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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Haben wir hier nicht alles, was einen Landaufenthalt schön macht?“

„O ja – Betten mit Hühnerfedern gestopft, alle drei Tage frische Semmeln, Kalbfleisch sechsmal die Woche –“

„Und die herrlichen Waldwege, das Bad im See, die Glückseligkeit der Kinder, ist das nichts?“

„Na, ich sage ja nichts weiter. Es wird schon eine Weile auszuhalten sein. – Gestern abend fand ich übrigens drüben im Wirthshaus den alten Professor Mayer. Das ist, bei Licht betrachtet, ein ganz interessanter Mensch, mit dem könnte man verkehren.“

„Ist er auch zum Ferienaufenthalt hier?“

„Bewahre, der haust als richtiger Eremit bis tief in den Herbst hinein und vom ersten Frühjahr an dort oben in dem kleinen Häuschen am Waldrande. Er sagt, das Stadtleben widere ihn von Jahr zu Jahr mehr an. Wir können gegen Abend einmal hinaufgehen, er hat mich dazu aufgefordert.“

„Gern, Hugo,“ sagte Emmy erleichtert. Sie fing bereits an, sich wegen „ihres“ Dörfchens schuldig zu fühlen. Und doch war es ihr so wohl in dessen Stille, fern von Toilettesorgen und Gesellschaftspflichten. Die Kinder genossen ungeahnte Wonnen in Haselstrauch und Erdbeerschlag. Fritz, von welchem vorausgesetzt wurde, daß er sich mit Ernst und Eifer auf das drohende „Nachexamen“ im Herbst vorbereite, schien, vom Papa unbemerkt, in Francis’ Segelboot einen hervorragend geeigneten Platz für diese Beschäftigung gefunden zu haben. Dieser selbst, im gestreiften Trikotanzug, bloßarmig und krebsroth im Gesicht, lag mit unerschütterlicher Ausdauer den ganzen Tag auf dem Wasser draußen. Er war etwas melancholisch, der gute Francis, da kamen ihm die langen Stunden der Windstille eben recht, um im Schatten des Segels vor sich hinzuträumen oder aber ein Briefchen hervorzuholen, ein oftgelesenes, und es nochmals zu studieren.

„Theurer Francis!“ fing es an und war geschrieben nach einer bedeutsamen Unterredung, in der er seinen feurigsten Liebesschwüren das nothgedrungene Eingeständniß hatte hinzufügen müssen, daß er eben doch vorläufig ganz und gar von seinen Eltern abhänge. Er hätte noch mehr sagen können, denn seine kluge Mutter, durch Emmy benachrichtigt, hatte ihm kürzlich ein sehr nachdrückliches väterliches Veto mit Androhung gänzlichen Handabziehens übermittelt. Aber das ließ er bei Seite und betheuerte nur in glühenden Ausdrücken seinen Entschluß, nicht nachzulassen, bis die Eltern ihre Zustimmung geben würden. Damit hatte Vilma genug gehört. Der Abschied in jener Stunde war sehr gerührt gewesen, dann kam das duftende Briefchen, worin Francis aufgefordert wurde, zu kämpfen und zu siegen, während die Schreiberin leider, leider! diesen Sommer nicht, wie sie gehofft hatte, zu dem guten Onkel Professor nach dem reizenden Allersbach durfte, sondern eine reiche Tante, welche Gesellschaft wünschte, nach Kissingen begleiten mußte.

Es gab harte Verhängnisse auf dieser Welt und der arme Francis seufzte von Herzen darüber. Aber seinem Appetit schadete es vorläufig noch nicht, er vertilgte um die Wette mit den anderen die massenhaften, wohlschmeckenden Fischgerichte, welche den sonst etwas eintönigen Küchenzettel aufs anmuthigste belebten. Die Herstellerin derselben, die feine Köchin Wally mit den gebrannten Stirnlöckchen kam auch bereits von ihrer anfänglich tiefen Verachtung gegen das „elende Bauerndorf“ zurück; sie fand die drei stämmigen Haussöhne einer näheren Beachtung nicht unwürdig, das besserte ihre Laune bedeutend, und somit ließ sich der Landaufenthalt zu Emmys großer Erleichterung ganz gut an. Selbst der Hauptunzufriedene, Walter, begann im weiteren Verlauf den Weltwinkel ohne Ereignisse erträglich zu finden. Die Bekanntschaft im Waldhäuschen, der alte Professor, zog ihn bald lebhaft an, auch Emmy ging sehr gerne abends mit ihm über die Wiese hinaus bis zu der Bank im Buchenschatten, wo der alte Herr gewöhnlich in stiller Betrachtung saß, einen Band Goethe in der Hand, das Gesicht den im Sonnenuntergang leuchtenden Bergen über dem Seespiegel zugekehrt.

