Seite:Die Gartenlaube (1892) 670.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

wirklich – wir haben es recht knapp. Arthurs Gehalt reicht immer nicht – und unsere vielen Verpflichtungen – wir können uns wenig erlauben, wir müssen uns so manches versagen.“

Er erwiderte nichts. Sein Blick ging nur immer zwischen ihr und den Kindern hin und her.

Die Thür wurde vorsichtig geöffnet.

„Gnädige Frau, der Konditor!“

„Ich komme! Entschuldige, Vater! Ich werde hoffentlich noch einmal wiederkommen können. Elli, Woldemar – seid recht artig mit Großpapa!“ Damit war sie rasch zur Thür hinaus.

Eine lange Stille. Der kleine Junge stand breitspurig, die Hände auf dem Rücken verschränkt, vor dem Alten und starrte ihm unverwandt ins Gesicht. Das Mädchen, das schon bessere Lebensart hatte, warf nur zuweilen unter den langen Wimpern hervor einen scheuen Seitenblick auf ihn.

„Das ist doch nicht wahr, daß Du unser Großpapa bist!“ unterbrach endlich der Knabe das Schweigen. „Papa sagt immer, unsere Großeltern, die sind tot!“

„Sei doch nicht dumm, Woldemar!“ belehrte die Schwester. „Das sind ja Papas Eltern, und der Großpapa war Justizrath! Aber dies ist Mamas Vater, und von dem weiß ich schon lange“ – sie zog den Bruder an sich und flüsterte ihm, freilich hörbar genug, ins Ohr – „daß er bloß ein Bauer ist!“

In dem Gesicht des Alten zuckte es. Er rechnete nicht damit, daß Kinder einen kleinen Gesichtskreis haben und in ihrer Neugier und Unbefangenheit oft grausam sind. Das waren Lenchens Kinder, die er mit Entzücken an sein Herz hatte drücken wollen!

Er war müde zum Umsinken, und seine Tochter hatte nicht einmal daran gedacht, ihn nur zu fragen, ob er sich nicht ausruhen wolle, ihm nur einen Stuhl anzubieten! Er war auch seit langen, langen Stunden ganz nüchtern! Und hier im Hause hielten sie ein Gastmahl – ob es ihnen wohl einfallen würde, dem alten Vater ein Glas Wein zu geben?

Ihm ging das nur ganz flüchtig durch den Sinn, wie traumhaft .. er war zu wirr, um einen Gedanken festhalten zu können.

„Du bleibst doch aber nicht hier?“ fragte der Junge weiter. Die Schwester stieß ihn von der Seite an und machte ein unwilliges Gesicht; wie konnte man nur so dumm fragen!

„Ich – ich – weiß nicht, nein – ich kann wieder gehen!“ stotterte der Gefragte.

Das Mädchen suchte den Bruder an der Hand fortzuziehen, allein er widerstrebte. Der seltsame Besuch interessierte ihn doch! „Was ist da drin?“ fragte er nach einer Pause und stieß mit dem Fuß an eines der Bündel. „Hast Du uns etwas mitgebracht?“

Der alte Mann bückte sich wortlos, löste die derben Knoten und ließ das große Schwarzbrot, von dem ein tüchtiges Stück abgeschnitten daneben lag, sowie den braunglänzenden, drei Finger dicken „Fladen“ sehen.

„Ach!“ machten beide Kinder enttäuscht.

Der Großvater hielt ihnen ein Stück von dem Kuchen hin.

„Das essen wir nicht!“ sagte das Mädchen hochmüthig, und Woldemar fügte hinzu: „Wir bekommen morgen von allem Schönen, was es heute giebt, Torte, auch Fasan, und Nachtisch – Bonbons, Chokolade und alles!“

Die Lippen des Alten fingen an zu zittern. Mit bebenden Händen nahm er das Backwerk, das seine kranke Frau in der Nacht für die Tochter und die Enkelkinder bereitet hatte, und legte es in das Bündel zurück.

„Ja, und ich darf für eine halbe Stunde in den Salon kommen und ‚Guten Abend‘ sagen, bis die Gäste alle versammelt sind!“ betonte das Mädchen und zupfte von neuem an seiner Schärpe. „Woldemar darf das noch nicht und Nora erst recht nicht – die ist noch viel zu klein! Die schläft schon!“

Erst jetzt gewahrte der Bauer, daß in einem der Bettchen ein Kind lag – ein kleines Geschöpf von kaum zwei Jahren, den blonden Kopf tief in die Kissen gewühlt, die dicken geballten Händchen gegen die Brust gedrückt. Der Alte ging auf den Zehen näher und neigte sich tief über das unschuldige, schlafende Gesichtchen. Er konnte es nicht hindern – eine helle Thräne fiel auf das weiße Kissen. Und das Kind, als fühlte es seinen Blick, schlug langsam die Augen auf, große lichtblaue Augen, die ohne jedes Erstaunen und ohne Furcht in das faltige Antlitz sahen. Dann verklärte ein freundlicher Schimmer das kleine schlummermüde Gesicht, die geballten Händchen lösten sich, winzige sammetweiche Fingerchen hoben sich empor und betasteten die welken Wangen des alten Mannes, und ein sonniges Lächeln lag um Augen und Lippen. So, genau so, hatte das Lenchen geblickt und gelächelt und den Vater gestreichelt, als es noch klein war.

