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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Ein dumpfes Krachen, ein Aufschrei aus allen Kehlen, ein stürzendes Gewirbel von Flammen, Rauch und Funken – und über der Stelle, die vor einem Atemzug den Mörder noch getragen, lag der glühende Trümmerhaufen, zu welchem Wazemanns Haus zerfallen war.

„Zu spät Deine Reue!“ stammelte der Mönch wie in heißem Erbarmen und sank zurück.

Sie fingen ihn auf, sie trugen ihn aus der Nähe der Glut und schleppten Kotzen und Felle herbei, um den Sterbenden weich zu betten. Doch Waldram wälzte sich auf die kahle Erde. „Mein Erlöser ist nicht auf weichen Fellen gestorben, auf hartem Holz! Leget ein Scheit unter meinen Rücken!“ Sie thaten ihm den Willen – und er lächelte wie ein Müder auf weichem Pfühl. Seine Hände suchten das Kreuz am Gürtel und das heilige Zeichen an die Wange schmiegend, lag er ausgestreckt und sang mit erlöschender Stimme den Ambrosianischen Lobgesang. Lautlose Stille war um ihn her, die bangen Blicke der Männer und Weiber hingen an seinen Augen, die in Verklärung leuchteten. Mit mattem Stammeln endete er das Lied, und als könnte er den seligen Augenblick des Todes nicht erwarten, so hob er sich mit zitternden Kräften auf die Knie, entblößte seine Wunde und hauchte lächelnd: „Was zauderst Du, meine Seele . . . fürchte Dich nicht, der Weg zu Deinem Heil steht offen!“ Reichlicher strömte sein Blut, die brechenden Augen noch emporgerichtet zu den verschleierten Sternen, fiel er zurück und seufzte.

Rings um den Toten lagen sie alle auf den Knien, und in das Rauschen der versinkenden Flammen mischte sich das Schluchzen der Frauen; die Männer knieten bleich und wortlos. Die wilden Herzen, welche der Lebende wohl nie gewonnen hätte, erschütterte dieser gottesfreudige Tod bis tief ins Innerste. Eines der Weiber küßte die Sohlen des Toten und schluchzte: „Hebet ihn auf, Ihr Mannerleut’, traget ihn zu seinem heiligen Haus!“ Die Männer folgten dem Wort, und während im Ring der verödeten Mauern die letzten Flammen in Glut und Asche sanken, stieg durch die Nacht ein stiller Zug über die Trümmerfelder nieder ins Thal, umgaukelt vom Lichtschein zweier Fackeln.

*  *  *

In der gleichen Stunde, in welcher Waldram den letzten Seufzer that, war Eherwein das Bewußtsein zurückgekehrt. Das Weinen des Kindes war der erste Laut, den er vernahm – und da füllte kein anderer Gedanke sein erwachendes Leben, kein anderes Bangen mehr seine Seele als nur noch die Sorge für dieses zitternde Geschöpfchen, das an seinen Hals geklammert hing und andere Sprache noch nicht hatte als Lallen und Thränen. Mit beiden Armen hielt er an seiner Brust das Kind umfangen – und ihm war, als hätte er das ganze Leben seiner Thäler dem Verderben abgerungen, als trüge er mit diesem Kind die neu ersprossende Zukunft seines zerstörten Landes auf den Armen und am Herzen. Mühsam mußte er in der dunklen Nacht zwischen einem Wirrsal gestürzter Bäume jeden Schritt seines Weges erkämpfen. Er wußte nicht, wo er sich befand; rings um ihn her zerstörter Wald, nirgends ein Lichtschein, kein Zeichen des Lebens. Er schrie mit allem Aufgebot der Stimme, doch alles blieb still in der Nacht. Endlich erreichte er eine freie Stätte und erkannte mit Freude und zugleich mit Schreck die Rodung, auf welcher die Klause stand. Vor seinen spähenden Blicken tauchte ein schwarzer Klumpen aus der Nacht: die ihres Daches beraubte Klause. Wankend erreichte er die Herdstube, in welcher die Kohlen noch unter der Asche glommen. Er schrie die Namen der Brüder, doch keine Antwort ertönte; er eilte von Zelle zu Zelle und fürchtete bei jedem Schritt, auf eine Leiche zu stoßen. Er fand kein Leben zwischen den öden Balken, doch auch kein Zeichen des Todes, und wie tröstende Hoffnung erwachte in ihm der Gedanke, daß die Brüder dem Verderben entgangen und ausgezogen wären, um Hilfe zu bringen, wo Hilfe noch möglich war. Zitternd trat er in seine Zelle zurück, streifte dem Kinde das nasse Kittelein ab und hüllte das schauernde Körperchen in die Decken seines Lagers. Dann saß er im Dunkel neben dem Kinde, dessen winzige Händlein einen seiner Finger umklammert hielten. Er konnte seinen Pflegling nicht sehen, so finster war es um ihn her; nur den leisen Druck der unruhigen Fingerchen spürte er und hörte von Zeit zu Zeit jenes stockende halbe Schluchzen, wie es nach überstandenem Schreck und Schmerz noch aus einer Kindesbrust sich ringt, wenn die Zähren schon gestillt sind. Die Händchen des Kindes begannen sich zu wärmen, immer ruhiger wurde sein Atem, und nach einer Weile entschlief es.

