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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Kranke immer stiller, immer teilnahmloser. Und Stunde um Stunde saß dann das junge Geschöpf neben dem Bett, die Handarbeit in den feinen Fingern, und zermarterte sich Kopf und Herz und ging unbarmherzig mit sich selbst ins Gericht, ohne doch einen festen Punkt zu finden, in dem sie sich wirklich schuldig bekennen konnte. Rund um sie her atembeklemmende tiefe ununterbrochene Stille; nur ein leises regelmäßiges Ticken von der Wand, an der die Rokokouhr stand, und ein leises unregelmäßiges Hauchen von dem spitzenbesetzten Kissen her, auf dem das blonde Haupt jetzt so still lag – sich nicht mehr rastlos hin und her warf und Wasser verlangte, Wein, frische Luft, Eis – wunschlos und stumm lag es da, das Gesicht fast durchsichtig weiß. Dann ließ Ilse die Arbeit sinken und starrte mit thränenden Augen auf dies bleiche Antlitz und auf das goldene Haar, das sich auf dem Kissen ringelte. Und vor ihren Augen lag es wie eine dunkle uferlose Flut, in die sie auf schwachem Kahn unaufhaltsam, steuerlos hineintrieb.




11.

Ilse war von Laden zu Laden gegangen, hatte Bestellungen gemacht, einige Dinge gleich mitgenommen; nun waren ihre Einkäufe beendet. Der Regen hatte nachgelassen – eine kurze Weile stäubte es noch fein aus den Wolken herab, dann hörte auch das auf. Ilse stand unschlüssig, als sie an die um diese Zeit sehr belebte Promenade kam – sollte sie wirklich hier gehen? Aber es blieb ihr kaum eine Wahl; wollte sie rasch in ihren Gasthof kommen, wo sie den Wagen fand, so mußte sie diese Straße kreuzen.

Plötzlich, als sie eben mit dem Zusammenrollen ihres Schirmes beschäftigt war, hörte sie ein klirrendes Geräusch, wie von feinen zusammenschlagenden Sporen, und eine etwas schnarrende Stimme sagte: „Meine Gnädigste, Sie hier? Welch reizende Ueberraschung! Sie sehen mich hocherfreut!“

In der That – sie sah ihn hocherfreut, den Premierlieutenant Georges von Montrose, der heute in seiner kleidsamen Husarenuniform noch ungleich vorteilhafter aussah als in dem „Räubercivil“, in welchem er sich auf ländlichen Ausflügen gewöhnlich zeigte. Er war wirklich ein hübscher junger Mann und war sich dieser Thatsache wohl bewußt, bestritt auch gar nicht, daß er eitel war. „Dazu haben mich die Weiber gemacht!“ pflegte er im vertrauten Kameradenkreise zu äußern. „Ich immer hinter ihnen her, sie immer hinter mir – Katz’ und Maus, Maus und Katz’ – na ja, da bekommt man allmählich ’ne Ahnung, daß man Vorzüge besitzt!“

Augenblicklich hatte der fidele Herr die Brünetten ganz abgeschworen und schwärmte nur noch für die Blonden, von denen ihm „ein ganz auserlesenes Exemplar vor Augen getreten war“. Als er Ilse von Doßberg zum erstenmal zu sehen bekommen hatte – auf „Perle“ war’s gewesen, sein Vater hatte mit Baron Doßberg eine eingehende Unterredung, und der Baroneß fiel die Aufgabe zu, ihn und Clémence so lange zu unterhalten – da hatte er nur mit Mühe einen Ausruf des Erstaunens unterdrückt; das Monocle war mit der Geschwindigkeit des Blitzes ins Auge geflogen, die Hacken fuhren wie von selbst zusammen. So sah die aus? Solch ein entzückendes Geschöpf mit soviel Rasse hatte dieser sauertöpfische Baron Doßberg zur Tochter? Teufel, Teufel, Teufel! Und bei jedem „Teufel“ war der leicht entzündliche Lieutenant dem Gegenstand seiner Bewunderung um einen Schritt nähergerüekt. Da galt es, heillos rasch mit allen vorgefaßten Meinungen zu räumen und die „blonden Vorurteile“ samt und sonders über Bord zu werfen. Und Herr Georges von Montrose begann zu manövrieren. Als gewiegter Frauenkenner hatte er’s in der ersten Minute weg, daß hier nichts mit billigen Schmeicheleien und ödem Süßholzraspeln zu machen sei, noch weniger mit schneidiger Eilschrittmanier; er zog daher die feinen Register der Ritterlichkeit auf, war ganz Takt, ganz Zartgefühl, ganz Verständnis, schoß keine zündenden Blicke und keine schmeichelhaften Redensarten ab, sondern that und blickte so reserviert, daß sogar Clémence an ihm irre wurde und sich innerlich zweifelnd fragte. ob sie ihm wirklich nicht gefällt? Als sie dann aber diese Frage thatsächlich an ihren Bruder richtete, da bekam sie ein so kräftiges: „Ich bin überhaupt weg! Ich bin verrückt!“ zur Antwort, daß sie genug davon hatte.

