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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

begonnen hatte, da brach ihre Stimme jählings ab, und Haymo sah, wie Gittli auf dem schmalen Pfad erschrocken stehen blieb, die scheuen Blicke auf den Pater Fischmeister gerichtet. Dieser stand vor ihr, mit erstarrtem Antlitz und mit Augen so voll Entsetzen, als wäre das Mädchen vor ihm nicht das lieblichste Bild des Lebens, sondern ein dem dunkelsten Schoße der Erde entstiegenes Gespenst. Die Knie drohten ihm zu brechen, Netze und Schnüre fielen von seinem Arm, taumelnd griff er nach einer Stütze, und von seinen zuckenden Lippen klang es mit heiserem Laut:

„Wer bist Du?“

„Ich bin die Gittli,“ stammelte das Mädchen mit beinahe versagender Stimme.

„Wer ist Dein Vater?“

„Mein Vater ist lange tot und meine Mutter auch. Ich hause bei meinem Bruder, der heißt Wolfrat und ist Sudmann im Salzhaus des Klosters.“

Das hatte Gittli scheu und ängstlich heruntergestottert wie ein Kind die Litanei in der Schule, wenn der Kaplan die Haselruthe schwingt. Nun stand sie schweigend und zitternd, das Körbchen mit den Schneerosen an ihren jungen Busen drückend, ein Bild so hold und rührend, daß Haymo von diesem Anblick sein Herz zum Springen schwellen fühlte. Es zuckte in seinen Fäusten und es war ihm zu Muth, als müßte er auf den unheimlichen Wegelagerer losstürzen und ihm zuschreien: Was willst du von diesem Kind? Laß dieses Kind in Ruhe oder du hast es mit mir zu thun!

Unverwandt waren die Blicke des Mönches auf das Mädchen gerichtet. Brennende Röthe und fahle Blässe wechselten auf seinen Wangen, seine Augen waren wie zwei Flammen, heiß und verzehrend … er ging nicht, er taumelte ihr entgegen. „Wer gab Dir dieses Gesicht?“ so brach es, fast wie ein Schrei, von seinen Lippen – nun streckte er die Arme aus, als wollte er sie fassen, umschlingen … und da wich Gittli erblassend vor ihm zurück; einen Augenblick stand sie rathlos, dann schwang sie sich mit einem herzhaften Sprung über den steilen Rand des Pfades herab auf den moosigen Waldboden und flog mit flatterndem Röcklein an Haymo vorüber, um zwischen den Bäumen zu verschwinden.

Wie man lange nach der dunklen Stelle des Himmels starrt, an welcher ein fallendes Sternlein erloschen ist, so starrte Haymo in den Waldschatten, in welchem die Gestalt des Mädchens sich verloren hatte. Langsam wandte er nun das Gesicht und blickte wieder zum Pfad hinauf. Dort oben stand noch immer der Mönch mit gestreckten Armen, als wollte er die Luft umschlingen, in der das Mädchen geathmet. Jetzt kam ein Zittern über ihn, seine Arme fielen, stöhnend sank er auf einen Stein und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

Haymo wußte nicht, wie ihm geschah. Er hätte so gern diesem Priester gezürnt und dennoch fühlte er, wie das Mitleid sein ganzes Herz gefangen nahm. Eine Weile noch stand er wie gebannt; dann schlich er davon, und je weiter er sich entfernte, desto rascher wurde sein Schritt. Vielleicht gelang es ihm noch, das Mädchen einzuholen! In seinem Geleit wäre Gittli sicher und hätte einen gefahrlosen Heimweg, meinte er und begann zu laufen.

Aber was war das? Diese zornige Stimme, welche von der offenen Seelände her durch die Lichtung der Bäume klang, war das nicht Gittlis Stimme? Ja! und nun verstand er auch ihre Worte: „So laßt mich doch! Was wollt Ihr denn von mir? Was hab’ ich Euch denn gethan? Laßt mich doch in Ruhe! Laßt mich!“

Haymo hatte den Waldsaum erreicht; draußen lag eine breite Wiese, halb überspült von dem weißen Sande, den der schäumende See über das Ufer warf; an Stangen hingen Fischnetze zum Trocknen aufgespannt; unter weitästigen, im Föhnwind rauschenden Linden zu Füßen eines Hügels standen die beiden Hütten der dem Kloster hörigen Fischerknechte. Zwei dieser struppigen, an Gesicht und Kleidung derb verwitterten Gesellen hatten inmitten der Wiese das Mädchen mit einem Stück Netz umfangen, und der eine rief lachend:

„Hilft Dir nichts! Wer ein so feines Fischlein im Garn hat, der hält es fest!“

„Aber so laßt mich doch, laßt mich …“ flehte Gittli und suchte sich dem Netze zu entwinden.

