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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

und der Zug der Leidtragenden ordnete sich. – Fritz trat zu dem alten schluchzenden Manne. „Komm, Großpapa,“ bat er, „wir gehen zusammen.“

Dann war es mit einem Male still im Hausflur; nur Therese stand noch da, unbeweglich vor dem schwarzen Gestell, das den Sarg getragen, und neben ihr die Räthin.

„Komm mit in meine Stube!“ sagte die alte Frau. Und Therese folgte ihr; sie war wie ohnmächtig. Drinnen setzte sie sich auf die kleine Erhöhung am Fenster und lehnte den Kopf an den Nähtisch, dann griff sie gierig nach dem Glase Wein, das ihr die alte Dame bot.

Als sie getrunken hatte, saß sie stumm, bis der Doktor wiederkam.

Die Mutter trat ihm im Flur entgegen. „Fritz, sie ist noch da drinnen, wollt Ihr Euch nicht versöhnen?“

Er sah die alte Frau an von oben bis unten. „Nein!“ war die kurze Antwort, dann ging er in sein Zimmer.

Die Räthin kehrte zu Therese zurück. „Fritz ist da – willst Du nicht hinübergehen zu ihm?“

Therese erhob sich.

„Du bist die Schuldige, vergiß das nicht, wenn Du vor ihm stehst!“

Aber Therese antwortete nicht. Sie hielt den Schleier unter dem Kinn zusammen und ging hinaus.

Die Räthin lauschte, aber sie hörte keine Thüre gehen. Und als sie den Kopf hinaussteckte, da sah sie eben die schwarze Wollschleppe von Theresens Trauerkleid über die Schwelle des Hauses gleiten. Die Schwiegertochter war gegangen, ohne einen Versuch zur Aussöhnung zu machen.

Voll Verzweiflung lief die Räthin in das Zimmer ihres Sohnes hinüber. Er saß in der Ecke des Sofas, den Kopf in die Linke gestützt, und sah wie abwesend zu ihr empor.

„Du hättest wohl das erste Wort reden können,“ schluchzte sie. „Du weißt, Therese ist ein verzogen Kind. Nun ist sie fort, und Ihr werdet Euch nicht wieder versöhnen.“

Er schüttelte unwillig den Kopf. „Sprich nicht davon,“ sagte er, „bitte, laß mich allein!“

„Ach, Du bist gewiß recht barsch mit ihr gewesen! Gelt, sie hat doch eigentlich noch nichts Böses gethan – der Frieder war eben einmal ihr Schatz; sie wäre gewiß wieder zur Vernunft gekommen –“

„Ich bitte Dich – laß mich!“ stöhnte er.

Da ging sie weinend. Sie hatte zum Guten reden wollen – –

Im Vorzimmer stand Luischen mit einem Briefe. „An den Herrn Doktor,“ sagte sie. Die Mutter kehrte noch einmal um und trug ihm das Schreiben hinein. Fritz erbrach es, als die alte Frau gegangen war. Es war ein Brief von Adami: er stehe zur Verfügung und erwarte weitere Nachricht.

Fritz zuckte die Achseln und lachte kurz auf. Dann versank er wieder in sein Brüten. Die Ehre verlangte es, daß er sich mit dem Verderber seines Glückes schlug – gut, er würde nicht fehlen, Ordnung mußte sein! Aber es war ihm grenzenlos gleichgültig, ob der Mensch, der sein Feind gewesen von Kindesbeinen an, am Leben blieb oder nicht; ob er dies Leben mit der theilte, die sich von ihrem Manne gewandt, oder nicht. Was ging ihn das alles noch an? Nicht eine Spur des leidenschaftlichen Verlangens, den Räuber seines Weibes zu züchtigen, wie es ihn noch gestern durchtobte, rührte sich mehr in ihm. Seit jenem Augenblick, wo die Erdschollen auf den kleinen Sarg rollten, war alles still und tot in ihm, nur der verzehrende Schmerz lebte um den verlorenen Liebling.

Das Dasein lag vor seinen Augen wie eine öde Schneefläche im Dämmerlicht; und auf dieser sollte er wandern, sollte er allein wandern ohne Ziel, ohne Zweck – grauenvoll!

Er stöhnte auf wie ein zum Tode getroffenes Thier, und als draußen die Schelle klang, verriegelte er seine Thür. Was gingen ihn noch die Leute an, die seine Hilfe begehrten? Ihm half ja auch keiner – mochten sie klopfen, klopfen – –

Und endlich neigte sich der Tag, die Dämmerung füllte allmählich die Winkel des Zimmers – er saß noch immer da. Plötzlich schreckte er empor, er hatte so deutlich ein süßes Stimmchen „Papa!“ jauchzen hören.

