Seite:Die Gartenlaube (1892) 758.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

sich, wie er für die Unschuld des Angeklagten so voreilig habe eintreten können, und ermahnten ihn, einen Verkehr abzubrechen, der auf ihn selbst ein zweifelhaftes Licht werfen könnte. Da drückte sich Julius schell an Röver vorüber und that, als sehe er ihn nicht.

*  *  *

An der Pforte des Gerichtsgebäudes stand der Freigesprochene; unschlüssig schaute er in das Menschengewühl draußen, als scheue er sich, in die Freiheit zurückzukehren. Was sollte er unter all den Leuten! Ja, wenn seine Unschuld klar erwiesen worden wäre – aber nun! Würde nicht der Schandfleck an ihm haften bleiben, würde nicht seine Stellung vernichtet, er selbst ein Ausgestoßener sein, einsam in der Stadt von Hunderttausenden?

Da legte sich eine Haln auf seinen Arm und eine zitternde Stimme sprach leise seinen Namen.

„Mutter, Du hier?“ Mit krampfhaftem Drucke ergriff er die Hand der alten Frau. „Komm, nach Hause!“

„Ich bin so froh,“ sagte die alte Frau in einem Tone, dessen Zittern ihre Versicherung Lügen strafte.

Anton Röver schritt rasch aus und antwortete nicht. Sie aber, als wolle sie ihr Empfinden übertäuben, plauderte hastig weiter, während sie neben ihm herging. „Die nächsten Tage, denk’ ich, bleibst Du nun einmal bei mir, das habe ich mir lange gewünscht, und ich will Dir auch die Wohnung recht gemüthlich machen. Einen großen Schreibtisch, wie Du ihn immer gern haben wolltest, hab’ ich Dir gekauft, ja, denke! Freilich ist er schon gebraucht, aber noch ganz hübsch und gar nicht theuer. Wie der sich macht vor dem Fenster der Wohnstube – ordentlich vornehm! Und dann hab’ ich an unseren Vetter in Berlin geschrieben, daß er sich nach einer Stelle für Dich umthue, weil ich doch weiß, daß Du nicht gern lange feierst. – Anton,“ schloß sie zaghaft, beunruhigt durch das starre Schweigen des Heimkehrenden, „Du sagst ja gar nichts!“

Langsam öffnete Anton Röver die Lippen. „Ach, Mutter, jetzt ist doch alles einerlei!“

Sie waren vor ihrer Wohnung angelangt, einem schmalbrüstigen schmutzigen Häuschen in einer engen dunklen Straße im Herzen der Stadt. Von allen Seiten, aus den Fenstern und hinter den ärmlichen Gardinen hervor lugten die Köpfe neugieriger Nachbarn. „Heute kommt der alten Rövern ihr Anton zurück. Ist seines Vaters echter Sohn, nur schlauer! Haben ihm nichts anhaben können auf dem Gericht“ – hieß es da und dort.

Die Frau fühlte die bösen mitleidlosen Blicke mehr, als sie sie sah, fühlte sie doppelt, für sich und für den Sohn, und sie stellte sich schützend vor den großen Menschen, als könne sie ihm mit ihrer kleinen gebrechlichen Gestalt Deckung gewähren vor dem Spotte und der Verachtung, die aus allen Ecken auf ihn einzudringen schienen. Umsonst – sie trafen ihr Ziel. Als die Mutter mit bebenden Fingern und ungeschickt vor Eile ihre Thür aufgeschlossen hatte, sank Anton auf den Stuhl vor dem neuerworbenen Schreibtisch und vergrub sein Gesicht in den Händen; es schüttelte seinen Körper wie ein Krampf.

„Warum, warum mir das? Und wenn ein Unglück mich treffen sollte, warum gerade dieses? Mein ehrlicher Name – wer giebt mir meinen ehrlichen Namen wieder?“

Die tapfer behauptete Fassung der Alten stürzte vor dieser Frage zusammen. Sie legte ihren Kopf auf des Heimgekehrten Schulter und brach in hilfloses Schluchzen aus. –

Trübe traurige Tage folgten. Schande ist immer ein bitterer Trank; ist sie unverdient und kommen Armuth und Mangel als Würze hinzu, so wird sie zum lebenzerstörenden Gift. Die beiden aber mußten dies Gift trinken, Tropfen um Tropfen, es ward ihnen keiner geschenkt.

