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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

In diesen Fragen ist kein völkerrechtlicher Gesichtspunkt zulässig wie in denen des Privat-Fürstenrechts. Unser heutiges Deutsches Reich beruht auf dem Gedanken, daß für unsere staatlichen Angelegenheiten die völkerrechtlichen Verabredungen des Jahres 1815 keine bindende Schranke bilden. Zwischen den Hohenzollern und ihren Landeskindern hat ein völkerrechtlicher Vertrag keinen Platz. Die Gesetzgebung des Deutschen Reiches und der Einzelstaaten hat hier die Verhältnisse frei und sachgemäß zu regeln. Es war der freie Wille der Reichsgesetzgebung, wenn sie die Standesherren von der Militärpflicht ausnahm. Und es ist ebenso der freie Wille des Gesetzgebers, wenn er ein anderes ihrer Privilegien aufheben will.

Ueber keines dieser Privilegien bestehen aber so irrthümliche Auffassungen wie gerade über die Befreiung von der Einkommensteuer, deren Aufhebung jetzt in Preußen auf der Tagesordnung steht.

Schon über die Frage, um welche Familien es sich dabei denn eigentlich handle, hört man die wunderlichsten Ansichten. Keineswegs haben alle standesherrlichen Familien einen Anspruch auf eine Sonderstellung, sondern nur die, welche in Preußen selbst auf reichsunmittelbaren Gütern sitzen. Ein württembergischer Standesherr z. B., der auf einem Rittergut wohnt, welches er sich in Preußen gekauft hat, genießt hier keinerlei Steuerprivileg. So führt die Matrikel des Herrenhauses den Präsidenten, den Herzog von Ratibor, nicht unter den „vormaligen deutschen reichsständischen Häusern“ auf, sondern unter den „übrigen Mitgliedern mit erblicher Berechtigung“. Denn Ratibor ist nicht reichsunmittelbares Lehen gewesen, schon aus dem einfachen Grunde, weil Schlesien damals nicht zum Deutschen Reiche gehörte. Reichsunmittelbar ist der Herzog von Ratibor nur in seiner Eigenschaft als Prinz zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, d. h. er ist württembergischer Standesherr, aber nicht preußischer. Die Zahl der preußischen standesherrlichen Familien ist also eine eng begrenzte. Es sind die Herzöge von Arenberg und von Croy, die Fürsten von Bentheim, Fürstenberg, Salm, Sayn, Thurn und Taxis, Isenburg, Wied und die Fürsten und Grafen Solms. Hierzu kommen die Grafen von Stolberg, welche zwar nicht bis zur Auflösung des Deutschent Reiches Reichsunmittelbare gewesen sind, in Preußen aber jenen anderen Familien gesetzlich gleichgestellt wurden.

Von diesen elf Häusern, welche einschließlich ihrer Zweige zwanzig Familien umfassen, geht jedoch gerade in Bezug auf das Steuerprivileg wiederum eine Anzahl ab. Zunächst bleiben die beiden Häuser Fürstenberg und Thurn und Taxis, welche nur wegen einiger Güter im Hohenzollernschen als preußische Reichsunmittelbare anzusehen sind, hier außer Betracht, weil die hohenzollernschen Lande ihre eigene Steuergesetzgebung haben, welche diese Privilegien ausschließt. Es scheiden ferner alle Familien aus, welche bloß in den Provinzen Hessen-Nassau und Hannover ihre Domänen haben, da in diesen beiden Provinzen im Diktaturjahr 1866/67 die Steuerprivilegien aufgehoben und durch kein neueres Gesetz wieder eingeführt worden sind. Außerdem aber hat in jenen obenerwähnten Verträgen eine Anzahl Familien auf das Steuerprivileg verzichtet. Nach dieser Durchsiebung bleiben im ganzen nur fünf Familienzweige übrig: Salm-Salm, Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Solms-Braunfels, Solms-Lich-Hohensolms, Wied, denen die drei gräflich Stolbergischen Familien (Stolberg-Stolberg, Stolberg-Wernigerode, Stolberg-Roßla) gleichgestellt sind. Ueber das Recht des Fürsten zu Bentheim-Steinfurt gehen die Ansichten auseinander.

Es sind heute also nur acht bis neun Familien, welche auf preußischem Boden ein Recht auf Freiheit von der Einkommensteuer haben. Wo hier und da eine andere Familie die Steuerfreiheit genossen hat, da ist es zu Unrecht geschehen, theilweise sogar aus bloßem Irrthum der Veranlagungsbehörden.