Eberwein saß in sich versunken, regungslos, erfüllt von wirrer Qual und kreisenden Gedanken, bis die kleinere Not des Lebens die größere seines Herzens übertäubte. Es fror ihn in der triefenden Kutte, all seine Glieder waren wie zerschlagen, und der Hunger mahnte. Seufzend erhob er sich, entzündete eine Fackel, tauschte das Gewand und suchte nach Speise. Nur ein Häuflein roher Bohnen fand er, trug eine Hand voll zum Lager des Kindes und zernagte die trockenen Kerne. Alles that er wie im Schlaf.

Der Schein der Fackel fiel über den Schemel, auf welchem das Heilige Buch lag. Eberweins Augen hingen an ihm mit verlorenem Blick. Dann plötzlich ergriff er das Buch, schlug es auf und begann mit murmelnder Stimme zu lesen, wie Hiob in Vorwurf rechtete mit seinem Gott. Doch bald erlosch ihm die Stimme wieder. Das Buch auf dem Schoße, saß er regungslos, mit schlaff hängenden Armen, und starrte ins Leere. Mit leisem Hauche strich der Nachtwind in die Zelle und legte die Blätter des Buches um. Als Eberwein die Augen senkte, lag ein Lied des Jesaia vor ihm aufgeschlagen, und sein Blick fiel auf die Worte: „Es mögen die Berge weichen und die Felsen stürzen, doch meine Gnade soll nimmer weichen von Dir und der Bund meiner Liebe nicht zerbrechen, spricht der Herr, Dein Erbarmer.“ Ein heißer Schauer rann ihm durch Leib und Seele. „Der Herr, Dein Erbarmer?“ Als möchte er sich gewaltsam aus dem Streit der Seele reißen, so sprang er auf, drückte die Fäuste an seine Stirn und stammelte: „Denke nicht über Gott, denn Dein Hirn ist Staub . . . fühl’ ihn, wenn es Dein Herz vermag, und hoffe!“

Der Hall seiner Stimme hatte den Schlaf des Kindes gestört. Durch das zarte Körperchen fuhr es wie jäher Schreck. Es zappelte mit Händen und Füßen und schlug die Augen auf – sie waren blau und glänzten. Das Mäulchen verzog sich, als wollt’ es weinen. In Sorge beugte sich Eberwein über das Lager, und da richteten sich die Augen des Kindes auf sein Antlitz, groß und scheu. Dann glitt wie traulicher Sonnenschein ein Lächeln über das runde Gesichtlein, und lallend griff das Kind – es hatte wohl einen flachsbärtigen Vater – mit beiden Händen in den Bart des Mönches. Diese süße Zärtlichkeit und der reine Glanz dieser unschuldsvollen Kinderaugen erweckte in Eberweins Seele ein Gefühl, so heiß und überwältigend, wie es der Sinkende wohl empfinden mag, den im Gebraus der Wellen die starken Arme des Retters umschlingen. „Herr! Herr! Nicht dem Greuel dieses Tages . . . ich glaube dem Wunder dieser Augen! Deine Liebe redet zu mir – ich fühle sie!“ Vor Freude weinend schloß er das kleine zappelnde Stücklein Leben an seine Brust und küßte in heißer Inbrunst die warmen Lippen des Kindes.




36.

Der Morgen graute. Hoch über den starrenden Ruinen des König Eismann stand am erbleichenden Himmel noch der zur Sichel schrumpfende Mond. Sein Schimmer, halb gebrochen durch das fahle Grau des erwachenden Tages, umwebte die neu entstandenen Zinnen und überspann die mit Eisblöcken und Felsenklötzen wirr besäten Trümmerstätten. Lautlose Stille lag über dem steinernen Leichenfeld. Nur zuweilen, auf den tieferen Schuttgehängen, klang das leise Kollern kleiner Steine – das vor dem Sturz entflohene Fahlwild und die verscheuchten Gemsen stiegen schon wieder zu Berg, und ruhelos klommen die Tiere im zertrümmerten Gestein nmher, ihre Heimstände und die gewohnten Aesungsplätze suchend. So fest wie in den Menschen des Hochlands wohnt auch in den Tieren der Berge das treue Hängen an der rauhen Scholle, auf der sie geboren wurden. Die höchste Gefahr nur macht sie fliehen – Felsen stürzen und begraben die liebe Stätte – kaum hat sich der Staub verzogen, so kehren die Entflohenen schon wieder zurück, um das neue Lager über den Trümmern zu wählen, die das alte bedecken. Und wie an der alten, so hangen sie wieder an der neuen Wohnstatt mit treuem ungebrochenem Vertrauen.

Neben dem sachten Geriesel des Schuttes, der sich unter den Tritten des ziehenden Wildes löste, neben diesem schüchternen Zeichen des wiederkehrenden Lebens unterbrach die Stille noch ein anderer Laut: ein Klirren wie vom Schritt eines eisenbeschlagenen Schuhes. Im Gewirr der Felsblöcke irrte ein Mensch umher, bald

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