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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Er faßte den Arm der Greisin und riß sie hinter sich her, zum Kirchhof hinaus, hinunter auf den Karrenweg am Ufer der rauschenden Ache, dem stillen Wald entgegen und der Windach zu.




24

Es ging auf die Mittagsstunde; doch tiefe Ruhe herrschte in Wazemanns Haus. Das Geflügel war in die Ställe gesperrt, und im Zwinger saß ein Rüdenknecht, um die Hunde bei Ruhe zu erhalten. Das Gesinde, welches im Hof und im Unterbau des Hauses beschäftigt war, vermied jedes Geräusch, denn nach einer Nacht wie der vergangenen pflegten Wazemann und seine Söhne dem Lärm nicht hold zu sein.

Herr Waze lag in den Kleidern auf seinem Spanbett, einen nassen Bund um die Stirn, und kaute Schlehen, um den bitteren Pelz auf seiner Zunge mit Bitterkeit zu lösen. Zuweilen grub er das Gesicht in die Bärenhaut und drückte stöhnend die Fäuste an seine Schläfe. Herr Waze litt an Haarweh; wohl hatte er nicht viele Haare mehr, doch die wenigen schmerzten ihn doppelt.

Es wär ein hartes Stündlein für die alte Ulla, als sie zur Not die Herrenstube in Ordnung bringen mußte, um für Mittag die Tafel decken zu können. Bei dem leisesten Geräusch, das sie verursachte, flog eins von den Dingen, die in Herrn Wazes Armbereich nicht niet- und nagelfest waren, ihr an den Kopf oder um die Füße, begleitet von einem Fluch. Als sie die schwere Metbitsche brachte, drückte Herr Waze die Hände an den Kopf und kreischte: „Hinaus mit dem Gesöff! Mir graust! Und Ruh’ will ich haben, Ruh’, Ruh’! Man soll noch warten mit dem Mahl! Solang’ mich selber nicht hungert, braucht kein anderer zu fressen! Wo sind die Buben?“

„Sie liegen noch,“ flüsterte die Magd.

„So laß sie liegen! Und Recka?“

„Sie ist vor Tag zu Berg geritten.“

„Schon wieder! Einen Tag um den andern! Was stehst Du noch? Hinaus mit Dir!“

Ulla zögerte und fragte scheu: „Herr, soll man Zehrung in das Bußloch tragen?“

„Hinaus, hinaus!“ Alle Geschosse hatte Herr Waze schon versandt, nur der hölzerne Schemel vor dem Spanbett war noch übrig, doch eh’ ihn Herr Waze mit tappender Hand zu fassen bekam, hatte sich Ulla aus der Stube geflüchtet. „Zehrung in das Bußloch?“ Herr Waze saß halb aufgerichtet, stierte vor sich hin, griff nach dem Schlüssel an seinem Gürtel und lachte. „Zehrung? Wozu denn? Der Pfaff ist ja ans Fasten gewöhnt! Knurren soll er, mürb’ soll er werden, eh’ ich raiten will mit ihm! Und giebt er mir den Gadem nicht zu Lehen mit Brief und Siegel, mit einem Schwur bei seinem Heiligen, so soll er den Tag nicht wieder sehen! Ich will ...“ Seine Worte erloschen in einem Grinsen. Stöhnend drückte er die Fäuste an seinen brummenden Schädel und ließ sich zurücksinken auf die Bärenhaut. Nach einer Weile fiel er in Schlaf und schnarchte.

Um die gleiche Stunde verließ Eberwein das Fischerhaus, von Sigenot geleitet, der alte Senn’ und Wicho trugen eine Stangenbahre, auf welcher Huze ruhte. Als sie die Ache erreichten, faßte Eberwein die Hand des Fischers. „Weiter sollst Du nicht gehen mit mir. Kehr’ um und wahre Dein eigen Haus!“

„Das muß ein anderer wahren, der stärker ist als ich!“

Eberwein atmete tief, und eine matte Röte schlich über seine bleichen kummervollen Züge. „Ja, Sigenot, bei Gott ist alle Hilfe! Doch wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen und thatlos harren und rufen: jetzt zeige, Gott, wie stark Du bist! Wir müssen auch der eigenen Kraft vertrauen und müssen sinnen auf Schirm und Schutz vor unseren Feinden. Weißt Du mir einen sicheren Boten?“

„Wohin soll er Botschaft tragen?“

„Weit hinaus ins ebene Land, an den Hof des Bayernherzogs.“

„Mein Jungsenn’ hat lange Füß’ und ist ein treuer Bub’. Ich schick’ ihn Dir zum Lok’stein, wenn die beiden wieder heimkehren.“ Sie schieden. Sigenot stand und blickte ihnen nach, bis sie unter den Bäumen verschwunden waren.

Gesenkten Hauptes, versunken in den heißen Streit seiner Empfindungen und Gedanken, schritt Eberwein hinter der Bahre her. Er blickte nicht auf, als sie nahe den Halden der Schönau vorüberkamen, auf denen die Leute in Hast die letzten Garben von den Feldern räumten.

