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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


jener Stuhl ist bequem; Bruno pflegt da zu sitzen, wenn er wirklich einmal Zeit findet zu einem gemütlichen Plauderstündchen.“ Ohne zu bemerken, daß Hermann einen andern Sessel wählte, fuhr sie fort: „Du trinkst doch eine Tasse Thee, nicht wahr, und rauchst eine Cigarre? Es plaudert sich behaglicher. Gott sei Dank, daß Du Cigaretten nicht liebst! Seit unserm Pariser Aufenthalt hasse ich ihren Geruch, diesen Geruch, der gerade so süßlich aufdringlich ist wie die französischen Salonherren . . . obgleich – nun, amüsant können sie sein! Edgar, es ist Zeit für Dich ... geh’ zu Bett!“

Sie klingelte nach dem Kindermädchen.

„Daß die Franzosen noch mehr können, als amüsant sein, haben wir 1870 erfahren,“ meinte Hermann.

„Gewiß, ich weiß! Ich meine aber vorzüglich die Spielart von ihnen, die man in den Pariser Salons trifft.“

„Sollte die Sorte nicht international sein und überall zu finden?“

„Nicht so ganz, Hermann. Die andern bleiben doch im Grunde noch Männer. Nimmt man jedoch einer solchen Pariser Preisausgabe für Modezeitungen den äußeren Aufputz, so bleibt gar nichts übrig, kein Charakter, kein Gemüt, keine Liebe, höchstens etwas Eitelkeit und Vergnügungssucht.“

Lore plauderte das alles leicht hervor, während sie geschäftig die Tassen füllte und dem Diener einen Auftrag erteilte.

Hermann folgte ihren geschmeidigen Bewegungen mit den Augen. Eigentümlich, wie gut sie das Plaudern noch immer verstand! Es paßte alles zusammen – das gedämpfte Licht der Dämmerung, selbst ihre Toilette, die für ein Plauderstündchen unter guten Bekannten wie gemacht zu sein schien; nicht gerade elegant, aber doch sorgfältig genug, um den Besucher zü erinnern, daß er sich in Gesellschaft einer Dame der großen Welt befinde.

Jetzt kauerte sie selbst vor dem Kamin nieder und fachte dessen Glut mit einigen Holzscheiten wieder an. „Zu herrlich! Endlich wieder ein deutscher Winter und ein wohldurchwärmtes Zimmer mit einem guten Ofen, der uns zugleich die Illusion des Kaminfeuers läßt! Fühlst Du Dich behaglich, Hermann?“ Die Hände aneinander reibend, kam sie zurück und setzte sich ihm gegenüber.

„Riesig,“ sagte er nur.

Sie lachte vergnügt. „Das könnte kein Franzose so sagen.“

„Nun, Lore, erzähle mir von Euerem Leben in Paris! Du sprachst mir in Weßnitz nie davon.“

„Eigentlich war es abscheulich. Ueberall, wo man uns als Deutsche erkannte, finstere Gesichter. Immerhin gab es viele angenehme Kreise. Ich habe mich trotzdem nie recht heimisch gefühlt. Doch was half es? Auf Brunos Wunsch zwang ich mich in die ungewohnten Verhältnisse hinein. Bruno war entzückt von Paris; Du kennst ja seine Fähigkeit, selbst mit einem Gegner ein angeregtes, alle Klippen vermeidendes Gesprach zu führen.“

Sie machte eine Pause, als erwartete sie eine Antwort, aber ihr Zuhörer saß bewegungslos, stumm da und hob nicht einmal den Blick vom Muster des Teppichs.

„Ich bin viel allein gewesen in der ersten Zeit. Dann wurde unser Kleiner geboren, und später gewöhnte ich mich daran, kein Heim im deutschen Sinne zu haben, und ging jeden Abend aus, mit oder ohne Bruno.“

Sie schwieg wieder. Er sah sie an mit einem langen Blick, wie jemand, der von einer lieben Heimat Abschied nimmt, in der er glücklich gewesen ist.

„Hast Du keine Freunde gefunden, Lore?“

Ihre weißen Finger glitten langsam über die glänzenden, wie poliert erscheinenden Blätter eines Gummibaums neben ihrem Sitze. „Nicht daß ich wüßte! Oder doch! Ich habe einen Schatten, doch keinen wesenlosen, nein, einen Schatten von Fleisch und Blut; er ist aber ebenso beharrlich wie der schwärzliche Bruder des Lichts. Sieh mich nicht so an, Hermann, als wittertest Du irgend einen pikanten Pariser Roman! Mein Schatten nennt sich Prinz Nicolai Sarchentiwitsch und so weiter, russische Durchlaucht mit einem unaussprechlichen Namen, weshalb er von guten Bekannten Prinz Sissi genannt wurde. Bis zu seinem zwanzigsten Jahre in der Steppe unter Kosaken aufgewachsen, dann plötzlich in die Treibhausluft der Großstädte Petersburg, Wien, Paris verschlagen, ein Viertel Kind, ein Viertel Barbar und zur Hälfte ein Schwärmer. Er schriftstellert, macht Verse, schreibt Steppennovellen, die von Pariser Damen verschlungen werden, und spricht deutsch wie seine Muttersprache. Kurz, er ist ein Mensch, der schwer zu beschreiben ist.“

