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Und fort war er!

Ich könnte, sagte Achilles nach langem Sinnen zu sich selbst, mit einer Frau wohl in Frieden leben, auch wenn sie meinem Ideal nicht entspräche, aber das kann ich nun und nimmer – Onkel sein, wo ich lieber Gatte wäre!

Noch am selben Abend schrieb er seiner Braut ab, so schonend als möglich, alle Schuld auf sich ladend, sich selbst heruntermachend, als wäre er der elendeste Verbrecher, den die Sonne beschien. – –

Vierzehn Tage lang hütete Herr Schmitt das Haus; endlich aber mußte er wieder ins Geschäft. Da sah er, was er angerichtet hatte; strafende Blicke trafen ihn, man kannte ihn nicht mehr, grüßte ihn kaum. Die Achillesferse machte sich geltend. Herr Schmitt war der „bewußte“ Schmitt geworden. Sein Ruf hatte den tadellosen Glanz von ehedem ganz verloren.

Endlich beschloß er, fortzuziehen. Seine auswärtigen Geschäftsverbindungen machten es ihm leicht, anderswo eine Stellung zu finden. So brach er seine Existenz ab und verließ die Stadt, wo er sich erkühnt hatte, drei Tage auch einmal ein Glück erster Sorte zu genießen. Die blaue Karte nahm er mit sich; er trug sie als Talisman in der Brieftasche.

Nur eines wünschte er noch, ein Abschiedswort von Tonis Lippen, ein Wort der Verzeihung. Er umwanderte stundenlang das Haus, in steter Angst vor der Tante, bis der Zufall ihm eine letzte Wohlthat erwies.

Toni kam am Arme ihres Bräutigams. Dieser wollte pfeifend an Achilles vorüber. Der aber trat auf Toni zu. „Fräulein Toni,“ begann er schüchtern, „ich reise morgen für immer ab – sagen Sie mir noch ein gutes Wort!“

Da wandte sie ihm stolz den schmalen Kopf zu, sah ihn kalt und vernichtend an und entgegnete schneidend:

„Ich hätte nie gedacht, Herr Schmitt, daß Sie so verderbt sind!“

Diese Worte waren der Schluß seines Traumes.

Die Madonnenlippen sprachen sie zuerst aus, und sie blieben hängen als Aufschrift über seinem Leben.

In der neuen Heimath that er niemand etwas zu leide, lebte musterhaft hin, still und resigniert. Dafür belohnte man ihn denn auch, indem man Herrn Schmitts Verderbtheit nicht etwa erklärlich fand, sondern nie aufhörte, sich stets aufs neue über sie zu – wundern.


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Deutsche Bühnenleiter.

Max Grube.

Unter den hervorragenden deutschen Bühnenleitern ist Max Grube einer der jüngsten, dem Alter wie der Würde nach. Am 25. März 1854 geboren, hat er die vierzig noch nicht erreicht, und seit Dezember 1890 „Oberregisseur“ des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin, hat er seine Direktionsfähigkeiten kaum zwei Spielzeiten hindurch bewähren können. Nichtsdestoweniger hat er sich die allgemeinste Achtung zu erwerben gewußt, und man sieht wieder mit langentbehrtem Vertrauen in die Zukunft der königlichen Bühne. Grube heißt nicht „Direktor“, er ist es aber dennoch. Er selbst lehnte diesen Titel ab, da er nicht der Meinung ist, daß „eine Würde, eine Höhe“ die Vertraulichkeit entfernen müsse. Im Gegentheil: er verspricht sich ein ersprießliches Zusammenwirken von Haupt und Gliedern nur dann, wenn beide einem Körper angehören. Darum ist er auch entschlossen, niemals damit aufzuhören, selbst zu spielen, wie bedrohlich immer die Direktionsgeschäfte anwachsen mögen. Die Schauspieler haben mehr Vertrauen – das ist sein Glaubensbekenntniß – offenbaren leichter ihre künstlerische Seele, den Kern ihres Könnens, wenn der Führer unter derselben Schminke sich müht wie sie; wenn sie in ihm für jeden Zug, den sie aus sich herausholen, nicht das von außen kommende Verständniß des wenn auch noch so wohlwollenden Kunstliebhabers finden, sondern das von innen aufsteigende Verständniß des Handwerksgenossen, der jeden Tag in die Lage kommen kann, denselben Zug machen zu müssen; die Schauspieler fühlen sich viel enger mit einem Leiter verwachsen, der wie sie der öffentlichen Kritik sich aussetzt, der wie sie Sturm und Wind des Kampfes um Erfolg sich um die Nase pfeifen läßt und die Gefahr nicht scheut, im öffentlichen Urtheil selbst unter diesen oder jenen seiner Mitkämpfer gestellt zu werden.

