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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

rief Baron Doßberg vom Schlitten herunter und unterstützte seine Worte durch eine höchst nachdrückliche Gebärde. Aber Ilse schüttelte den Kopf und lachte ihn an. „Was soll mir das schaden! Laß doch, Papa – das bißchen Kälte! Ich geh’ sofort hinein, sowie ich erst den Jungen – da hab’ ich ihn schon!“

Armin hatte die Pelzdecken weggeschleudert, war mit einem Satz vom Schlitten herunter und warf sich ungestüm an den Hals der Schwester. Die Stimme, mit der er sie begrüßte, hatte einen verdächtigen Klang. Inzwischen hatte sich Doßberg ebenfalls aus den Decken geschält und schob nun seine Kinder, die einander noch umfaßt hielten, nachdrücklich gegen die Hausthür. „Hinein mit Euch! Ilse, Du kannst ja den Tod davon haben!“

„Warum nicht gar, Papa! Höchstens den Schnupfen!“

Das sagte sie schon im Hausflur, wo sie sich dicht vor Armin hinstellte und ihn musterte. „Sieh’ ihn Dir an, Väterchen! Das Kind ist so groß wie ich – es dauert kein Jahr, dann ist es mir über den Kopf gewachsen! Und was ist dies? Komm doch näher zum Fenster, es ist so dämmerig hier - wahrhaftig, das Kind kriegt Anlage zu einem Schnurrbart!“

„Na, aber bedeutend!“ Armin pflanzte sich herausfordernd vor Vater und Schwester hin und wirbelte um Daumen und Zeigefinger der rechten Hand unternehmend an etwas herum, das vorläufig bloß als Schatten auf seiner Oberlippe saß. „Uebrigens, Ilse, wenn Du mir immer noch mit dem ‚Kind‘ kommst ... das muß nun doch ’mal ein Ende nehmen!“

„Wollen sehen, wie Du Dich benimmst, mein Sohn! Nicht da hinein! Mama schläft eben, Lina sitzt bei ihr und wird es uns sofort melden, wenn Mama wach ist. Einstweilen kommt in mein Zimmer! Du auch, Papa! Ich mache Euch auf der Spiritusflamme einen steifen Grog nach der kalten Fahrt – Armin, verträgst Du denn so etwas auch?“ Dieser beantwortete die Frage nur mit verächtlichem Blick und mitleidigem Achselzucken; Ilse lachte laut auf – angesichts des Bruders fühlte sie ihren alten Frohsinn wieder erwachen. Sogar über Herrn von Doßbergs trübes Gesicht ging ein Lächeln, als er den Geschwistern zusah, wie sie Arm in Arm in Ilses Zimmer traten. Es war bedeutend kleiner als das frühere im Schloß, auch fehlte ihm die imposante Höhe, der stolz geschweifte Fensterbogen, die schöne Stuckarbeit der Decke, was alles dem Raum drüben etwas so Vornehmes gegeben hatte. Hübsch war’s aber dennoch, dies Mädchenstübchen mit seinen hellgeblümten Möbeln und Vorhängen, den vielen Blumen, dem leise flötenden Kanarienvögelchen im Käfig. Ilse zog Armin an der Hand hinter sich her. „Ist’s nicht allerliebst hier bei mir?“

Er machte eine finstere Miene, ließ den Blick rundum schweifen, schaute zur Decke empor, trat dann ans Fenster und sah zu dem alten Schloß hinüber, dessen graues Gemäuer deutlich durch die entlaubten Bäume hindurchschimmerte. „Unerträglich ist das!“ rief er und ballte die Fäuste. „Unerträglich! Wie Du bloß so ruhig sein kannst – und mich noch fragen, ob’s nicht allerliebst bei Dir sei! O ja, allerliebst – meine Schwester hier im Verwalterhaus, und drüben steht unser Schloß, unser - unser - sieh mich nicht immer an!“ schloß er plötzlich wütend und stampfte mit dem Fuß auf. „Du brauchst es nicht zu sehen, daß ich heulen muß!“ Die zornigen Thränen schossen ihm aus den Augen und liefen ihm die Wangen herab, während er Ilse unsanft zurückdrängte, um sie gleich darauf wieder an sich zu ziehen. „Nein, nein - sei nicht bös, Ilse, ich bin so - einfach außer mir bin ich!“

„Wenn das nur etwas helfen könnte!“

„Helfen, helfen! So klug bin ich auch, daß ich weiß, es hilft nichts! Aber leichter wird einem doch – freilich können Mädchen das nicht verstehen. Die sind von der Natur zum Leiden und Dulden geschaffen –“

„So? Sind sie das? Eine sehr bequeme Annahme, mein liebes Kind! Wenn das wirklich die Regel sein soll, dann kann ich Dich versichern, daß es auch Ausnahmen giebt!“

„Na, Du kannst zufrieden sein - in Deinen Briefen an mich hast Du nie etwas zu klagen gehabt!“

„Wär’ mir auch von besonderem Nutzen gewesen, zu klagen! Und gar Dir gegenüber, der ohnehin schon so eine Brandrakete ist! Das hätte nur Oel ins Feuer gegossen!“

