einige Freunde zu einem Spiel in sein Rauchzimmer geführt.“

Sie gab einem Diener den Auftrag, zwei Tassen Kaffee zu bringen, und ging dann, ohne Hermanns Zustimmung abzuwarten, voran in ihr Boudoir, dort warf sie sich wie gebrochen auf einen Sessel.

„Du glaubst nicht, wie ich mich von hier fortsehne!“ begann sie, Hermann eine Tasse Kaffee reichend. „O, nur hinaus aus diesem ekelhaft übertünchten Gesellschaftsflitter, aus diesem Wirrwarr von gleichgültigen Menschen mit geschwätziger Liebenswürdigkeit, nur vier Wochen hinaus aus der Stadt, um zur Ruhe zu kommen, meinem Kinde zu leben!“

Hermann blickte sie mitleidig an, sie that ihm aufrichtig leid. Wenn er daran dachte, wie sie als Mädchen war – still, genügsam, stets heiter und sorglos . . . und jetzt? „So mach’ doch kurzen Prozeß und geh’ mit Deinem Jungen auf zwei Monate nach Weßnitz!“ sagte er herzlich.

„Nach Weßnitz?“ wiederholte sie langsam seine letzten Worte wie jemand, der von einer lange vergessenen Heimat spricht. Vor ihrem Geist tauchte deutlich das Bild des alten viereckigen Gutshauses auf mit dem grünen Epheu an der Ostseite, mit seinen gemütlichen Zimmern und den glänzenden Mahagonimöbeln, und in dem Lehnstuhl am Ofen Brunos Vater im langen weißen Bart, mit der brennenden Meerschaumpfeife; auch der Winkel hinter der Hausthür, wo sie als Kinder im Zwielicht so oft zusammen kauerten und sich Räubergeschichten erzählten.

„Und Bruno soll ich hier allein lassen?“ fragte sie erregt nach einer kurzen Pause.

„Nun ja, warum denn nicht?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_535.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)