„Du Kind, Du Engel, Du!“ sagte er mit gebrochener Stimme und küßte die zarten Händchen. „Mein Lenchen!“

„Sie heißt aber nicht Lenchen, sie heißt Nora!“ belehrte wiederum das Mädchen. „Wenn sie jetzt nur nicht weint!“

Nein, sie weinte nicht. Und nun that sich auch die Thür auf, und Frau Magdalene Willdorf kam wieder ins Zimmer. Sie hatte die Schleppe losgemacht und das schwere Seidenkleid rauschte und raschelte majestätisch hinter ihr her.

„Der Konditor war da – auch der Wein – der Gärtner mit den Sträußen!“ rief sie aufgeregt. „Und ich muß mich um alles selbst bekümmern! Die ersten Gäste müssen jeden Augenblick kommen – mir war eben, als hörte ich schon einen Wagen vorfahren! Gottlob“ – sie seufzte tief auf – „Arthur wenigstens hat nichts gemerkt!“

Ihr Vater sah sie fragend an.

„Siehst Du,“ fuhr sie hastig, die Stimme dämpfend, fort, „es ist ja schlimm, aber ich muß es doch sagen – Arthur ist zu sonderbar, und darin eben, in dem einen Punkt, unerbittlich streng. Er hat es mir zur Bedingung gemacht – geht einmal dort ans Fenster, Kinder, Ihr braucht nicht jedes Wort zu hbren – ja, also er hat es mir zur Bedingung gemacht, daß ihm niemand von meinen Angehörigen vor Augen kommt!“

„Ich will das gar nicht!“ Der Alte hob den Kopf. „Ich hab’ nichts zu bitten von meinem Herrn Sohn!“

„Still, still, Vater! Die Kinder! Natürlich nicht – gewiß willst Du um nichts bitten, aber – ich konnte ja nicht ahnen, daß Du so plötzlich hierherkommen würdest, sonst – sonst hätte ich Dir geschrieben –“ Sie vollendete nicht.

„Wo wohnst Du hier?“ fing sie dann wieder an. „Ich meine, wo bist Du abgestiegen? Ist es ein anständiger Gasthof hier in der Nähe? Kann man Dich da einmal besuchen? Du wirst Dir natürlich gründlich die große Stadt ansehen wollen –“

„Ich – ich hatte noch kein –“ begann der Alte stotternd, dann mit einem Male ermannte er sich. „Ich geh’, Magdalene!“ sagte er, und in seine schwankende Stimme war ein fremder, harter Ton gekommen. „Ich bin Dir zuviel hier, das seh’ ich ja! Ich hab’ mir das anders gedacht, aber ich bin vom Dorf, solch’ ein einfältiger alter Bauer – wie kann der wissen, wie’s in der großen Stadt zugeht!“

Er bückte sich und raffte die beiden Bündel vom Boden auf.

Seine Tochter war dunkelroth geworden. Augenscheinlich kämpfte sie mit sich. „Aber Du kommst wieder, Vater, nicht wahr, Du kommst wieder? Vielleicht morgen gegen zwölf Uhr, obgleich ich dann alles aufzuräumen habe! Allein um die Zeit ist gerade mein Mann –“

„Nein!“ unterbrach er sie herb. „Ich komm’ nicht wieder, nicht morgen, nicht übermorgen! Ich gehör’ hier nicht her!“

Sie wollte einlenken, ihn beschwichtigen, vielleicht schwebte ihr ein erstes herzliches Wort auf der Lippe ... da öffnete sich die Thür von neuem.

„Gnädige Frau – Herr und Frau Bankdirektor sind da, und unser Herr fragt, wo gnädige Frau bleiben!“

„Sofort, ich bin sofort da! Arthurs Vorgesetzter! Adieu, Vater, bleib’ gesund, grüß’ die Mutter! Vielleicht, wenn Du ein andermal kommst und ich weiß es vorher –“

Wieder streifte ihr Mund sein Gesicht. Er erwiderte kein Wort, seine Augen hingen mit einem eigenthümlichen Ausdruck an ihren aufgeregten Mienen – es war ein Blick, welcher der eleganten Dame das Blut ungestüm in die Wangen trieb.

„Mama, ich geh’ mit Dir!“ rief Elli und hing sich der Mutter an den Arm.

„Führe Großpapa hinaus, Woldemar, über die Hintertreppe, hörst Du? Ihr geht durch Karolinens Zimmer! Zieh’ Dir rasch die Bluse an –“ Die letzten Worte rief Frau Willdorf schon von der Schwelle, den Kopf halb über die Schulter zurückgewendet, ihr Töchterchen an der Hand.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_670.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2023)