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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


lebten. Im ganzen focht sie das aber wenig an, denn beide waren selbstische Naturen und zufrieden, wenn ihre kindischen Wünsche erfüllt wurden. Nach dem Tode der Mutter blieben sie nur gerade solange in Buenos Aires, als zur Uebergabe und teilweisen Auflösung des Geschäftes notwendig war, dann siedelten sie alle nach Europa über, wo die Kinder sofort in Erziehungsanstalten untergebracht wurden, während der Vater auf Reisen ging. Vater und Kinder sahen einander selten, die Entfremdung wurde immer größer, und obgleich sie jetzt schon längere Zeit zusammen lebten, waren sie doch innerlich einander fern geblieben.

„Sind Dir die Doßbergschen Familienverhältnisse näher bekannt, liebe Clémence?“ fragte Botho von Jagemann, der erst seit kurzer Zeit bei den Husaren in St. stand.

„Nur ganz oberflächlich – wir sind ja auch noch nicht lange hier. Soviel ich hörte, hat dieser Baron Doßberg viel Unglück gehabt – Mißernten und dergleichen Geschichten. Er soll sich gewehrt haben wie ein Verzweifelter, sein Gut zu halten. Mehr weiß ich nicht. Das ist für uns alles so Hals über Kopf gekommen. Gestern hörten wir von Papa das erste Wort über seinen beabsichtigten Gutskauf, heute hieß es, wir würden hinausfahren, uns den Besitz anzusehen. Hätte man nicht neulich in einer Gesellschaft zufällig etwas über diesen Doßberg und seine ‚Perle‘ gesprochen, dann tappte ich jetzt ganz und gar im Dunkeln.“

„Ja,“ sagte Georges mit Betonung. „Papa liebt es überhaupt, uns über seine Pläne und Absichten im Dunkeln zu lassen.“

„Allerdings!“ gab sein Vater gelassen zurück.

Das Gespräch verstummte hierauf. Beinahe jede Unterhaltung, die Vater und Kinder miteinander hatten, endigte mit einem Mißton.

„Wie schön – sieh, Clémence, dort ist die See!“ rief Botho plötzlich und erhob sich ein wenig von seinem Sitz.

Sie waren in einen Waldweg eingebogen; links traten die Bäume auseinander, und für eine kurze Weile blitzte das tiefe Blau des Meeres zu ihnen herüber.

„Wir fahren zunächst nach Gnadenstein,“ erklärte Herr von Montrose kurz. „Das hat früher zu ‚Perle‘ gehört, ist aber seit einiger Zeit abgelöst. Ich möchte suchen, es wieder mit dem Hauptgut zu vereinigen. Georges und Botho werden im Gnadensteiner Pächterhause bleiben, während ich mit Clémence nach ‚Perle‘ hinüberfahre, damit sie sich das Schloß ansieht. In einer guten Stunde etwa könnt Ihr uns zurückerwarten!“

„Ah, Du willst uns nicht mitnehmen?“

„Heute – nein!“ Georges faltete finster die Stirn. Dies „zwecklose Herumgekarre“ war durchaus nicht nach seinem Sinn. Was zum Teufel sollte er mit Botho auf Gnadenstein anfangen, und warum nahm Papa sie beide nicht ins Schloß mit? War das nichts weiter als eine Laune oder steckte etwas Besonderes dahinter?

„Botho, hast Du Karten in der Tasche?“ fragte er mißvergnügt seinen künftigen Schwager. „Mit irgend ’was muß man doch seine Zeit totschlagen!“

Herr von Jagemann fühlte in einer Tasche seines Ueberrocks nach und nickte befriedigt – gottlob, die Tröster waren zur Stelle!

Clémence war ebenfalls unmutig über die Trennung von ihrem Bräutigam. Was Papa mitunter für komische Einfälle hatte! Sie streckte Botho heimlich wie zum Trost die Hand hin – aber dieser sah es gar nicht, sondern blickte gelangweilt, verdrossen gerade aus. Sie nannte leise seinen Namen.

„Du befiehlst?“ fragte er, aus seinem Sinnen auffahrend, in verbindlichstem Ton.

Das Mädchen sah ihm mit beredten verlangenden Blicken ins Gesicht – er war so schön in ihren Augen, so schön, – aber wie zerstreut oft! Was mochte ihn beschäftigen? „An was dachtest Du?“ flüsterte sie vorsichtig, sich nahe zu ihm neigend.

„Das kannst Du fragen?“ gab er ebenso zurück und fing die suchende kleine Hand in der seinigen auf; der Ausdruck seiner Stimme hatte etwas Gemachtes. Ein flüchtiger Seitenblick aus den Augen des Vaters streifte die beiden; Geringschätzung und Mitleid lag darin – wie blind die Menschen oft waren, wie blind!

Der Gnadensteiner Pachthof war in Sicht; man ließ den Wagen ein Stück davon entfernt halten und stieg aus. – 000000000000000000

„Wenn der gnädige Herr so gütig sein wollten – unsere Baroneß wünscht, den gnädigen Herrn für eine kleine Weile zu sprechen, sie wartet im Garten!“ Fink, der in ehrerbietigster Haltung neben dem Wagen vor dem Portal des Schlosses stand, entledigte sich seines Auftrags mit einer gewissen Gezwungenheit – er kam ihm nicht recht schicklich vor. „Der Herr Baron ist noch über Feld,“ fuhr er zögernd fort, „die gnädige Frau Baronin ist sehr leidend, immer ans Bett gefesselt, und so hat Baroneß –“

„Also ist doch eine Tochter hier!“ unterbrach ihn Clémence.