Als Grube seinen heutigen Posten antrat, war seine Stellung nichts weniger als beneidenswerth. Das Königliche Schauspielhaus hatte jahrzehntelang an einem Stillstand gekrankt. Grube übernahm dasselbe ohne ein einheitliches Ensemble, ohne ein hoffnungsvolles Repertoire, dagegen trat er die volle Erbschaft von Mißtrauen und Geringschätzung an, welche die litterarischen und kunstverständigen Kreise der Hauptstadt dem königlichen Theater gegenüber empfanden. Und es ist seither besser geworden, Mißtrauen und Geringschätzung haben sich während der kurzen Zeit der Grubeschen Leitung in Vertrauen und Achtung verwandelt. Nicht daß die königliche Bühne heute schon die Stellung in Berlin einnähme, die sie einnehmen müßte: an der Spitze des künstlerischen Lebens! Aber viel ist doch schon geschehen.

Nach drei Richtungen hin hatten sich Grubes Bemühungen zu erstrecken; was der Bühne noththat, war erstens eine Erneuerung, eine Blutverjüngung des Personals, zweitens ein einheitlich abgestimmtes und charakteristisch bewegtes Zusammenspiel in einer den Anforderungen der Gegenwart entsprechenden Jnscenierung und drittens eine Belebung des Repertoires. Das war alles nicht leicht. Denn Grube war nicht Herr über sein Haus wie ein Direktor, der auf eigene Rechnung spielt, und wenn seine Absichten auch ein geneigtes Ohr beim Intendanten Grafen Hochberg fanden, so giebt es doch an einem großen Hoftheater Schwerkräfte mannigfachster Art, die niemand im ersten Anlauf überwinden kann. Seit Grubes Herrschaft weht ein frischer Hauch im Hoftheater, und daran muß man sich für den Anfang genug sein lassen.

Grubes Bühnenleitung ist zwei Einflüssen unterworfen: den Nachwirkungen der Meininger Schule und der scharf ausgesprochenen Verständigkeit seines Wesens. Er hat als Meininger begonnen und als Meininger geendet, bevor er nach Berlin kam, und die Schule des Herzogs Georg zeigt sich überall in seinen scenischen Anordnungen. Wohl tritt das Aeußerliche zurück: die peinliche Treue der Dekorationen und die Echtheit der Requisiten; das ist nur einmal möglich, und jede Nachahmung ist abscheuliches Plagiat. Aber die innere Verbindung von Dichterwort und Dekoration, von Rolle und Requisit – das ist von Meininger Herkunft. Nicht der Glanz des Rahmens ist hierbei das Entscheidende, sondern seine genaue Uebereinstimmung mit dem Text. Mit geläutertem Geschmack hergestellt, ist dieser Einklang von Leib und Kleid, von Wort und Bild ein mächtiges Hilfsmittel, um die erwünschte Stimmung zu erzeugen, die Illusion vollkommen zu machen. Zu mechanisch aber, zu absichtlich herbeigeführt, kann die dem Dichter peinlich folgende Inscenierung gerade das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung erzeugen, nämlich die Illusion zerstören. So z. B. wenn bei den Worten Fausts im Osterspaziergang:

Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn –

dieser „letzte Kahn“ wirklich erscheint, wie auf ein Stichwort aus der Versenkung emporsteigt, wenn dann Menschen ihn anfüllen und die Zurückbleibenden am Ufer mit Hüten und Tüchern schwenken. Das, was der in die Ferne schauenden Phantasie in bunter überreicher Fülle erscheinen soll, wird hier dürftig in die Nähe gerückt. Die Einbildungskraft sieht bei den Worten Fausts nicht nur den letzten Kahn, sondern auch alle, die vorangegangen waren, voll fröhlichen Lärms und bunt bewimpelt. Der eine Kahn aber giebt dem Auge eine unwillkommene kleinliche stumme Illustration zu den Worten; er verringert das Bild und schwächt den Eindruck. Das ist nur ein Beispiel für viele, wie eine überdeutliche Inscenierung verflacht. Dieser Gefahr dessen, was man „Meiningerei“ nennt, hat sich Grube noch nicht entwunden; er steckt noch zu tief in der Schule. Wir erwarten von ihm das volle Maß seiner Kunst erst dann, wenn er die werthvollen Meininger Bildungseinflüsse völlig verarbeitet und sich zu freier Entfaltung seiner eigenen Anschauung durchgerungen haben wird.

Das, was er selbst aus seinem eigenen Wesen hinzubringt, ist

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 824. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_824.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2023)