Leider machte sich das „süße Geschöpf“, wie Georges das Schloßfräulein von „Perle“ fortan in seinen Gedanken nannte, äußerst rar; in der Stadt war sie sehr selten, und geschah es einmal, so wußte „man“ nichts davon und bekam sie nicht zu sehen; und auf dem Gut, für das der junge Montrose plötzlich eine glühende Vorliebe gefaßt hatte, ließ sie sich mehrfach entschuldigen: sie sei der kranken Mutter unentbehrlich. Nur einmal, als die beiden Geschwister ohne ihren Vater kamen, der in Gnadenstein hatte bleiben müssen, hatte Ilse sich den Gästen zwei Stunden gewidmet und die Glut im Herzen ihres Verehrers zu lichterlohen Flammen entfacht. Gerade daß sie ganz unbefangen blieb, keine Spur von Gefallsucht zeigte und ihre junge Schönheit so unbefangen trug wie eine Königin ihr Diadem, das machte sie dem Feinschmecker so anziehend; diese Gattung war ihm völlig neu. Und dann war etwas reizend Geheimnisvolles um sie herum – Georges hätte nicht sagen können, was es war, aber es war da. Kurz, er war „hin“, kopflos verbrannt und „hin“! Papa durfte natürlich keine Ahnung von dieser Thatsache haben – was sollte der auch damit? Der Sohn begnügte sich, ihm sein Vertrauen in Bezug auf Rechnungen und Bankanweisungen zu schenken, alles Weitere war vom Uebel. Aber Clémence wurde seine Vertraute; sie sollte durchaus Ilses „intime Freundin“ werden, wozu bei beiden jungen Damen nicht die mindeste Neigung vorhanden war, und ihrem Bruder Gelegenheit geben, dem Gegenstand seiner Anbetung häufiger nahe zu kommen. Bisher war zu seiner Verzweiflung nichts geschehen, was eine Annäherung seinerseits irgendwie begünstigen konnte; er hatte sich schon halbwegs darein ergeben, all seine Pläne bis zur endgültigen Uebersiedlung seiner Angehörigen nach „Perle“ zu vertagen, als ihm der Gegenstand seiner Sehnsucht an diesem trüben Herbsttag so unerwartet in den Wurf kam.

Sein glänzender Blick überflog die elegante und doch schlichte Kleidung des jungen Mädchens, den knappen lichtgrauen Reiseanzug, den breitgerandeten dunkeln Hut – schick, unglaublich schick! – und blieb dann auf dem Gesicht des „süßen Geschöpfes“ haften. Dies reizende zartrosige Oval, diese vollen weichen Lippen, und solches Haar und solche Augen – die hatte überhaupt kein Mensch weiter auf der Welt! Nur blickten diese Augen verzweifelt unbefangen; überrascht, aber ruhig sahen sie dem Lieutenant geradeswegs ins Gesicht.

„Ich fürchte, ich hatte das Unglück, Sie zu erschrecken, Gnädigste!“ begann Georges, nicht eben geistreich, die Unterhaltung.

„Ich war ein wenig in Gedanken und im Augenblick nicht auf eine Anrede gefaßt – ich bin sonst nicht so schreckhaft!“

„Darf ich fragen, wie es Ihnen in all der Zeit ergangen ist, Baroneß, und welche Veranlassung Sie heute hierher geführt hat? Sie gestatten!“ Damit schlängelte sich Georges um das junge Mädchen herum, so daß er sie zur Rechten hatte, und setzte, wie ganz selbstverständlich, seinen Weg an ihrer Seite fort.

„Danke, Herr von Montrose! Ich bin immer gesund gewesen, seitdem wir einander zum letztenmal begegneten. Heute hatte ich einige Einkäufe für meine kranke Mutter zu erledigen.“

„Und es ist Ihnen auch nicht eine Minute der Gedanke gekommen, bei Ihrem Aufenthalt in St. meine Schwester Clémence zu besuchen, die Sie doch so dringend um diese Gunst gebeten hat?“ fragte der junge Mann in vorwurfsvollem Ton.

Sie sah mit einem freimütigen Blick zu ihm empor. „Wenn ich offen sein soll, nein, Herr von Montrose, mir ist der Gedanke nicht gekommen. Es ist wahr, Ihre Schwester hat mich wiederholt aufgefordert, sie zu besuchen, aber ich glaube nicht, daß sie mein Erscheinen wirklich als eine ‚Gunst‘, wie Sie sich soeben freundlich ausdrückten, empfinden würde. Sie hat geglaubt, mir eine schuldige Höflichkeit erweisen zu müssen, als sie mich einlud, weiter nichts, und ich habe es gleichfalls als nichts anderes aufgefaßt.“

„Sie glauben nicht, meine Gnädigste, daß Sie jemals mit Clémence Freundschaft schließen könnten?“

„Das läßt sich nicht vorherbestimmen. Aber so, wie ich unsere Naturen bis jetzt beurteile, glaube ich allerdings nicht, daß Ihre Schwester und ich uns jemals miteinander befreunden werden!“

„Das ist wahrhaft niederschmetternd für mich!“ So ehrlich überzeugt klang das, so sprechend blickten des Lieutenants Augen dabei, daß Ilse lächeln mußte. Die Gegenwart dieses Mannes legte ihr nicht den mindesten Zwang auf, sie fühlte sich ganz frei in seiner Nähe – nichts in seinem Aussehen, seinem Benehmen, seiner Stimme erinnerte daran, daß er seines Vaters Sohn war.

„Wie geht es Ihrer Schwester?“ fragte sie freundlich.

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