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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Dunkel wie ein großer strahlender Stern. Allmählich wurde der Himmel heller, über die Berge fiel ein falber Schein, und langsam schlich das Mondlicht über die steilen Wälder nieder in das finstere Thal. In weiter Ferne bellte ein Wolf, und ein anderer gab ihm Antwort. „Die Schneespringer melden sich,“ murmelte Sigenot, „es wird bald Winter werden.“

Ein kühler Hauch kam aus dem See gezogen und milderte die Schwüle der Sommernacht; das Schilf begann zu rascheln, und sanfter Wellenschlag erwachte, leis anrauschend wider das Ufer. Hinter dem Grat des Jennar stieg der Mond empor, wie ein rundes brennendes Gesicht. Silberne Helle floß über das Dach des Fischerhauses und über den stillen Wächter.

Lauschend hob Sigenot den Kopf; von der Ache her war ein Geräusch an sein scharfes Ohr gedrungen. „Er kommt!“ Sich aufrichtend, faßte Sigenot mit der Rechten das Schwert, hob mit der Linken den Schild vor die Brust und stieg über den Hügel hinunter zum Thor.

Draußen vor dem Hag trat Henning mit dem Knecht unter den schwarzen Bäumen hervor in den hellen Mondschein. Er trug einen Mantel über dem Arm, und die Faust ruhte am Griff des Wildfängers. „Es ist kein Lichtschein mehr im Haus,“ flüsterte der Knecht, der mit Dolch und Saufeder bewaffnet war.

Am Hag entlang schleichend, erreichten sie das Thor.

„Herr, sie haben den Balken nicht eingelegt, das Thor giebt nach!“

„Stoß auf!“

Die Thorflügel öffneten sich, Henning zog den Fänger und wollte in die Hofreut stürzen; doch wie versteinert hielt er inne beim ersten Schritt. Vor ihm stand Sigenot, das blitzende Schwert zum Schlag erhoben, umschimmert vom bleichen Mondlicht gleich einer gespenstigen Hünengestalt. Mit gläsernen Augen starrte Henning, befallen von abergläubischem Schreck, die unerwartete Erscheinung an. Der Knecht hatte die Saufeder im Anlauf gefällt, doch ein Schwertstreich Sigenots zersplitterte den Schaft.

„Die Toten stehen auf!“ lallte Henning und faßte, zur Flucht sich wendend, den Arm des Knechtes.

„Herr, so steh’ doch!“ keuchte der Knecht, aber Henning war nicht mehr zu halten; eine Strecke riß er den Knecht mit sich fort, und als er den Schutz der Bäume erreichte, ließ er den Arm des Gesellen fahren und sprang hinein in die Finsternis des Waldes, rannte wider die Stämme, stürzte, raffte sich wieder auf und stürmte bergwärts in sinnloser Flucht.

Sigenot trat vor das Thor und schleuderte mit dem Fuß die Speerstücke hinaus in den Sand der Lände. Mit verächtlichem Lächeln blickte er den Fliehenden nach. „So feig wie schlecht!“

Im Wald klang die schreiende Stimme des Knechtes: „Herr! Herr!“ Doch Henning hörte nicht mehr. Keuchend, ohne Atem und totenbleich, erreichte er den Burghof; kaum trugen ihn seine Knie noch hinauf über die Freitreppe, auf welcher ihm das helle Licht der Herrenstube entgegenstrahlte. Als er über die Schwelle taumelte, erhob sich Herr Waze vom Tisch, um welchen Sindel, Rimiger, Gerold und Otloh saßen, die vor kurzem erst heimgekehrt waren aus dem Lokiwald. Eilbert saß in der dunklen Ecke hinter dem Ofen, und Hartwig lag auf einer Bank.

Henning sah die Brüder nicht, er sah nur den Vater, und in seiner Erschöpfung fast niederbrechend vor ihm, keuchte er: „Vater … hinter mir ist die Höll’! Der Fischer, den ich erschlagen am Morgen … ist ein Gespenst geworden und geht um in seinem Hag.“

Zornig stieß Herr Waze den Sohn mit der Faust zurück, und am Tisch erhob sich schallendes Gelächter. Rimiger sprang auf und schrie: „Ein Gespenst? Hörst Du, Otloh, der Fischer, der Dich heut’ in der hellen Sonn’ vom Roß geworfen, ist gar nicht Fleisch und Blut gewesen, sondern ein Butzemännlein, das im Mondschein Mücken fangt und die Kinder schreckt, daß ihnen das Herz in die Hosen fallt!“ Seine Stimme erstickte fast unter Lachen. „Armer Otloh, jetzt kommst Du gar um die Sühn’, die der Fischer Dir schuldig ist! Heut’ am Abend hat er Dich ins Moos gesetzt, aber heut’ am Morgen hat ihn der gute Henning schon erschlagen!“ Alle lachten, nur Otloh wurde rot vor Zorn, und Henning starrte umher, als wäre er von Sinnen.