„Zapple nur!“ lachte der andre. „Und weißt Du, was einem Ferch[1] geschieht, wenn er ins Netz gegangen ist? Wir geben ihm eins auf den Schnabel!“

Gittli kreischte, und während sie mit dem einen Arm ihr Körbchen in die Höhe hielt, schlug sie mit dem andern zornig um sich.

„Geh’, hab’ keine Sorg’!“ tröstete der jüngere der beiden Knechte. „Wir machen’s bei Dir nicht gar zu grob! Komm her … wirst sehen, es thut nicht weh!“ Er faßte mit derber Hand ihr Kinn und wollte sie küssen. Da flog er recht unsanft zur Seite. Haymo hatte ihn beim Kragen gepackt und der Griff hatte ausgegeben – ein Dutzend Schritte von der Stelle saß der Bursch im Gras und machte ein dummes Gesicht. Dem andern versetzte Haymo mit dem Bergstock eins über die Hand, daß er das Netz gutwillig fallen ließ. Gittli, die sich so plötzlich befreit sah, warf dem Jäger einen dankbaren Blick zu, streifte hurtig das Netz von den Füßen und huschte kichernd davon.

Der ins Gras Gesetzte hatte sich inzwischen erhoben. Blasend und mit kirschrothem Gesicht kam er auf den Jäger zugestürmt.

Haymo griff nach keiner Waffe; er machte nur eine Faust und hob sie ein klein wenig. „Komm nur!“ sagte er lächelnd.

Da war der Zorn des Burschen mit einmal verraucht. Und der andre, der noch immer seine Hand rieb, brummte: „So ein Wildling! Gleich zuhauen! Da schau, ganz blau sind alle Finger!“ Und scheltend ging er dem Ufer zu und steckte die Hand ins kalte Wasser.

Lachend schulterte Haymo den Bergstock und folgte gemächlichen Schrittes der Straße. Er wäre wohl gern rascher gegangen; aber das wollte er den beiden Gesellen nicht zuliebe thun; die hätten ihm sonst wohl nachgerufen. „Schau nur, wie er sich tummelt, daß er vom Flecke kommt!“ Als er dann um eine Ecke lenkte und den Blicken der beiden entschwand, beschleunigte er wohl seinen Gang, aber von Gittli war nichts mehr zu sehen und zu hören.

Auf schmaler, von den Rädern der Bauernkarren übel zerrissener Straße schritt Haymo dahin durch das frühlingsblühende Thal. Denn wenn auch droben auf den Bergen der Lenz noch eine harte zähe Schlacht gegen den Winter schlug, so hatte er doch im Thal sich schon häuslich eingerichtet. Auf den Wiesen lag es schon wie grüner Sammet, in dem sich die zahllos blühenden Primeln ausnahmen wie goldene Stickerei. Veilchenduft wehte aus den Hecken, in denen die kleinen Meisen zwitscherten. Aus den Zweigen der Fichten spitzten die jungen Triebe, und über den Buchen und Ahornbäumen lag’s von den sprossenden Blättchen wie lichtgrüner Schimmer. Die wilde Kraft des Föhns, der droben auf den Bergen den Grund der Felsen zittern machte und die donnernden Lawinen löste, war hier im Thal verwandelt in ein lustiges Wehen, das in alle Büsche griff, in alle Wipfel der Bäume, als wollte es ihnen immer und immer wieder sagen: nur frisch, nur munter! Jetzt nach dem Winterschlaf kein Gähnen mehr! Jetzt heißt es wachsen, treiben, blühen, Früchte tragen und für Samen sorgen! Die schöne Zeit ist kurz! Und eh’ ihr’s euch verseht, ist wieder der Winter da! Munter! Munter!

Nun stieg die Morgensonne hinter den Bergen empor, Wald und Feld überspinnend mit ihrem Gold. Ein Funkeln und Leuchten überall! Sogar der Schatten, den Haymo vor sich hin auf die Straße warf, war Schimmer und Farbe.

Blaue Rauchsäulen stiegen aus den hölzernen Bauernhäusern, welche zerstreut lagen zwischen kleinen Gehölzen, zwischen Wiesen und brachen Feldern; in den umhegten Gärten weidete das Vieh mit läutenden Glocken, und in steinigem Bette rauschte die dem See entströmende Albe ihr eintöniges Lied.

Die Straße begann zu steigen; nun trat sie unter den Bäumen hervor, und Haymo sah zu oberst auf der sonnigen Höhe des Weges das Mädchen schreiten.

Gittli! Gittli! rief er mit hallender Stimme.

Sie hörte ihn, blieb stehen, wandte das Gesicht, schwang wie zum Gruß ihr Körbchen und lief davon, in der Senkung der Straße verschwindend.

Haymo seufzte zuerst, dann aber lachte er und wanderte weiter. Ein halbes Stündlein noch und er hatte das Klosterdorf erreicht. An beiden Ufern der Albe reihte sich Häuschen

  1. Lachsforelle.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_236.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2023)