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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Natur zu studieren, damit das Dunkel erhellt werde, in dem die Naturgesetze ihr Wesen treiben. Einige studieren die Naturgesetze an den Himmelskörpern, andere durchforschen die unsichtbare Welt mit Hilfe des Mikroskopes, wieder andere messen Schädel und Knochen, etliche vertiefen sich in die Geheimnisse der Elektricität und des Magnetismus, noch andere durchwühlen den Grund der Erde nach Urkunden der Vorzeit ... ich hatte diesmal sechs Hyacinthenzwiebeln dritter Klasse zu demselben Zwecke.

Welche Verschiedenheit bot schon allein das Aeußere der Zwiebeln! Einige hatten weiße Schale, einige waren blaßrot, einige dunkelrot. Hiernach waren helle und dunkel gefärbte Blüten zu erwarten, vermutlich weiße, rötliche und dunkelrote oder blaue, mehr aber verrieten sie nicht.

Während ihres sommerlichen Wachstums hatten die Zwiebeln alles in sich aufgenommen, was zur späteren Ausbildung der Blätter und Blüten erforderlich ist, so ward jede ein Speicher von Baustoffen für die kommende Entfaltung der blühenden Pflanze. Außer diesen Baustoffen jedoch barg jede Zwiebel noch etwas ganz Geheimnisvolles: nämlich die Gesetzmäßigkeit, mit der die Stoffe sich aufbauen, daß gerade diese Art zustande kommt und keine andere. Die eine Art hat kleine Blütenglocken, die andere große, diese krümmt ihre fein geschnittenen Spitzen der Röhre zu, jene breitet ihre derben Zipfel flach aus, und große Mannigfaltigkeit giebt sich nicht nur in der Form, sondern auch in Farbe und Duft kund. So erkennen wir schon ohne viele Beobachtungskunst, daß in der Hyacinthenfamilie keine Gleichheit herrscht, und nur der Oberflächliche kann behaupten, eine Hyacinthe sei wie die andere, da doch das bißchen Form und Farbe nicht in Betracht komme. So wie dieser denken auch Theoretiker über Menschen. Sie denken sich Menschen zurecht: gute, böse, rechtspolitische, linkspolitische, und sind der Meinung, wenn man ihnen gleichmäßige Erziehung zuteil werden ließe, das Gute, Böse, Rechte und Linke auf einen Durchschnitt abrunde, dann wären die Gleichheitsmenschen nur eine Frage der Zeit. Ich schließe nach meinen Hyacinthen anders.

Diese hatten alle die gleiche Erziehung genossen; derselbe Gärtner hatte sie von klein auf gehegt und gepflegt, dasselbe Erdreich gewährte ihnen Nahrung, gleiches Maß an Sonnenschein, Schatten und Feuchtigkeit war ihnen geworden. Außerdem stammten sie von den Rummelsburger Hyacinthenfeldern und wurden als richtige Berliner Kinder der Heimat nicht entfremdet, als ich sie nach den Regeln der Kunst auf Gläser setzte, die mit Spreewasser gefüllt waren. Wie es sich gehört, blieben sie in dunkler Kühle, bis Bewurzelung und Blattbildung ihre Versetzung an das Licht zwischen Doppelfenstern gestattete. Alles dies geschah nach den Erfahrungssätzen, denn nicht allein über die Erziehung der Menschen sind viele Bücher geschrieben, sondern auch über die Pflege der Pflanzen, die sich von der sogenannten „Krone der Schöpfung“ meist durch Dankbarkeit unterscheiden.

Man hätte nun erwarten sollen, daß die Zwiebeln ihre Wurzeln alle in gleichem Zeitmaß herausgebracht hätten, etwa wie eine gut gedrillte Kompagnie die Füße vorstreckt; aber schon bei der ersten Entwicklung zeigte es sich, daß jede ihre eigene Gangart hatte, wenn man die Ausbreitung der Wurzeln so nennen darf. Es ist ein Gehen in die Tiefe, ein langsames Vorwärtsdringen.

Bei einer Zwiebel bildeten sich wenige, aber derbe Wurzeln, bei einer zweiten viele kräftige derbe. Daraus schloß ich, daß die erste einen starken Stengel mit wenigen Blüten, die andere einen solchen mit vielen Glocken hervorbringen würde. Ob diese Meinung richtig war, das mußte sich später ausweisen und so gewannen die Zwiebeln vermehrtes Interesse, wie ja auch ein Mensch uns um so näher rückt, je mehr wir imstande sind, die Entwicklung seiner Anlagen zu verfolgen, und die Erfüllung oder Nichterfüllung der auf ihn gesetzten Hoffnungen erleben.

