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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

ächzende kleine Möbel, als müsse er erst Kraft sammeln, das unerhörte fassen zu können. Ein Mann, der aus dem Fenster springt; und Julia mit ihm in diesem abgelegenen Winkel – allein! Das stolze Mädchen, das ihm bis jetzt so rein und klar erschienen war wie – ja, es fiel ihm gar kein Vergleich ein. „Aber das kommt von der Lieblosigkeit, mit der sie aufgezogen wurde,“ murmelte er bitter. „Und doch – trotz alledem ist’s unbegreiflich! Aber warnen muß ich sie, ihr helfen, rathen!“

Er sprang auf und eilte ins Freie, das Tuch in der Hand. Es war völlig dunkel geworden. Eins der Krautnerschen Dienstmädchen begegnete ihm in der Nähe der Verbindungsthür beider Grundstücke.

„Ist vielleicht meine Frau bei ihrem Vater?“

Frau Doktor war heut’ noch gar nicht hier,“ antwortete das Mädchen; „es ist überhaupt gar niemand bei uns gewesen außer Ihnen, Herr Doktor. Der Herr Lieutenant sind schon seit ein paar Stunden fort; ich glaube, er wollte zu Fuß nach“ – sie nannte ein Städtchell in der Nähe – „ich hört’ es nur, wie er es zum Herrn sagte.“

„Ja, ich weiß,“ antwortete er zerstreut und ging.

In seinem eigenen Hause sah er Licht, im Kinderzimmer und im Boudoir seiner Frau. Bei Tante Riekchen war es dunkel. Er öffnete die Thür zu ihrem Zimmer und fragte hinein: „Ist Julia da?“

„Ja!“ antwortete die tiefe klangvolle Stimme des Mädchens.

„Warst Du bis jetzt daheim?“

Ein kurzes Schweigen, dann ein „Nein!“

„Verzeih – wo warst Du, Julia?“

„Ich –“ wieder eine Pause, „wie kann Dich das interessieren?“

Er antwortete nicht darauf. „Willst Dll in einer Viertelstunde auf einige Minuten in mein Zimmer kommen – in das Studierzimmer?“

„Gern!“ scholl es zurück.

Fritz begab sich in sein Zimmer, legte das Tuch sorgsam auf den Schreibtisch und ging zu seiner Frau.

Therese lag auf ihrem Sofa im Boudoir, die Lampe war mit einem dunklen Schleier verhängt. Sie sah bleich aus und ein Frösteln schüttelte ihren Körper.

„O weh!“ sagte er besorgt, „willst Du meine Praxis vermehren?“

„Ich bin so müde,“ klagte sie.

„Du hättest ein wenig an die Luft gehen sollen – warst Du heute gar nicht aus?“

„Nein!“ stieß sie hervor.

„Immer hier auf dem Sofa? Dann wundert mich Dein Frieren nicht. Hast wohl gelesen? Wenn Du das doch lassen wolltest, sobald Du angegriffen bist.“

„Ich möchte so gern schlafen.“

„Das heißt wohl, ich soll Dich verlassen, Kind? Gut, aber morgen habe ich ernsthaft mit Dir zu reden; so geht das nicht weiter, Therese!“

Sie fuhr empor. „Was geht nicht so weiter?“

„O! O! Heute nicht, morgen! Sei vernünftig und schlafe Dich aus – ich werde sorgen, daß alles ruhig bleibt!“ Er nickte ihr ernst zu und verließ das Zimmer.

„O, diese Frauen!“ murmelte er und klopfte an Tante Riekchens Thür.

„Willst Du kommen, Julia?“

„Sofort!“ antwortete sie.

Er ging voran, setzte sich an seinen Arbeitstisch und schraubte die angezündete Lampe höher, dann stützte er die Wange auf die Hand. Er hatte Herzklopfen wie ein Schuljunge. Gleich darauf trat sie ein.

Er betrachtete sie, wie sie nun vor ihm stand, ohne ein Wort zu sprechen. Sie sah leidend aus; es war ihr kindliches Gesicht nicht mehr. Er meinte auf einmal, etwas in den schönen Zügen zu erkennen, das an innere Kämpfe, an heimliche Leidenschaft mahne.

„Julia,“ begann er, und das Sprechen ward ihm schwer, „Du weißt, daß Du in mir immer einen Freund, einen Bruder gehabt hast – oder war ich es Dir nicht, Julia?“

Sie blickte ihn an und das Zucken ihrer Mundwinkel verstärkte sich; es sah fast hochmüthig aus.

„O, gewiß!“ antwortete sie.

