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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Er seufzte. „Wir sollten noch einmal umkehren –“

„Nein, nein! Wir sind gewiß schon sehr lange fortgeblieben. Die Zeit vergeht so rasch . . .“

Er umfaßte sie. „Dann schnell noch eine herzliche Umarmung –“

Sie wehrte nicht ernstlich ab. „Aber Du versprachst ja, ganz artig zu sein, bis die Eltern von allem wüßten.“

„Meinetwegen können sie sogleich erfahren –“

„Das geht doch nicht – der andern wegen. Es ist vielleicht besser, wir trennen uns jetzt, und Du – und Sie gehen von der anderen Seite um das Haus herum, damit man gar nicht merkt –“

Zu spät! Eben traten Schöneberg und Frau mit erhitzten Gesichtern hinter dem Gebüsch hervor und auf das Paar zu.

„Aber Martha!“

„Bombenelement! Was soll das bedeuten?“

Sie hatte sich erschrocken losgemacht und stand nun ganz feuerrot da, den Blick zur Erde senkend; der Maler faßte sich rasch. Eigentlich war es ihm ganz lieb, daß diese Ueberraschung zu einem Aussprechen auf der Stelle nötigte. Er lächelte, zupfte das Bärtchen, nickte Martha vergnügt zu und verbeugte sich vor den beiden Alten. „Herr Schöneberg –“

„Papperlapapp! Herr Schöneberg!“ fiel der aber zornig ein. „Sie sind ein hinterlistiger Mensch, Sie! Ich lasse meine Frau nicht malen und meine Tochter nicht umarmen – verstehen Sie?“

Vanhusen ließ sich nicht einschüchtern. „Aber wenn ich Ihnen sage –“

„Schweigen Sie und schämen Sie sich!“ rief der Rentier, indem er seine weiße Weste ruckweise über das runde Bäuchlein hinabzog. „Wie kommen Sie dazu, meine Tochter in den Wald zu entführen?“

„Das will ich Ihnen ja eben erklären, mein werter Herr.“

„Erklären! Sie wollen mir erklären? Sie mir? Das ist impertinent. Was sagst Du dazu, Rosine? Er will mir erklären –“

„Aber so schrei’ doch nicht so!“ mahnte sie. Es war ihr, als ob die spitze Nase der Frau Sekretär schon um das Gebüsch lugte.

Martha warf sich an ihre Brust. „Ach, Mama, wir lieben einander so sehr,“ rief sie.

Vanhusen trat vor. „Ja, Herr Schöneberg,“ bestätigte er, „ich liebe Fräulein Martha.“

„Das sollen Sie nicht, Herr!“ schrie der Alte ihn an. „Verstehen Sie mich? Lieben! Das kann jeder. Sie brauchen wohl zu Ihrem verlorenen Sohn noch eine verlorene Tochter? Was? Ist hier nicht zu haben – können Sie sich auch malen!“

Martha brach in Thränen aus. „Aber wir wollen uns doch heiraten,“ schluchzte sie.

Schöneberg faßte sie am Arm und schüttelte sie, als ob er sie aufwecken wollte. Dabei grinste er höhnisch. „Wollt Ihr? Das ist hübsch von Euch. Dazu gehör’ ich gewissermaßen aber doch auch noch, und die Mutter –“

„Na ja, ja!“ bedeutete die kluge Frau, „aber lärme doch nicht! Man kann’s ja in aller Ruhe . . .“ Martha streichelte ihr fortwährend das Kinn und die Schulter.

„Es war meine Absicht, Herr Schöneberg,“ sagte der Maler, „morgen bei Ihnen feierlich um die Hand Ihres Fräulein Tochter anzuhalten. Meine Verhältnisse –“

„Das werden nette Verhältnisse sein,“ unterbrach Schöneberg ihn, leiser, aber nicht weniger grimmig. „Ein Maler, ein –“

Es kam nicht zur weiteren Auseinandersetzung, denn in diesem Augenblick rief Frau Streckebein, die sich neugierig genähert hatte: „Aber wo ist denn nun Lieschen?“

Martha zuckte merklich zusammen. „Lieschen?“

Auch Vanhusen sah sich ganz verblüfft um. „Lieschen?“

„Herr Gott, ja! Wo ist denn Lieschen?“ wiederholte die Frau Sekretär dringlicher. „Man wird von alledem so baff . . .“

„Wo ist Lieschen?“ fragte nun auch Frau Schöneberg.

„Sie haben das Kind in den Wald mitgenommen,“ sagte Ida, die sich nun ebenfalls herangefunden hatte.

Martha stand ganz verwirrt da. „Ich – ich – ich –“ stotterte sie. Lieschen war wirklich nirgends zu sehen.

„Leugnen Sie nicht!“ donnerte die alte Dame. „Die Frau Wirtin hat es bemerkt. Mein Gott, und wir hofften schon –“

„Ja, ja – ich bat Lieschen, weil ich doch nicht allein –“

„Wo ist sie nun?“ riefen Schönebergs wie aus einem Munde.

