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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

blieben erfolglos. Stevenhagen verlangte, der Doktor solle Abbitte thun; dieser, dessen Geduld zu Ende war und der thatsächlich kein Vergnügen mehr empfand am Umgang mit dem „eingebildeten Narren“ – wie er Herrn Stevenhagen hinter dessen Rücken zu nennen wagte – erklärte unumwunden, es falle ihm gar nicht ein, Abbitte zu leisten, ja auch nur eine Silbe von dem zurückzunehmen, was er gesagt habe. Stevenhagen habe sich lächerlich gemacht, und er, der Doktor, beharre auf seiner Behauptung. Ja, er wolle sich mit Stevenhagen übers Schnupftuch schießen, wenn er auf Genugthuung bestehe. Wenn er dagegen versprechen wolle, in Zukunft wieder ein vernünftiger Mensch zu werden, so werde er, Nehring, sich freuen, von neuem mit ihm zusammenzutreffen. Andernfalls möge Herr Konstantin Stevenhagen, Königlicher Kommissionsrath, Inhaber der hundertundeinjährigen Firma „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“, ihn ungeschoren lassen.

Damit hatten die schönen Abende des armen Stevenhagen ihr Ende erreicht. Der Pastor und der Postmeister theilten ganz und gar die Meinung des Doktors, und die drei suchten nach einem neuen vierten Manne und fanden ihn in der Person des Rentmeisters. Dieser besaß zwar nicht alle Tugenden, die seinen Vorgänger zu dessen guter Zeit so liebenswürdig gemacht hatten, aber er war frei von den Fehlern, die Stevenhagen seit seiner Ernennung zum Kommissionsrath zu einem schwer umgänglichen Menschen stempelten.

Der Kommissionsrath ertrug die Langeweile, zu der er verdammt war, nur kurze Zeit. Seit Monaten bereits regten sich in seinem tiefsten Innern Gedanken, die er bisher selbst seiner Frau gegenüber verborgen gehalten hatte. Er wollte seine Vaterstadt verlassen, wo er nicht die gebührende Anerkennung fand, wollte nach einer großen Stadt, ja er wollte nach Berlin ziehen, um dort in der Gesellschaft von Standesgenossen den Verkehr und die Achtung zu finden, auf die er berechtigten Anspruch erheben durfte. Es kostete ihn einen Entschluß, dies Frau Mathilde gegenüber auszusprechen, aber nachdem es einmal geschehen war, ging er unbekümmert um die Thränen und den Widerspruch seiner Frau, seiner Tochter und seines Schwiegersohnes dem Ziele zu, das er sich gesteckt hatte. Er berieth nicht mehr mit Frau Mathilde, wie dies früher seine Gewohnheit gewesen war, sondern erklärte einfach, was er zu thun beabsichtige und thun werde. Das Geschäft verkaufen? Nein, das wollte er nicht – er hatte es von Anfang an seinem Enkel Anastasius Mertens bestimmt, und Anastasius sollte es später bekommen. Einstweilen konnte Fritz es weiter verwalten, dessen Gehalt erhöht und dem außerdem ein kleiner Antheil an dem Gewinn des Geschäfts zugesichert werden mußte. Frau Mathilde sollte selbstverständlich mit nach Berlin ziehen. Die Wohnung, die somit leer würde, konnte theilweise unbewohnt bleiben, denn sie zu vermiethen, wäre der Stellung des Herrn Kommissionsrathes unwürdig gewesen. Fritz, mit dem Herr Stevenhagen schon gesprochen, hatte sich dankend damit einverstanden erklärt, seine eigene Wohnung aufzugeben und sich in zwei Zimmern des großen Hauses seines Chefs einzurichten. Mit Hilfe des Comptoirdieners und einer alten Dienstmagd, auf die man sich ganz verlassen durfte, konnte Fritz auf diese Weise Geschäft, Haus und Wohnung gut in Ordnung halten; nöthigenfalls war noch ein Lehrling anzunehmen, der ihm beim Verkauf behilflich sein würde. Von Zeit zu Zeit wollte Stevenhagen nach seiner Vaterstadt zurückkehren, um zu sehen, ob im Geschäft alles in Ordnung sei, und um seine Tochter und die beiden Enkelkinder zu besuchen. Frau Mathilde sollte ihren Mann auf diesen Reisen begleiten.

Eines Abends kündigte Stevenhagen seiner Frau an, er werde Ende der Woche nach Berlin fahren, um dort eine Wohnung zu miethen. Diese Nachricht versetzte die arme Frau in schmerzliche Aufregung; sie verbrachte eine schlaflose Nacht, aber sie wagte nicht, ihrem Manne zu widersprechen, da er sich für ihre Einwendungen gar nicht mehr zugänglich zeigte und bereits verschiedene Male, wenn sie ihm widersprochen hatte, so heftig und böse geworden war, daß die gute, ihr ganzes Leben lang an die beste Behandlung gewöhnte Frau Mathilde sich dadurch vollständig hatte einschüchtern lassen. Sie lief am nächsten Morgen zu ihrer Tochter und später auch zum Doktor und zum Pastor, um diesen ihr Leid zu klagen; sie fand auch allerorten Verständniß und innige Theilnahme, aber zu rathen und zu helfen wußte ihr niemand.