Des Sohnes kleine Ersparnisse waren während seiner Untersuchungshaft aufgezehrt worden. Der Berliner Vetter hatte „leider“ keine Anstellung für einen des Diebstahls verdächtigen Menschen, am Orte selbst fand sich noch weniger ein Unterkommen. Gleichwohl arbeitete Röver dies und das, was sich ihm eben bot; er würde Holz gehackt haben, wenn man es ihm angetragen hätte. In einer harten Jugend hatte er gelernt, daß die Noth keine Rücksicht nimmt auf den Gram, daß der Hunger seinen Wechsel unbarmherzig auch dem Traurigen präsentiert. Also arbeitete er; er machte für einen Hungerlohn vom ersten Tagesstrahl bis spät in die Nacht Abschriften und hielt kleinen Krämern, die von seiner Vergangenheit nichts wußten, die Bücher in Ordnung, freilich immer nur so lange, bis gute Freunde die Leute über den auf ihm ruhenden Verdacht aufklärten, worauf die braven Bürger sobald als möglich den gefährlichen Helfer mit mehr oder weniger Höflichkeit an die Luft setzten. Dieser Kreislauf wiederholte sich mit unabänderlicher Gleichmäßigkeit. Aber Röver ließ sich nicht abschrecken; er biß die Zähne zusammen und aus der einen Stelle fortgewiesen, versuchte er es sofort in einer anderen. Allein was er auf diese Weise verdienen konnte, reichte nicht einmal für die bescheidenste Lebensführung hin. In Erwartung besserer Zeiten versetzten Mutter und Sohn das bißchell Wohlstand, das sie noch besaßen – die Sonntagskleider, die Bilder von der Wand, die überflüssigen Bettstücke. Mit fest zusammengepreßten Lippen brachte Frau Röver ein Stück ums andere ins Leihhaus, und der Ausdruck ihres kummervollen Gesichts wurde dabei immer trostloser und verbitterter. Sie, die früher nie ein hartes Urtheil gefällt hatte, wurde jetzt fast von Haß erfüllt gegen die mitleidlose Selbstgerechtigkeit der Leute. Nur dem Sohne begegnete sie nach wie vor mit der rücksichtsvollsten Zärtlichkeit. Heimlich ging sie alle Wochen ein oder zweimal einen halben Tag zum Waschen oder Scheuern, um durch den bescheidenen Verdienst, den sie so erwarb, seine Last wenigstens einigermaßen zu erleichtern. Weil ihr aber Anton seit er die ersten Groschen verdiente, diese harte Arbeit streng untersagt hatte, redete sie ihm vor, sie müsse frische Luft schöpfen, sie mache einen weiten Spaziergang, und er that, als durchschaue er die fromme Lüge nicht. Konnte er die Mutter doch nicht vor Mangel schützen! Welches Recht hatte er da, ihr zu wehren, daß sie selbst sich schützte, wie sie’s vermochte?

Und eines Tages brachte die alte Frau auch das letzte schwerste Opfer. Leise trat sie hinter seinen Stuhl und murmelte:

„Magst wohl recht gehabt haben, Toni, damals, als Du hinaus wolltest, weit, weit über die See. Warst eben gescheiter als ich alte Person. ’s ist gut von Dir gewesen, daß Du damals meinen Bitten nachgegeben hast, aber besser hättest Du gethan, nicht auf mich zu hören. Und ich wollte Dir nur sagen: wenn Du jetzt noch Dein Heil anderswo versuchen möchtest, überm Wasser, in Amerika oder wo Du willst, da würd’ ich gern mit Dir gehen. Ich, siehst Du, ich geb’ nichts mehr um unsere Stadt. Dummes Zeug überhaupt, gerad’ an ein Fleckchen Erde sein Herz zu hängen! Und ich möcht’ wohl auf meine alten Tage noch ein Stück Welt sehen, ja, das möchte ich. Hab’ also keine Sorg’ um mich, Toni – ich geh’ überallhin mit Dir, ohne Herzweh!“

Er wandte sich langsam zu ihr um und sah sie müde an mit den uberwachten überarbeiteten Augen, um welche dunkle Ringe lagen.

„Auswandern? Wohin? Und mit was? Ja hätt’ ich auch die Mittel, woher nähme ich den Muth? Laß sein, Mutter!“

„Aber,“ sagte die Frau und rang die Hände, „so kann’s doch nimmer weiter gehen! Wie soll es enden?“

Die Feder des Sohnes zog schon wieder Buchstaben um Buchstaben. „Zuletzt ganz gewiß fünf Schuh unter der Erde,“ antwortete er bitter.

Das Ziel wußte die Frau auch, nur meinte sie, der Weg dahin sei für ihn noch weit. „Dir wenigstens hätte ich so gern ein wenig Glück gegönnt!“

Anton erwiderte nichts mehr. Glück? Ihm? Was hatte er mit Glück zu schaffen, je zu schaffen gehabt! Ja, wenn er den Menschen, der ihn und seine Mutter in dies Elend gebracht, hätte auffinden können, wenn das Schicksal ihn in seine Gewalt gegeben hätte, nur eine Stunde lang! Er hatte einen Verdacht, langsam war derselbe groß geworden – wenn er Beweise dafür fände! – Narr, der er war! Diese Hoffnung würde sich so wenig erfüllen wie all die anderen Wünsche, die er gehegt hatte und die ihm zeitlebens versagt geblieben waren.

Tiefer beugte er sich über den Schreibbogen und ließ die Feder noch hastiger über die weiße Fläche jagen, während die Mutter still in die Küche ging, um sich auszuweinen.


Es war wenige Tage vor Weihnachten, als Frau Meermann noch stolzer denn gewöhnlich zu Markte zog. Ihr Julius hatte eine neue Sprosse auf der Leiter kaufmännischer Ehren erstiegen. Mit dem Jahreswechsel sollte er Vorstand der Konfektionsabtheilung in seines Prinzipals Geschäft werden, und dieses freudige Ereigniß gedachte die Mutter durch einen besonders reichen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 758. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_758.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2023)