„Du wirst Dir denken können, daß es einen Bruder aufs schmerzlichste und peinlichste berühren muß, entdeckt er an der Schwester –“

Er stockte und ging im Zimmer auf und ab; er wußte nicht, wie er ihr kundthun sollte, daß er ihr Geheimniß entdeckt. „Sieh das Tuch!“ sprach er endlich heiser und deutete auf das Gewebe neben der Lampe.

Sie sah es an und dann ihn, ruhig, mit einem Ausdruck von Verwunderung in den Blicken.

„Ich fand es eben – Du hast es wohl vergessen bei Deinem Stelldichein im Gartenhaus – im Schmerz des Abschieds, vielleicht auch –“ Und gereizt durch ihre Ruhe. „Ach, Julia, Kind, wie konntest Du Dich soweit vergessen!“

Ihre Augen hatten sich unheimlich erweitert. „Das Tuch – ich, ich soll es –?“

„Sei aufrichtig gegen mich, Julia!“ bat er. „Daß Du einmal lieben würdest – das mußte ja kommen, aber ich habe gemeint, es würde da, wie es Brauch und Sitte ist, bei Tante Riekchen oder bei mir ein achtbarer Mann anklopfen, der frank und frei Deine Hand begehrt; niemals habe ich gedacht, daß Du einem – Liehhaber gehören würdest, mit dem Du Dich verstecken mußt, der durch das Fenster seinen Weg nimmt!“

Sie fuhr empor.

„Du bist wahnsinnig!“ schrie sie. „O, das ist – das ist –“ Dann verstummte sie jäh, und ihre Hand tastete nach der Lehne des Sofas, während sie die andere vor die Augen legte, als sei ihr schwindlig geworden. „Mein Gott!“ klang es durch das Gemach.

„Ja, es ist besser, Du leugnest nicht und schenkst mir Vertrauen, es kann ja noch alles gut werden. Ich bitte Dich, Julia, sage mir alles, laß mich mit dem Manne reden! Ich bin bereit, wenn auch mit schwerem Herzen, Dich zu entschuldigen. Du hast keine Mutter gehabt, Tante Riekchen hat nicht verstanden, Deine Liebe zu gewinnen – Du bist herzenseinsam gewesen all die Zeit her, hast vielleicht den Muth nicht gehabt, der Tante zu sagen: ‚Ich liebe und werde geliebt!‘ – Ich will Dein Vertrauen ehren, Dir helfen – aber beichte, Kind, sage mir, wer es ist! So kann es ja doch nicht fortgehen; es ist Deiner und unsrer unwürdig!“

Er war neben sie getreten und streichelte ihr das Haar. „Sprich doch, Unnütz, sprich!“ sagte er bittend.

„Ich kann nicht! Ich kann nicht! Laß mich!“ rief sie, seine Hand zurückstoßend; ihre verstörten Augen irrten durch das Zimmer, als wisse sie nicht, ob sie wache oder träume.

„Du kannst nicht?“

„Nein! Nein!“

Und sie brach in ein kurzes nervöses Lachen aus. „Gieb das Tuch her, ich will gehen!“

„Nein, Du gehst nicht!“ rief er heftig, gereizt durch das Lachen. „Du entkommst mir nicht! Ich als Herr dieses Hauses dulde nicht, daß man mit Fingern auf die deuten darf, welche Kindesrechte hier genoß – also rede, sprich!“

Sie eilte vor ihn hin mit aufgehobener Hand, als wollte sie den Schimpf durch einen Schlag rächen. „Mit Fingern auf mich deuten?“ stieß sie hervor.

Er erfaßte die Hand und zog sie nieder. Julias kreideweißes Gesicht hatte einen unheimlichen Ausdruck.

„Besinne Dich! Dieses Tuch trugst Du vor ein paar Tagen; ich sah Dich darin, als Dein Bruder den Vortrag hielt. Irre ich mich? Ja oder nein!“

Sie senkte plötzlich den Kopf. „Es ist mein Tuch,“ sprach sie tonlos.

„Und wer war bei Dir?“

„Ich kann es nicht sagen.“

„Du willst es mir nicht gestehen?“

„Nein!“

Da stieg ihm der Zorn heiß zu Kopfe. „Ich hab’s nie für möglich gehalten, daß Du auf lichtscheuen Wegen gehen könntest,“ rief er empört. „So geh’ – wir sind geschieden!“

Sie schritt hinaus, das Tuch in der schlaff herabhängenden Hand, die ganze Gestalt wie gebrochen. Erst an der Thür warf sie den Kopf in den Nacken und richtete sich empor.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_834.jpg&oldid=- (Version vom 15.4.2024)