Am bestimmten Tage reiste Herr Stevenhagen nach Berlin ab, und eine Woche später kehrte er stolz und zufrieden zurück und kündigte seiner Frau an, er habe eine passende Wohnung gefunden, die gerade frei sei und die er so bald als möglich zu beziehen wünsche. Darauf gab er umsichtige Anleitung, das Ergebniß reifer Ueberlegungen, auf welche Weise die Uebersiedlung nach Berlin stattzufinden habe; die großen schweren alten Möbel sollten zurückbleiben, der Rest werde mehr als reichlich genügen, die kleinere Berliner Wohnung standesgemäß auszufüllen. Frau Mathilde hörte alles mit an in stummer willenloser Traurigkeit und bat nur, Stevenhagen selbst möge die Oberleitung des Umzuges übernehmen, da sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle. „Natürlich werde ich das thun,“ sagte der Herr Gemahl. „Frauen verstehen von solchen Sachen nichts.“

Während der nächsten vierzehn Tage war er von früh bis spät beschäftigt, das Einpacken aller Sachen, die mit nach Berlin genommen werden sollten, und das Aufladen der Möbel und Kisten auf die großen Möbelwagen zu überwachen. Er verrichtete das nicht ohne Geschick, denn als kleiner Kaufmann, der sein Geschäft gründlich verstand und sich mit allen Zweigen desselben praktisch beschäftigt hatte, ging ihm die Arbeit, die er übernommen hatte, ordentlich und verhältnißmäßig leicht von der Hand. Frau Mathilde irrte wahrend dieser Zeit wie ein unsteter Geist im Hause umher oder saß bei ihrer Tochter und weinte.

Die Einwohner des Städtchens schüttelten die Köpfe über das thörichte Gebahren ihres Mitbürgers, der Doktor wiederholte jedem, der es hören wollte, der Königliche Herr Kommissionsrath leide an Größenwahn; aber der Doktor sowohl wie der Pastor und Postmeister waren im innersten Herzen tief bekümmert über das, was unter ihren Augen vorging. Nur Fritz bewahrte seinen Gleichmuth, ja das Gefühl der großen Verantwortlichkeit, die jetzt auf ihn geladen wurde, versetzte ihn in eine gehobene Stimmung. Er wollte sich des Vertrauens, das ihm geschenkt wurde, würdig zeigen und war unermüdlich in der Ausübung seiner zahlreichen kleinen Pflichten.

Und so kam der Tag des Umzugs und des thränenreichen Abschieds, bei dem nur Herrn Stevenhagens Augen trocken blieben. Er hatte sich eine kleine Rede erdacht, die ihm wohl sehr gefallen mußte, denn er wiederholte sie viele Male.

„So weint doch nicht, Kinder,“ sagte er, „wir gehen ja nicht nach Amerika – wir ziehen einfach nach Berlin. Ich kann mich telegraphisch von dort aus schneller mit Euch unterhalten, als wenn Ihr auf einem Dorfe eine Stunde Weges von hier wohnen würdet. Ihr seid noch Kleinstädter, aber Ihr sollt uns eines nach dem anderen in Berlin besuchen und das Leben und Treiben der großen Stadt wird Euch von Eurer Kurzsichtigkeit und Schwäche heilen. Und dann – in acht Stunden kann ich von Berlin hier sein, und wir werden Euch häufig besuchen. Also weint nicht, Kinder, und seid vernünftig!“

Etwas wie wahre Rührung kam nur über ihn, als er die „Borsdorfer Aepfelchen“ zum letzten Male vor der Abreise küßte. Allein er überwand diese Aufwallung schnell wie eine seiner Stellung unwürdige Schwäche und setzte sich stocksteif in den Wagen, in dem die schluchzende Mathilde, das thränenfeuchte Taschentuch vor den Augen, bereits Platz genommen hatte.

*  *  *

Es war so gekommen, wie der Doktor es vorhergesagt und Frau Mathilde und Agathe und auch der Bäckermeister es befürchtet hatten. Stevenhagen und seine Frau fühlten sich in Berlin unglücklich. Eine Zeitlang hatte die Einrichtung der Wohnung den beiden zu schaffen gegeben; dann hatten sie die Sehenswürdigkeiten Berlins besucht: das Aquarium, das Panoptikum und den Zoologischen Garten, und hatten sich sehr gut unterhalten; dann die Museen, in denen ihre Aufmerksamkeit schnell ermüdet war, das Zeughaus, die Kirchen, die Brücken, die bemerkenswerthen Gebäude, Denkmäler und so weiter und so weiter. Sie waren des Abends gewöhnlich so müde nach Hause gekommen, daß ihnen nicht einmal das Essen geschmeckt hatte, und dann stets frühzeitig zur Ruhe gegangen.

Nachdem die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt besichtigt waren, hatten unsere Freunde den Theatern, Konzerten und öffentlichen Vergnügungslokalen ihre Zeit zugewandt; aber auch diese Freude hatte bald ihr Ende erreicht, denn Stevenhagen eilte von einem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_374.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2020)