„Na, wie ist er denn?“

„Wer?“

Armin machte eine unwillige Kopfbewegung nach dem Schloß hinüber. „Du weißt ganz gut, wen ich meine! Ich kann den Namen nicht ausstehen!“

„Papa lobt ihn sehr, nennt ihn gerecht, zartfühlend –“

„Ja, das hat er mir unterwegs auch gesagt. Na, und Dü?“

„Ich hab’ ja nichts mit ihm zu thun!“

„So? Papa sagte doch, er komme ziemlich häufig hier herüber!“ Ilse schwieg. „Also? So red’ doch auch ein Wort!“

„Ach, Armin, quäl’ mich nicht!“ Ilse machte sich hastig von des Bruders Arm los. „Hörst Du nicht? Papa kommt! Nimm Dich zusammen!“ Baron Doßberg hatte inzwischen den Pelz abgelegt, jetzt trat auch er ins Zimmer; das junge Mädchen schob ihm einen Sessel hin. „Setz’ Dich, Papa!“

Der Baron ließ sich etwas schwerfällig nieder. „Dank’ Dir, mein Kind! Nun, Du hast es doch Armin bestätigt, daß es mit Mama wenigstens nicht schlechter geht?“

Sie zuckte ein wenig zusammen. „Nicht gerade schlechter, aber doch nicht so gut wie vor einiger Zeit. Da hofften wir doch –“

Doßberg schüttelte trübe den Kopf. „Ich hoffe seit lange nichts mehr!“ Er versank eine kurze Weile in sein gewöhnliches Brüten, dann hob er mit einiger Anstrengung den Kopf. „Und Deine Pläne, Armin, die Du mehrfach in Deinen Briefen angedeutet hast? Laß doch einmal hören!“

Der junge Mensch sah zu Ilse hinüber und zögerte. „Ihr müßt mir aber beide Euer Wort geben. daß Ihr Euch über das, was ich zu sagen habe, nicht ereifern werdet!“

Ein schwaches Lächeln zog schattenhaft über Herrn von Doßbergs Gesicht. „Ein bißchen viel verlangt, mein Sohn! So mit gebundenen Händen sein Wort geben - wer könnte das?“

„Ich hab’ auch mehr Ilses wegen Angst als Deinethalben, Papa! Aber Ilse ... wie ich die kenne. wird sie sich sehr ereifern, und wenn ich das dann auch thue, so steckt von vornherein die ganze Geschichte im Sumpf! Könntest Du mir nicht wenigstens Dein Wort geben. Ilse?“

„Nein, liebes Kind, selbst ich kann das nicht!“

„Dann muß es so heraus!“ Armin nahm förmlich einen innerlichen Anlauf, er schluckte ein paarmal und bewegte nachdrücklich den Kopf. als ob er sich den Nacken steifen wollte. „Sieh, Papa, Du hast Dich unterwegs gewundert - ich hab’ Dir’s angemerkt - daß ich mich gar nicht nach dem Gut erkundigt hab’, nach all den Anschauungen und Verbesserungen, die notwendig waren. Ja, ich habe die ‚Perle‘ geliebt – wie sehr, das kann ich Euch gar nicht beschreiben ... mindestens ebenso wie Papa und viel mehr als Du, Ilse – Mädchen können darin überhaupt nicht so empfinden! Aber nun, seitdem das Gut nicht mehr uns gehört, ist alles wie tot in mir, ’s ist mir rein egal, was dieser Usurpator, dieser Parvenü –“

„Armin, Du mäßigst Dich!“ fiel Baron Doßberg streng ein. „Herr von Montrose ist so rücksichtsvoll gegen mich, wie ich nur wünschen kann, überdies durchaus kein Parvenü, sondern von nahezu so altem Geschlecht wie wir.“

„Mag er – entschuldige, Papa, ich kann ihn nicht leiden, und wenn er ein Engel wäre! Er hat uns die ‚Perle‘ weggenommen, das kann ich ihm nie verzeihen. Aber ich werde nichts mehr gegen ihn sagen, da Du ihn in Schutz nimmst. Nur müßt Ihr begreifen, daß mir die ‚Perle‘ verleidet ist! Laß’ geschehen auf ihr, was da will, laß’ sie den zehnfachen Wert bekommen – sie gehört nicht mehr den Doßbergs! Ihr wißt, ich hab’ mit Leib und Leben Landmann werden wollen, aber eben als Besitzer von ‚Perle‘ und nur so. Was sollte ich jetzt als Landmann anfangen? Mich irgendwo in die Lehre geben bei fremden Menschen? Denn hier hielt’ ich es keine acht Tage aus. Und soll ich dann am Ende irgendwo als Inspektor unterkriechen mit einem lumpigen Gehalt – der letzte Doßberg? Ich thu’s nicht, und wenn die ganze Welt sich dagegen verschwört, ich thu’s nicht! Und darum“ – Armin dehnte seine Brust, als habe er sich das Herz frei gesprochen - „darum will ich einen andern Beruf ergreifen und will Seemann werden!“

Ilse zuckte zusammen bei dem Wort, Herr von Doßberg furchte die Brauen. „Und Deine Mutter?“ fragte er leise.

„Ach Gott, Mama braucht das ja gar nicht zu wissen!“

meinte Armin leichthin, in Erinnerung an das unentwirrbare

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