Ach, der trostlosen Täuschung! Der kleine rothe Mund war verstummt für immer, es gab kein Spiel mehr im Hause, kein helles Jubeln, keinen trauten Wiegengesang. und droben die Stätte des Glückes, der Liebe, des friedlichen Lebens zu Zweien lag leer und verlassen – nur ekler Nachgeschmack war geblieben nach all dem Süßen. O, wäre doch etwas da auf der Welt, an das er sich noch zu halten vermöchte! Aber was hatte er noch? Die Mutter zürnte ihm, daß er nicht „fünfe gerade sein“ ließ, um ein Leben des Scheines weiter zu schleppen – selbst der Hund war Therese nachgelaufen.

Da tastete es draußen an der Thür, dann ein schüchternes Klopfen und eine matte, aber unendlich weiche Stimme: „Fritz, willst Du nicht zu Tisch kommen? Es wäre doch gut, wenn Du etwas essen möchtest.“

„Julia!“ murmelte er, und aufstehend öffnete er die Thür.




Drei Jahre sind vergangen, drei wunderlich stille Jahre. Droben in dem alten Hause sind die Läden geschlossen, und die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen lugen, sehen leere Räume. Auf dem Parkett liegt der Staub. Der Garten ist schattiger geworden, denn die Boskette und die Reben dürfen nicht verschnitten werden – der Doktor Roettger will den Strom nicht mehr sehen; er hat auch noch nie wieder den Garten betreten. Wo früher die Verbindungsthür hinüber zu dem Krautnerschen Grundstück war, breitet ein Pfirsichbaum seine Aeste in Spalierform über das neue Mauerwerk, und hoch sind die Akazien aufgeschossen, die längs der Mauer angepflanzt wurden.

Im Hause ist’s sehr still. Fräulein Riekchen wurde in voriger Woche begraben, ihr Fahrstuhl steht nun oben auf dem Boden neben dem ersten kleinen Gitterbettchen „Bubi’s“, und Julia hat eine Decke darüber gebreitet.

Es ist wieder einmal Mai geworden, ein wonniger, sonniger Maitag. Die Fenster in Tante Riekchens Stube sind weit geöffnet, und Julia steht da und liest die Briefe auseinander, die sie auf Wunsch der alten Dame verbrennen soll. Auch der Brief liegt dort, der eine halbe Stunde vor ihrem Tode eintraf und den Poststempel „Rom“ trägt.

„Liebe Tante,“ schreibt Frieder, „meine Frau ist seit einigen Tagen aus Deutschland zurückgekehrt. Es thut ihr leid, Dich nicht gesehen zu haben, aber wie die Verhältnisse liegen, war es ja unmöglich, Dich zu begrüßen. Herr Krautner ist unversöhnt mit uns aus der Welt gegangen und hat uns unliebsam überrascht durch sein Testament; er hat einen Neffen, von dessen Dasein Therese kaum eine Ahnung besaß, zum Miterben eingesetzt, und zwar so, daß er der Bevorzugte ist. Nun werden wir unser herrliches ungebundenes Leben einschränken müssen. Ein Glück, daß wir keine Kinder haben!

Therese gefällt es nicht besonders in Rom; sie will einen anderen Platz suchen. Die italienischen Städte haben wir so ziemlich alle durchprobiert, nun gehen wir noch nach Florenz, nach Deutschland mag sie nicht wieder zurückkehren.

Es thut mir leid, daß der alte Mann sich so unversöhnlich gezeigt hat; ehrlich gestanden, ich bin außer mir! Gern hätte ich Dir den Abend Deines Lebens durch Ueberweisung einer kleinen Rente verschönert, aber nun ist’s unmöglich. Als Therese nach Eisenach kam – sie war Tag und Nacht gereist – fand sie den Miterben bereits in der Villa vor, die sich der alte Herr am Fuße der Wartburg erbaut hatte. Ein junger bildschöner Mann soll er sein, seines Zeichens Oberförster. Sie scheinen sich leidlich verständigt zu haben, die beiden.

Ich fühle mich sonst unsäglich wohl hier, es ist Heimathluft.

Behüt’ Dich Gott!

Dein treuer Neffe 
Fr. Adami. 

P. S. 0 Ich suchte das Grab meines Vaters, konnte es aber nicht mehr finden. Du siehst, mein Versprechen wollte ich halten.“

Julia legte auch diesen Brief zu den anderen in das bereitstehende Körbchen. Der alten Dame konnte sein Inhalt nicht mehr mitgetheilt werden, Julia ließ er kalt.

Frieder hatte seinen Abschied genommen und Therese geheirathet. Was weiter aus den beiden geworden war, darüber hatte man fast nichts erfahren, denn Tante Riekchen theilte nur wenig mit aus den Briefen, die sie selbst spärlich erhielt. Sie hatte sich nach der Katastrophe damals nicht wieder erholt; sie war stiller und stiller geworden, dann litt ihr Gedächtniß und sie sprach vom Frieder nur noch als von einem Kinde und klagte, daß Fritz und er sich nicht vertragen wollten. Aber für Julia hatte sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 874. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_874.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2022)