Reges Leben herrschte rings um den Hag des Richtmanns; doch die Knechte und Mägde sprachen nicht, sie rührten nur die Arme und warfen zuweilen sorgenvolle Blicke hinauf in das finster treibende Gewölk. Der Schönauer überwachte die Ladung der Karren und zählte die Garben, und jeden Karren, der in den Hag gezogen wurde, geleitete er bis zum Thor; dort stand er immer eine Weile und blickte mit kummervollen Augen nach seinem Buben. Ruedlieb saß auf der Steinbank unter den Eichen, die Arme um seine Knie geschlungen, regungslos ins Leere starrend. Einmal rief ihn der Vater an: „Liebli, willst nicht auch ein lützel mit zugreifen?“

Der Bub’ schüttelte nur den Kopf; seufzend kehrte der Richtmann aüf die Felder zurück, doch es währte nicht lange, so trieb es ihn wieder in die Hofreut. Er ging auf Ruedlieb zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und rüttelte ihn. „Wach’ auf, Liebli, wach’ auf! Das ist ja kein Leben nimmer seit gestern. Mag daraus werden, was will – das kann ich nimmer länger mit anschauen! Und wenn Dir die Arm’ so tot sind, daß Dich kein Schaffen freut ... schau’, ich weiß Dir einen Gang: geh’ ein lützel in Heimgart zum Rötli und sag’ der lieben Dirn, daß ich sie grüßen lass’!“

Ruedlieb sprang auf, und die Zähren schossen ihm in die Augen, während er die Hände seines Vaters drückte.

„Aber wenn Du gescheit bist,“ sagte der Richtmann, „so thust Dich noch gedulden bis auf den Abend. Der Tag ist unser Feind, die Nacht hat bessere Weg’.“

Da nickte der Bub’, und unter einem stockenden Atemzug dehnte sich seine Brust. „Weis’ mir Arbeit an, Vater! Die Zeit vergeht mir flinker, wenn ich schaff’!“

„Ja, Liebli, komm!“

Als sie zum Hagthor gingen, führ ein kalter Windstoß vom Untersberg einher über die Halden der Schönau. Der Richtmann und Ruedlieb lauschten: auf dem Winde kam vom Lokiwald ein verwehter Hall der Glocke über das Thal geflogen. Bruder Wampo hatte den Strang gerührt. Als er aus seinem langen Schlaf erwacht war und sich noch immer einsam in der Klause fand, befielen ihn Angst und Sorge, doch er wagte die hölzernen Mauern nicht zu verlassen, unter der Thüre stand er und schrie den Namen Schweikers in die Stille hinaus; aber keine Antwort kam – es rauschte nur der Wald, wenn ein Windstoß, welcher plötzlich erwachte und rasch verwehte, für kurze Weile die dumpfe Ruhe der Lüfte störte. Auch klangen Bruder Wampos Rufe nicht weit, denn seine Stimme war heiser von der langen Zwiesprach’, die er in der Nacht mit seinem unheimliche Gesellen in der Grube gehalten. Die Glocke, meinte er schließlich, würde besser rufen. Als er im Läuten einmal aussetzte und über die Lichtung spähte, glaubte er Stimmen im Wald zu hören. „Schweiker!“ rief er und eilte den Bäumen zu, doch er fand nur den stillen öden Wald, eine kleine Strecke wagte er sich noch weiter, dann aber schüttelte er bedenklich das runde Köpflein und kehrte wieder um. Ein Summen machte ihn aufblicken, und was er gewahrte, ließ ihn plötzlich alle Furcht und alle Sorge um die Brüder vergessen. An einem morschen Baum, in ziemlicher Höhe, sah er ein Loch, welches in die Höhlung des Stammes führte, der ein Bienennest zu bergen schien, denn zahlreich und emsig flogen die wilden Immen aus und ein. „Schau’, schau’! So kann man in dem schiechen Wald doch auch ’was Liebes finden!“ lachte Bruder Wampo, der den süßen Honig schon auf der Zunge spürte. Er musterte den Baum und meinte, daß er ohne allzugroße Mühe das Nest ersteigen könnte, denn die Stümpfe dürrer Aeste ragten wie Leitersprossen aus dem Stamm. Er griff nach Schwefelfaden und Feuerstein in seiner Kutte, nahm zwei kleine Moosbüschel, die er hinter den Gürtel steckte, und begann über die Sprossen emporzuklimmen. Aber er hatte diese Mühe doch zu leicht geschätzt; freilich, der Baum erhob keine Schwierigkeiten, um so größere jedoch Bruder Wampos Bäuchlein, das eine besondere Vorliebe bezeigte, mit jedem Zweig und jedem Rindensplitter eine längere Auseinandersetzung zu halten. Manches Tröpflein Schweiß war vergossen, als Bruder Wampo endlich neben dem Immenloch auf luftigem Aste saß. Während er schwere Mühe hatte, die ihn umschwärmenden Immen abzuwehren, schlug er hurtig Feuer, brachte das eine der Moosbüschel in glimmenden Brand, schob den dick rauchenden Wisch in die Höhlung des Stammes und verstopfte mit dem anderen das Loch. Flink ließ er sich auf die Erde gleiten und rannte davon, mit schlagenden Armen die Immen scheuchend. In einiger Ferne blieb er lachend stehen und schnalzte mit der Zunge.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_358.jpg&oldid=- (Version vom 26.11.2020)