Fink entgegnete ernsthaft: „Zu Befehl!“, aber er machte doch ein erstauntes Gesicht, daß jemand vom Dasein seiner Baroneß, solch einer Baroneß, nichts wußte.

„Es ist gut, ich komme,“ sagte Herr von Montrose, indem er den Wagenschlag öffnete. „Rufen Sie die Wirtschafterin, sie kann einstweilen meiner Tochter das Schloß zeigen!“

Frau Köhler, die Wirtschafterin, eine junge rüstige Witwe, erschrak nicht wenig, als Fink ihr im Milchkeller, wo sie gerade beschäftigt war, seinen Auftrag ausrichtete. War es denn wirklich schon so weit mit ihrer Herrschaft gekommen, daß sie fremden Leuten das Schloß zeigen mußte? Leise vor sich hinjammernd, wusch sie sich in Eile die Hände, that eine blendend weiße Schürze um und stand eine Minute später knixend, den riesigen Schlüsselbund am Gürtel, neben dem Wagen, in dem noch immer Clémence von Montrose nachlässig lehnte, vor den Augen ein Lorgnon an langem Goldstiel, durch das sie das Schloß und dessen ganze Umgebung mit hochmütiger Miene musterte. Herr von Montrose grüßte die atemlose kleine Frau höflich, winkte seiner Tochter einen Abschiedsgruß zu und schritt, von Fink geführt, nach dem Garten.

Durch die Büsche schimmerte ein weißes Frauenkleid, Fink wollte darauf zugehen und seinen Begleiter melden, allein dieser machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und wartete, bis der Bediente wieder hinter dem Gitter verschwunden war.

Warmer Duft kam Herrn von Montrose entgegen, eine lachende blühende Welt umgab ihn. Weiße Falter gaukelten über den niedrigen Büschen oder hingen regungslos an den Blumenkelchen, die Bienen summten mit einschläferndem Ton. Rosen und Lilien standen in weitem Halbkreis und hauchten ihren schweren süßen Duft in die schwüle Sommerluft hinein. Und mitten in all dieser Pracht die Maienkönigin! Denn so sah Ilse von Doßberg aus, obgleich sie ihr schönes Haar heute nicht frei herabwallen ließ, sondern es, zu einem Krönchen zusammengeflochten, auf dem Scheitel trug. Aber eitles Gold flimmerte um Schläfen, Stirn und Nacken. Goldlichter huschten über das schlichte weiße Kleid und irrten über die zarten Hände, die eben bemüht waren, eine herabhängende blasse Rose höher an den Stock hinaufzubinden. Der Beobachter sah das feine Profil, die sanftgeschwellten Lippen, die sich leise regten – er machte keine Bewegung, um dies Bild nicht zu zerstören. Aber plötzlich wandte Ilse sich um, gewahrte ihn, und in demselben Augenblick lag die herrliche Rose, die sie so behutsam aufband, dicht am Stengel abgeknickt, zu ihren Füßen. Mit zwei Schritten war er neben ihr, hob die Blume auf und reichte sie ihr hin, aber Ilse hatte die Hände schlaff niedersinken lassen und nahm die Rose nicht; sie war jäh erblaßt, mit einem ganz hilflosen Ausdruck sah sie ihm unverwandt ins Gesicht.

Er betrachtete sie ebenso beharrlich, während er ehrerbietig den Hut zog und mit seiner gedämpften Stimme sagte: „Es thut mir leid, Sie erschreckt zu haben, Baroneß, ich brauche Ihnen wohl nicht zu beteuern, daß das nicht in meiner Absicht lag. Sie wissen, wer ich bin?“

Ilse neigte wortlos das Haupt.

„Und Sie haben gewünscht, mich zu sprechen?“

Ja, sie hatte das gewünscht, sie hatte sich alles zurechtgelegt, was sie ihm sagen wollte, soeben noch – und nun plötzlich wußte sie kein einziges Wort mehr davon! Sie hatte die Empfindung, als ob die Gegenwart dieses Mannes, sein Blick sie lähme, als ob sie thun müsse, was er wolle. Ein Gefühl der Unfreiheit war über sie gekommen, von dem sie sich vergebens loszumachen strebte. Sie atmete hoch auf und setzte zum Sprechen an, aber es kamen ihr ganz andere Gedanken als die, die sie darlegen sollte. Ihr fiel des Landrats Ausspruch ein, Herrn von Montroses Sohn sei ein lockerer Gesell, und wie sie dazu so siegessicher gelächelt hatte – sie dachte, der Sohn werde gewiß dem Vater nicht ähnlich sein, denn zwei Menschen könnten unmöglich solche Augen haben, und warum sie die Rose nicht nehme, die der Gast in der Hand hielt – dazwischen sah sie eine kleine Elfenbeinfigur vor sich, die heute früh für ihre Mama angekommen

war, die „Hoffnung“, eine reizende Mädchengestalt mit sehnsuchtsvoll

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