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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Helmuth war am Fenster stehen geblieben und blickte finster hinaus. Der rechte Zeitpunkt war verrauscht; aalglatt wie immer war sie ihm entschlüpft – nachdem sie versucht hatte, neuen Brennstoff auf das schon erlöschende Feuer seiner Liebe zu häufen.

„Mein Himmel, wozu sage ich Ihnen das alles!“ fügte sie in leichtem Tone hinzu. „Ihr Gewissen läßt sich nicht überzeugen, das weiß ich ja; aber ich möchte Ihnen wenigstens erklären – muß ich Sie erst versichern, daß ich aufs gewissenhafteste zu Werke gegangen bin? Der junge Marboth ist der Neffe unseres schweizer Freundes – mit sechsundzwanzig Jahren schon als kaufmännischer Direktor in einer bedeutenden chemischen Fabrik angestellt, dabei der treuherzigste Charakter von der Welt. Doch das ist ja nun gleichgültig, er kann nur wieder abreisen. Und ich“ – sie lachte leise und bitter – „nun ja, ich will gar nicht leugnen, daß auch ein wenig Egoismus dabei war –“

„Quälen Sie mich nicht!“ sagte er gepreßt. „Quälen Sie auch Hedwig nicht! Warum haben Sie nicht an Resi gedacht? Sie ist anschmiegender, leichtlebiger –“

„Resi!“ fiel Lola mit fast geringschätzigem Mitleid ein. „Resi ist häßlich. So lange Hedwig im Hause ist, kommt Resi nicht in Betracht. Sie ist ja ein gutmüthiges offenherziges kleines Ding, nicht ohne Liebenswürdigkeit – das alles wird ihr einstweilen aber wenig nützen und mir auch nicht.“

Leise aufseufzend erhob sie sich, trat an den Schreibtisch und überlas den vorhin geschriebenen Brief; wie um noch ein Wort hinzuzufügen, ergriff sie die Feder, legte sie aber wieder fort und schloß den Brief in den Umschlag. Dann schellte sie und übergab ihn dem Dienstmädchen zur Besorgung. Mit einem eigenthümlichen Lächeln trat sie dann zu Helmuth und sah ihm ganz nahe in die Augen.

„Also – Sie wollen nicht mein Bundesgenosse sein? Um keinen Preis?“

Deutlich sah er in ihren Augen sein Spiegelbild.

„Um keinen Preis, Lola!“

Eine tiefe lastende Traurigkeit war in ihm. Er fühlte, daß er sie verloren hatte – nicht jetzt, schon lange, lange. Doch nicht nur diesem inneren Abschied galt seine Trauer, auch den warmen echten Gefühlen galt sie, die er jahrelang an ein schönes Bild ohne Seele verschwendet hatte. Das Glück, das er in ihrer Gegenwart empfunden, war so mit Qual gemischt gewesen, mit so großen Opfern erkauft worden, daß er nur mit dem Bewußtsein eines großen Verlustes den Strich unter die abgeschlossene Rechnung setzen konnte.

Und wozu lebte er jetzt, zu welchem Ende widmete er seine ganze Kraft seinem Geschäft, das nur seinem Thätigkeitstrieb Genüge that und sein Herz nicht befriedigte? Für Lola hatte er bisher gearbeitet. Und nun?

„Wie lange bleiben Sie in Berlin?“ unterbrach Lolas Stimme seinen Gedankengang.

Sofort war er wach. Durfte sie keinen Bundesgenossen in ihm sehen, so war er wohl für sie mehr als überflüssig, war er schädlich – sie wollte ihn fort haben! Aber nun blieb er, nun erst recht, wenn auch zu eigener Qual! Hedwig würde ihn vielleicht nöthig haben.

„Ich habe mir kein bestimmtes Ziel gesetzt,“ erwiderte er ausweichend. Dann folgte er ihr in den Salon. Dort war man ohne Zweifel bei einer äußerst lustigen Unterhaltung angelangt. Resi, mitten im Zimmer stehend, führte einige groteske Bewegungen aus und lachte von Herzen dazu, während der Sandblonde seinen hübschen Mund bedenklich in die Breite zog und sich mit hochrothem Gesicht und thränenden Augen aufs wohlerzogenste bemühte, nicht laut hinauszulachen.

„Mama, ich erzähle Herrn Marboth von unserer Tanzstunde!“ rief die Kleine, ein wenig beschämt, ertappt zu sein, und eine lebhafte Röthe stieg ihr bis zur Stirn empor. „Weißt Du – wie ich den Walzerschritt nicht herauskriegen konnte – und wie Hedwig mich zu Hause eindrillte – und wie ich vor Aerger weinte und gerade ein Tanzstundenherr zu Besuch kam –“

„Ach so,“ lächelte Frau Lola. Aber das Lächeln hatte etwas Gezwungenes, und in ihrer Stimme klang ein gereizter Ton. „Und Hedwig? Du thätest gut, sie zu rufen.“

Das Lachen erstarb auf Resis Munde. Wie konnte sie auch die Sachlage soweit vergessen! Nun erinnerte die Mutter sie daran, daß sie hier nur eine Nebenrolle, den Lückenbüßer, zu spielen hatte. Verschüchtert blickte sie zu der schönen Mama hinüber, welche mit der liebenswürdigsten Miene neben dem jungen Manne Platz nahm und sofort ein Gespräch begann. Er ging zerstreut auf ihr Geplauder ein, und verstohlen folgten seine Augen der neuen kleinen Freundin bis zur Thür.