„Also, was man so eine gute Romanfigur nennt?“

„Nein, das nicht. Kein Mensch aus dem Dutzendbündel. Sehr reich, weiß er nicht, was er mit seinem vielen Gelde anfangen soll. Er giebt einem Bettler heimlich hundert Rubel und ist imstande, einen ganzen Tag das Essen zu vergessen, am Abend eine Brotrinde zu kauen und den nächsten Tag drei Diners hintereinander einzunehmen. Er war erst wenige Tage in Paris, als ich ihn in einer größeren Gesellschaft kennenlernte. Mir fiel seine Persönlichkeit auf, während er lange Zeit am Thürpfosten lehnte mit einem halb naiven, halb spöttischen Lächeln auf den Zügen. Seine großen grauen schwermütigen Augen gingen achtlos über das Gewimmel der Menschen weg. Er interessierte mich, daher fragte ich Bruno nach seinem Namen. ‚O, Du meinst Prinz Sissi?‘ sagte er. ‚Ein guter Bekannter von mir.‘ Kurz darauf stand er vor mir mit einer tadellosen Verbeugung, eine französische Höflichkeit auf den Lippen. Weshalb er so ernst dort am Thürpfosten lehne? Ob er noch unbekannt sei? fragte ich ihn. ‚Haben Sie das bemerkt, gnädige Frau?‘ fragte er zurück. Es war beinahe eine Ungezogenheit, aber man konnte ihm nichts übelnehmen. Ich bot ihm einen Platz neben mir an und nach einer Viertelstunde waren wir die besten Freunde, weil – nun weil ich ihn nach seiner Mutter fragte, die er nie gekannt hatte. Ich sei der erste Mensch, der sich teilnehmend nach seiner Mutter erkundigt hätte. Nun, und nachher wurde ich ihn nicht wieder los. Bruno fand nichts in unserem Verkehr, obgleich wir hier und da der Klatschsucht etwas zu thun gaben. Als wir vor einigen Monaten Abschied nahmen, sah er aus wie ein Junge, der aus den Ferien wieder in die Schule geschickt wird. Ich habe ihm befohlen, zwei Jahre zu leben, ohne mich zu sehen, aber er hat es nicht versprochen und ich fürchte, mein Schatten mit dem Tatarengesicht wird sich über kurz oder lang wieder melden.“

Sie schwieg sinnend und Hermann warf scheu einen Blick zu ihr hinüber. Lores leichter Plauderton und dann dieser Russe! Sein deutsches Gehirn konnte das nicht so rasch verarbeiten.

„So, genug von mir, Hermann! Was treibst Du eigentlich? Kriegsgeschichte? Ist das nicht entsetzlich langweilig für jemand, der mit dem Säbel in der Faust selbst geholfen hat, Geschichte zu machen? Willst Du hier in der Gesellschaft verkehren?“

Hermann drehte langsam die Cigarre zwischen Zeigefinger und Daumen. „Ich werde wohl müssen, besonders da ich jetzt zu einem Garderegiment versetzt worden bin.“

„Ah! Darf man Dich beglückwünschen?“

„Es gilt für eine Auszeichnung; mir aber legt es nur Pflichten auf. Ich hasse jede Art von großer Geselligkeit. Mit Fruchteis verdirbt man sich den Magen und mit den Gesprächen Kopf und Herz.“

„Was von beiden ist Dir mehr wert?“

Er zuckte mit den Achseln. „Ein verdorbener Magen läßt sich in Kissingen kurieren, aber von Heilstätten für triviale Köpfe habe ich nie etwas gehört.“

„O doch! Irgend eine große Leidenschaft.“

„Zu einem Weibe?“

„Ja!“

Es war dämmerig geworden und Hermann konnte ihre Gesichtszüge nicht mehr erkennen.

„Ich habe immer gehört, daß verliebte Männer noch unzurechnungsfähiger seien als der größte Dummkopf.“

„Aber nicht herzloser.“

Hermann schwieg, weil er nichts darauf zu erwidern wußte.

„Hast Du nie ein Mädchen gefunden, das Dich interessiert hätte?“

„Nein, niemals. Außer einer Luftturnerin in meiner Gymnasiastenzeit.“

Er versuchte absichtlich einen scherzhaften Ton, aber Lore machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung. Er kannte diese Gewohnheit, die sie schon als Kind besaß, wenn jemand ihr nicht ernsthaft zuhören wollte. Sein ganzes Wesen, die Absichtlichkeit, mit der er einer Antwort auswich, reizte sie. Ein unbezwinglicher Wunsch, in dies Männerherz einen Blick thun zu können, stieg in ihr auf. Sie dachte an das letzte Zusammensein in Weßnitz, auch sein eigentümliches Benehmen damals beim Abschied vor dem Feldzug fiel ihr plötzlich ein. Hatte dieser Mann wirklich einmal für sie gefühlt? An die Spielgefährtin der Jugendjahre in anderer Weise gedacht als an eine Schwester?

(Fortsetzung folgt.)




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