Wie über den Kreis der Privilegierten, so sind auch über den Inhalt des Privilegs irrige Ansichten verbreitet. Selbst nach der deutschen Bundesakte steht den standesherrlichen Familien nur das Recht zu, die „privilegierteste Klasse“ zu bildett, d. h., es darf in einem Staate keine Bevölkerungsklasse geben, welche günstiger gestellt wäre als die Standesherren. Da es in Preußeu nun eine in Steuersachen privilegierte Bevölkerungsklasse nicht mehr giebt, so ist die Wirksamkeit jener Bestimmung der deutschen Bundesakte von selbst auf Null zusammengeschrumpft. Am allerdeutlichsten würde dies zu Tage treten, wenn man das Vorbild des Königreichs Sachsen befolgte, in welchem das königliche Haus selbst auf die Steuerfreiheit verzichtet und sie nur für König und Königin beibehalten hat. Aber auch in Preußen, wo neben dem königlichen und fürstlichen Hause Hohenzollern auch den drei besiegten souveränen Häusern von Hannover, Hessen und Nassau die Steuerfreiheit bewilligt ist, wird man doch kaum im Ernste behaupten können, daß hiermit eine „Klasse“ der Bevölkerung geschaffen sei, der nun die Standesherren gleichgestellt werden müßten – ganz abgesehen davon, daß die deutsche Bundesakte für die Regelung dieser Verhältnisse im Jahre 1892 ebensowenig ein Hinderniß bilden kann, wie sie in den Jahren 1866 und 1870/71 für die Begründung des Deutschen Reiches ein Hinderniß bilden durfte. Wenn in Preußen die Steuerpflicht jener acht bis neun Familien erst beginnen soll, sobald eine Abfindungssumme für das Aufhören ihrer Steuerfreiheit durch Staatsgesetz festgesetzt ist, so mag dem die Rücksicht zu Grunde liegen, daß auch ein großer Theil der anderen Familien früher solche Abfindungssummen erhalten hat. Doch ist mit dieser „Entschädigung“ nicht gemeint, daß der Staat verpflichtet sein solle, diesen Familien einen Schaden zu ersetzen und ihnen ein so hohes Kapital zu geben, daß aus dessen Zinsen allein die Steuer alljährlich bestritten werden könne. Es kann sich vielmehr nur um kleinere Summen handeln, welche den Zweck haben, den Uebergang in die neuen Verhältnisse weniger plötzlich zu machen. Die Ansicht aber, als ob die Höhe dieser Summe durch Verhandlungen mit den Standesherren festgestellt werden müsse, ist eine irrthümliche. – –

Wer alte Einrichtungen am Maßstab alter Zeiten zu messen weiß, wird Standesprivilegien zu begreifen suchen nach den Zuständen, aus denen sie einstens hervorgegangen sind. Aber soll der historische Sinn, der jeder Zeit gerecht zu werden bestrebt ist, gerade vor der eigenen Zeit Halt machen? Auch unser Jahrhundert mit seiner Kultur und seinen Kulturbedürfnissen, mit seinen Verfassungen und seinen sozialen Anschauungen hat sein Recht und läßt es sich nicht nehmen. Es ist wahr, daß das ausgehende 19. Jahrhundert Steuerprivilegien duldet und sogar erfordert. Aber das sind Privilegien für die Armen und Unbemittelten. Diesen die Steuer zu erlassen oder zu erleichtern, ist das Bestreben der heutigen Gesetzgebung. Damit sind Privilegien für einige Familien, welche zu den reichsten im Lande gehören, mögen sie nun zusammen 70, 80 oder 100 Millionen Mark besitzen, nicht vereinbar. Ein Ueberrest aus alten Zeiten, steht dieses Privileg inmitten einer Umgebung, die den ehemaligen Sinn in seinen Gegensinn verkehrt. Und heute führt es außerdem den merkwürdigst „Rechtszustand“ herbei, daß die Familie der Kaiserin steuerpflichtig ist, die Familie Solms-Lich-Hohensolms aber dafür zu gut sein soll.

Und doch! Handelte es sich um die Frage, ob ein ganzer Stand, der ehemals für unsere Geschichte soviel bedeutete, den ihm gebliebenen Rest von Freiheit behalten oder verlieren soll – man könnte den zähen Vertheidigern des Alten das Mitgefühl nicht versagen, das dem wackeren Kämpfer für eine verlorene Sache so gern gezollt wird. Aber diese Frage ist längst entschieden. Die „Freiheit“ haben auch jene Standesherren bereits aufgegeben. Sie sind bereit, die Pflicht auf sich zu nehmen, sie haben nichts mehr dagegen, daß sie die „Steuererklärung“ ausfüllen, den Steuerzettel annehmen und sich wie jeder andere bei Strafe der Exekution die Zahlung befehlen lassen. Nur wollen die Letzten auf den Zinnen die so lange vertheidigte Festung nicht anders als gegen gute Bezahlung übergeben.

In der Geschichte der standesherrlichen Privilegien giebt es ein vortreffliches Beispiel, welches lehrt, unter welchen Umständen sich ein Privileg erhalten kann. Es ist die Befreiung von der Militärpflicht. Sie hat sich erhalten, weil die jungen Leute aus diesen Familien keinen Gebrauch von ihr machen. Ihr ganzer Ehrgeiz ist darauf gerichtet, dem Vaterland freiwillig denselben Dienst zu leisten, zu welchem andere gezwungen werden. Will der hohe Adel der Nation mehr gelten als der niedere, so muß auch er des Spruches eingedenk sein: „Noblesse oblige!“, „Adel verpflichtet!“




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_351.jpg&oldid=- (Version vom 11.11.2022)