„Ach – sie kam mit uns, und ich hatte sie eine Weile an der Hand, bis Albrecht –“

„Wer ist Albrecht?“ schrie Schöneberg sie wieder an.

„Herr Vanhusen, wollt’ ich sagen. Und dann setzten wir uns unter die alte Linde und flochten Kränze, und Lieschen pflückte Blumen –“

„Am Sumpf?“ fiel Frau Streckebein ein.

„Nein, auf der Wiese dicht nebenan. Und ich habe sie doch noch ganz zuletzt gesehen –“

„Ja, sie konnte sich gar nicht weit entfernt haben,“ versicherte der Maler. „Uebrigens dürfen wir ja nur die paar Hundert Schritte –“

„Wir haben unser Lieschen verloren“ jammerte Frau Streckbein. „Jetzt ist sie wirklich fort!“ Sie stützte sich auf Ida, die schon gar nicht mehr einen Einwand wagte.

In den nächsten Minuten herrschte eine beklommene Stimmung. Endlich rief Ida: „Da kommt Herr Opitz zurück.“

„Hat er sie?“ fragte ihre Mutter.

Ida zögerte mit der Antwort. „Nein – er kommt allein.“

„Allein?“

„Leider.“

Opitz kam ganz außer Atem angelaufen. Er hatte Lieschens Strohhut in der Hand. „Alles Suchen – in der Nähe – vergeblich,“ keuchte er. „Aber eine Spur wenigstens –“

Ida ging ihm entgegen. „Lieschens Hut!“

„Lieschens Hut . . .“ wiederholte die alte Dame fast tonlos. Jakob konnte nicht erschrockener gewesen sein, als man ihm Josephs bunten Rock brachte. Sie war einer Ohnmacht nahe.

„Wo fanden Sie den Hut?“ fragte Ida.

Opitz atmete stark. „Unter einer alten Linde. Es waren viele Blätter abgerissen und auf dem Grase verstreut. Lassen Sie mich nur erst – zu Atem kommen – ich bin so gelaufen, Ihnen die Nachricht zu bringen. Man weiß nun doch, in welcher Richtung ... Ich gehe gleich wieder – und ruhe nicht eher, als bis ich“ – er sah Ida zärtlich an – „bis ich unsere Tochter gefunden habe.“

„Sie guter Mensch!“ lohnte ihm’s Ida.

Er legte die Hand aufs Herz. „Ach, Frau Ida! Was mir beim Suchen so alles durch den Kopf gegangen ist – und durchs Herz . . .“

„Wir können ja mitgehen“ meinte Vanhusen, „und von der Linde aus nachforschen.“ Er wendete sich an Schöneberg. „Wenn Sie erlauben, daß Fräulein Martha mich begleitet –“

Der aber fauchte: „So eine Dreistigkeit – da hört alles auf! Nein, Martha bleibt hier und nimmt das Grünkraut ab. Wenn Sie damit nach der Stadt radfahren wollen, hab’ ich nichts dagegen. Gar nichts! Aber kommen Sie keinem Schutzmann zu nahe, rate ich Ihnen.“

Martha schluchzte laut: „Ach Gott! Ich habe das ganze Unheil angerichtet.“

„Ja,“ sagte Schöneberg, „mir ist das Kremservergnügen gründlich verdorben.“

Eben hatten die Männer einen Plan festgestellt, wie man den Wald absuchen wollte, als die Wirtin vom Hause her rief: „Der Zigeuner!“

Dieses Wort versetzte Frau Streckebein wieder in die schlimmste Aufregung. Sie eilte der Fraü entgegen. „Der Zigeuner? Wo? Haltet ihn, bindet ihn! Er soll sagen –“

„Aber er bringt ja das Kind,“ beruhigte die Wirtin.

„Er bringt das Kind – der Zigeuner ...“ Alles atmete auf.

Vom Walde her kam wirklich der Zigeuner. Er hatte Lieschen an der Hand. Frau Streckebein, Ida, Opitz, Frau Schöneberg liefen auf ihn zu und nahmen ihm das Kind ab. „Lieschen, bist Du’s wirklich – wo hast Du gesteckt – Lieschen, mein liebes Lieschen!“ Die Kleine flog aus einem Arm in den andern und wurde so lange stürmisch geherzt und geküßt, bis sie zu weinen anfing.

„Bring’ ich gnädige Herrschaften wieder kleines Fräulein,“ sagte der Zigeuner, mit dem ganzen Gesicht lachend. „Hat sich verlaufen in Wald und sehr geängstigen. Bin ich gekommen vorbei ganz zufällik und haben gleich gemerken, daß gehören hierher. Hat kleines Fräulein nicht wollen mitkommen, weil sich fürchten vor häßliches Zigeuner, aber gut zugereden und genommen an Hand und bringen hierher zu gnädige Herrschaften.“

Ida reichte ihm bewegt die Hand. „Dank, tausend Dank, braver Mann!“

Der Zigeuner hatte erwartet, daß sie ihm etwas zustecken

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