Helmuth, den Lola vergebens in die Unterhaltung zu ziehen versuchte, verließ bald nach Resi das Zimmer. – –

Hedwig saß mit einer Handarbeit am Fenster des Speisezimmers; sie hatte die Stickerei in den Schoß sinken lassen und blickte zu der eifrig auf sie einredenden Resi empor, welche, den Rücken gegen die Thür, vor ihr stand.

„Ein Närrchen bist Du, ein wahres Närrchen!“ sagte sie kopfschüttelnd. „Sitzest hier allein und schmollst! Du sollst nach vorn kommen – Mama ist so böse! Und so ein lieber, netter Mensch – himmlisch habe ich mich eben mit ihm unterhalten – zu amüsant!“

Mit trübem Lächeln sah jetzt Hedwig an ihr vorbei nach Helmuth; von Resi unbemerkt, war er eingetreten und hatte ihren Erguß mit angehört. Auch diese wandte sich jetzt und erröthete lebhaft bei seinem Anblick.

„Du brauchst nicht zu erschrecken, Herr Helmuth weiß –“ sagte Hedwig mit ihrer weichen Altstimme. „Nun, was haben Sie bei Mama ausgerichtet?“

Er zuckte die Achseln. „Wir kennen jetzt gegenseitig unseren Standpunkt, das ist alles.“

Sinnend betrachtete er ihren schönen Kopf, in der Linie des Profils Lola so ähnlich, ihr so unähnlich in Ausdruck und Farbe. Es war ihm ein Trost, seinen lieblichen Schützliug zu sehen, ihren vertrauenden Blick zu fühlen. Unter der Wirkung desselben schien ihm die Wunde, welche die Mutter ihm geschlagen hatte, weniger schmerzhaft.

„Wollen Sie nicht in den Salon kommen?“ fragte er mit freundlichem Ernst.

Gehorsam legte sie ihre Arbeit zusammen und erhob sich. Voll Staunen nahm Resi die plötzliche Gefügigkeit ihrer sonst so halsstarrigen Schwester wahr, doch wagte sie keine Bemerkung und ging beiden voran in den Salon.

Das Aufleuchten, mit welchem die Augen des Sandblonden Resis Wiedererscheinen begrüßten, erlosch sofort, als er hinter ihr die schlanke Gestalt ihrer Schwester auftauchen sah. Augenscheinlich beklommen, wandte er rasch den Blick von ihr, und die stotternde Antwort, welche er in diesem Augenblick an Frau Lola richtete, legte Zeugniß ab von der unbehaglichen Verwirrung, in welche Hedwigs Gegenwart ihn versetzte. Ohne ihn anzusehen, schritt sie an ihm vorüber und nahm mit ihrer Arbeit am Fenster Platz. Trotz Resis freundlicher Bemühung, seine Laune wiederherzustellen, blieb Marboth verstimmt und einsilbig, so daß schließlich auch die Kleine betreten verstummte. Die Versuche der Mutter, Hedwig zur Theilnahme am Gespräch zu bewegen, wurden von dieser hartnäckig zurückgeschlagen. Auch Helmuth verhielt sich ziemlich schweigsam; wie von weitem hörte er Lolas Geplauder, die fast allein mit Gewandtheit und Tapferkeit gegen die allgemeine Verstimmung ankämpfte. Er blickte verträumt auf Hedwigs feine Finger und die unaufhörlich bewegte blinkende Nadel. Mit einer Ruhe, der er selbst nicht recht traute, parierte er von Zeit zu Zeit einen zornigen Blitz aus Lolas Augen. Nach einer Weile trat er zu Hedwig, und während er einen herabhängenden Zipfel ihrer Stickerei ergriff und angelegentlich zu betrachten schien, sagte er halblaut:

„Fühlen Sie nicht, daß Ihre Uebellaunigkeit auf uns alle geradezu lähmend wirkt?“

„Man hätte mich draußen lassen sollen,“ versetzte sie kurz, ohne den Blick zu erheben.

„Als Tochter des Hauses sollten Sie sich verpflichtet fühlen, Ihre Mutter in der Unterhaltung der Gäste zu unterstützen.“

„Mama hat meine Hilfe bisher nie vermißt. Sie wissen, daß ich nicht liebenswürdig bin – ich kann mir nicht geben, was mir die Natur versagt hat.“ Ihr Ton war schroff wie vorhin beim Empfang. Und den Kopf noch tiefer auf die Arbeit senkend, setzte sie mit bebender Stimme hinzu: „Uebrigens hätten Sie mir, als Sie mich hierher holten, gleich eingestehen sollen, daß Mama Sie umgestimmt hat.“

Erstaunt blickte er auf sie nieder. Er mußte lächeln.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_415.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2020)