„Dummkopf! Verstehst Du noch allweil nicht?“ schnauzte der Vater ihn an. „Wie Dein Pfeil, so ist auch der Stein fehlgegangen, den Du gelöst hast über seinem Kopf. Eins aber möcht’ ich wissen … was hast denn Du jetzt beim Fischerhag zu schaffen gehabt?“

Eilbert war aufgesprungen und näher getreten. „Die Dirn’ hat er sich holen wollen,“ rief er höhnend, „aber wie der Fuchs hat er in den Immstock gegriffen und flink die Pfot’ wieder eingezogen!“

Mit einem Fluch stürzte Henning zum Tisch, packte ein Messer und schwang es gegen den Bruder. Aber Herr Waze und Rimiger faßten den Arm des Wütenden, entwanden ihm die Klinge und stießen ihn aus der Stube hinaus in die Kammer.

Wirres Geschrei erhob sich um den Tisch, doch alle übrigen Stimmen übertönte die Stimme Otlohs: „Soll der freche Uebermut da drunten noch lange den Streit und Hader unter uns Brüder werfen? Hinunter zu ihm! Ich hab’ keine Ruh’, eh’ nicht die Schand’ gelöscht ist, die er mir angethan!“

„Halt’ Dein Maul, Du Grasaff’!“ rief Herr Waze. „Wärst Du besser im Sattel gesessen, so hätt’ er Dich nicht gehoben!“ Den Lärm überschreiend, der diesen Worten folgte, schlug er mit den Fäusten auf den Tisch. „Wird Ruh’ werden oder nicht? Ich will doch sehen, wer in meinem Haus noch zu reden hat, Ihr oder ich!“ Mit funkelnden Augen maß er die Söhne, welche widerwillig verstummten. „Von Stund’ an geschieht, was ich will, ich allein! Daß mir keiner wieder dreintappt mit einer Hand, wie sie der Unschick da draußen hat … es müßt’ denn sein, daß Ihr heut’ über ein paar Wochen dastehen wollt ohne Haus und Fraß, ein Gespött für jeden Bauernknecht im Gadem!“ Herr Waze schritt durch die Stube und trat wieder zum Tisch. „Der Fischer soll Euch gehören! Die Stund’ aber, die ihn wirft, sag’ ich selber an. Heut’ ist er beim Lok’stein gewesen und hat gesponnen mit den Schwarzen. Thät’ er ihnen schon morgen fehlen, sie möchten wohl dran denken, daß er der erste gewesen ist, der zu ihnen gehalten hat, und möchten anrücken wider mich mit Fahn’ und Kreuz … und das hab’ ich erfahren: wider ihre Sipp’ und ihre Heiligen ist ein schieches Raufen. Ich will Fried’ haben mit ihnen, freilich auf meine Art. Eh’ ich einen Streich thu’, muß ich wissen, für welche Nacht der Richtmann das Thing geladen hat, muß wissen, was sie beschließen im Thing … und muß noch so manches andere wissen. Drum genug für heut’! Rimiger!“

„Ja, Vater!“

„Du reitest morgen wieder hinaus zum Lok’wald. Nimm den Henning, Eilbert und Otloh mit … und will einer von ihnen Streit anheben, so hau’ ihm eins übers Dach, in meinem Namen! Jetzt weiter … und auf die Häut’ mit Euch!“

Herr Waze trat in die vom Mond umglänzte Halle hinaus, um kühle Luft zu schöpfen, denn in dicken Perlen rann ihm der Schweiß von den Schläfen; er lehnte sich an die Treppensäule, spähte über das Thal hinweg in die Ferne der schimmernden Mondnacht und schüttelte die Fäuste. „Könnt’ ich nur einen Berg fassen und ihn umkehren, daß er hinfallt über sie und ihr hölzernes Nest!“ Hinter ihm in der Stube war es still geworden; als Herr Waze nun zurückkehren wollte, blieb er betroffen auf der Schwelle stehen. Vor ihm, inmitten der Stube, stand seine Tochter Recka, in weißem Schlafgewand, das bleiche Gesicht umringelt vom gelösten Rothaar, die finsteren Blicke auf den Vater geheftet.

„Dirn’? Was willst Du noch?“

„Antwort auf eine Frag’!“ sagte sie mit bebender Stimme. „Was Henning wider den Fischer that … ist es geschehen mit Deinem Willen, auf Dein Geheiß?“

„Du hast gelauscht!“ fuhr Herr Waze zornig auf.

„Muß man lauschen bei einem Geschrei, das durch alle Wände geht? Gieb Antwort! Mich kümmert nicht, was Henning thut … zwischen ihm und mir liegen Berg und Thal. Du aber bist mein Vater! Gieb mir Antwort: hat Henning wie ein Meuchler den Pfeil geworfen und den Stein gelöst auf Dein Geheiß?“

Reckas brennender Blick schien ein unbehagliches Empfinden in Herrn Waze zu erwecken. „Ich könnt’ Nein sagen,“ brummte er; „was der Lapp gethan hat, muß mir ja eher schaden als nützen, und wie könnt’ ich denn meinen eigenen Nachteil wollen?“

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