Eine dritte Zwiebel sandte sehr viele feine Wurzeln aus, ich schätzte ihre kommende Blüte auf eine krausköpfige. Die vierte brachte beides: derbe lange Wurzeln und feine dichtgebuschte. Die fünfte glich der vierten, nur kamen ihre dünnen Wurzeln langsamer vorwärts. Nummer sechs aber rührte sich nicht. Das Wasser reizte sie nicht, Wurzeln auszusenden. Vielleicht war ihr ganzes Wesen auf Erdreich zugeschnitten, und im Topfe hätte sie mutmaßlich lustig getrieben. Mir fiel dies erst ein, als es zu spät war, und ich habe sie nie ohne Gewissensbisse betrachtet. „Du hast sie in Verhältnisse gebracht,“ sagte ich mir, „die ihrer Natur nicht zusagen. Sie ist eine Erd-Hyacinthe, und Du wolltest sie zwingen, gegen ihre Natur auf dem Wasser zu erblühen. Denk’ daran, wie manches Menschenkind elend vergeht, weil es in Verhältnisse gesetzt wird, die seinen Gaben, seinen Anlagen widerstreben. Einer, der ein tüchtiger Bauer geworden wäre, wird auf die Gelehrtenschule gethan, ein anderer, in dem die Gabe der Sprache schlummert, kommt in die Kesselschmiede, manch frisches Mädchen martern die Musikstunden bleichsüchtig und im Gerassel der Spinnmaschinen ertäubt vielleicht ein Mozart, und manches Menschenherz, das überselig in Liebe erblüht wäre, vergeht blütenlos, weil es nicht fand, wo es Wurzel schlagen konnte, obgleich ihm gegeben ward, was begehrenswert erscheint und ausieht wie irdisches Glück.“

Wenn die Hyacinthe wirklich fühlte, wie ich ihr zumutete? Daß sie überhaupt fühlte, war zweifellos, denn sie mochte das Wasser nicht, sie wollte Erde.

Nach und nach kamen die grünen Blätter und darin erschien der knospenreiche Stengel. Nur die sechste blieb zurück.

Eines Abends, es war um die Frostzeit, geschah es, da die Gläser nicht rechtzeitig weggenommen waren, daß sich Eis in dem Wasser bildete. Vor gänzlichem Erfrieren wurden sie gerettet, und als das Eis aufgetaut war, schienen sie nicht gelitten zu haben. Erst nach zwei Wochen ließ sich erkennen, daß die fünfte Zwiebel krank war. Bei den andern – mit Ausnahme von Nummer sechs – wuchsen die Wurzeln und blieb das Wasser klar, die fünfte jedoch hielt mit dem Wachstum der Wurzeln und Blätter inne und das Wasser wurde trübe und übelriechend. Ein Tropfen davon, unter das Mikroskop gebracht, wimmelte derart von Bacillen und gröberen Lebewesen, daß Verseuchung dafür ein viel zu gelinder Ausdruck gewesen wäre. Milliarden und aber Milliarden von Tierchen waren vorhanden, und die alle nährten sich von den Wurzeln der Hyacinthe. In den andern Gläsern waren auch Keime und Sippen derselben Tierchen, aber sie konnten den gesunden Wurzeln nichts anhaben: die Lebenskraft der Wurzeln war mächtiger als die Raubkraft der Lebewesen. Jene hielt alle Zellen mit ihrem Inhalte zusammen. Wo aber etwas abstirbt, wo das Leben nicht mehr bindet, da ist das Feld der Bakterien, da nähren sie sich, da mehren sie sich.

Die fünfte Zwiebel zeigte schon in dem feinen langsamen, gewissermaßen schwächlichen Wurzelwuchs, daß sie zart veranlagt war. Die anderen waren härter, die vertrugen den Frost, sie allein war angegriffen worden. Der Frost hatte in ihren Wurzeln Veränderungen bewirkt, die dem Stoffwechsel Hindernisse in den Weg legten, die Zellen waren erkrankt und auf die erkrankten stürzten sich nun die Tierchen.

Doch wozu ist die Wissenschaft, wenn sie nicht helfend und fördernd eingreift? Leben wir doch in dem Zeitalter der Antiseptica, unter dem Banner des heiligen Karbols und seiner Verwandten, sind doch Bacillenentdecken und Desinfizieren die Hauptpunkte, zwischen denen die Hygieine pendelt! Es ist nicht schwer, Bacillen zu töten, wohl aber macht es Schwierigkeiten, das richtige Gift zu wählen, wenn man mit den Schmarotzern nicht gleich den Wirt vernichten will, auf dessen Befreiung vom Uebel es doch ankommt. Karbol würde die Pflanze gemordet haben, desgleichen Salicylsäure. Quecksilbersalze waren von vornherein ausgeschlossen, da sie pflanzliches Leben leicht vernichten. Chinin ist aber auch ein Bakteriengift, es tötet die Fiebermikroben und ist fertig gebildet in dem Cinchonabaum. Daher dachte ich: was für den Fieberbaum kein Gift ist, wird der Hyacinthe auch nicht schaden, wohl aber die Horden der Lebewesen töten, die sich an ihren widerstandsschwachen Wurzeln vollfressen. Ich wusch die Wurzeln sorgsam, reinigte das Glas, goß frisches Wasser hinein, fügte ein wenig Chinin hinzu und senkte die Zwiebel wieder ein. Der Erfolg war der vorausgesehene. Das Wasser blieb klar, die Wurzeln blieben sauber, die Tierchen waren tot, sämtlich.

Die Wurzeln und das Wasser waren allerdings wunderschön, wenn man sich mit ihrem äußeren Anscheine zufrieden gab; wer aber den Teil der Zwiebel beobachtete, wo ihr Leben sich entfalten sollte, der merkte bald, daß sie totkrank war bis ins Innerste hinein ... vergiftet.

Während die gesunden Zwiebeln Blütenschaft und Blätter fröhlich heraustrieben, hielt die mit Chinin behandelte im Wachstum inne und ward jener Zwiebel ähnlich, die auf dem Wasser

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_526.jpg&oldid=- (Version vom 16.9.2023)