„Es ist so friedlich hier bei Ihnen“ sagte Emmy einmal, „so weltentrückt! Man hat immer das Gefühl, daß Sie ein wohlangewandtes Leben voll Befriedigung überdenken.“

„Das ist zuviel gesagt,“ erwiderte er bescheiden. „Mein Leben war nicht ärmer an Thorheiten und Irrthümern als das anderer Leute auch. Aber ich bedaure sie nicht, denn sie mit ihren Folgen sind es, die uns endlich das theure Gut der Selbsterkenntniß und dadurch den inneren Fortschritt vermitteln.“

„Wir heutigen“ meinte Walter kopfschüttelnd, „kommen nicht mehr zur ruhigen Selbstprüfung. Das Leben umgiebt uns rastlos, ewig fordernd; der einzelne muß heute unendlich mehr sein als vor fünfzig Jahren –“

„Erlauben Sie,“ fiel ihm der Alte humoristisch dazwischen, „mir scheint, der einzelne bildet sich das vielfach nur ein. Wenn ich um mich schaue, bemerke ich durchaus keine Steigerung der Geisteskraft bei meinen Mitbürgern, im Gegentheil! Eigenartiges Denken und unabhängiges Urtheil sind sehr selten geworden in unserer Zeit der ‚Bildung für alle‘!“

„Weil sich jeder schon in seinem Berufe aufreiben muß, ganz abgesehen von allem andern, das auf den heutigen Menschen einstürmt und ihn an der ruhigen Vertiefung hindert.“

„Ich glaube nicht, daß der Beruf als solcher soviel größere Anforderungen stellt. Was die Leute körperlich und geistig abhetzt, das ist der Wahn, alles mitmachen, alles wenigstens zur Kenntniß nehmen zu müssen, was, wenn auch noch so entfernt, unter den geistigen Gesichtswinkel fällt; oberflächlich natürlich und flüchtig, aber doch so, daß man davon reden kann. Und mit diesem unfruchtbaren Sammelsurium wird die Zeit verthan, in welcher allmählich jeder sich ganz ruhig eine solide, fruchtbringende Bildung aneignen könnte. Welche Spur bleibt denn zurück von den massenhaft verschlungenen Zeitungsartikeln mit ihren Aufregungen, die heute geschürt und morgen wieder besänftigt werden, von den Berichten über Ausstellungen, die man nicht sieht, über Virtuosenleistungen, die man nicht hört? Ja was bleibt selbst von den vielen neuen und neuesten Büchern, die man ‚gelesen haben muß‘ – oder wenigstens die Kritik darüber in dem Tageblatt, auf das man schwört? Das alles und wie viel mehr noch muß täglich durch das müde Menschengehirn gepreßt werden, zu keinem andern Zwecke, als daß man in seinen und anderer Augen möglichst ‚bedeutend‘ erscheint. Dieses Unglückswort ist eigentlich die Wurzel des ganzen Uebels. Es ist eine Art von Größenwahn unter die Leute gefahren, der sie beunruhigt und ihre Gehirnkraft über Verhältniß abnutzt. Die Kraftvollen verfallen im Unmuth über das Mißverhältniß zwischen Anspruch und Erfolg dem Pessimismus, die Schwächsten – in welch großer Zahl! – dem Irrenhaus. Und aus der breiten Mittelschicht ersteht scharenweise statt des früher einfach Unwissenden aber Harmlosen das unerfreuliche Herdengeschöpf, der Bildungsphilister, der sich auf der Höhe jeder Situation fühlt, mit fremden Augen sieht und mit geborgten Schlagwörtern kurzweg verurtheilz, was er nie fähig wäre, selbst zu beurtheilen. Eine Bereicherung unseres nationalen Lebens wird man ihn schwerlich nennen können!“

„Das nicht, aber einen vielleicht unvermeidlichen Auswuchs, welchen wir für unseren großen nationalen Aufschwung und Erfolg gerne mit in Kauf nehmen wollen.“

„Gerne? Nein! Wir haben früher in demüthiger Bescheidenheit etwas zu viel geleistet, nun sind wir ins Gegentheil übergesprungen, und das steht uns schlecht zu Gesicht. Wohlgemerkt, unsere Unbescheidenheit gilt nur dem äußeren Erfolg, dem Glanze und raschen Emporkommen. Was den Grad der Leistung betrifft, da bescheiden wir uns ungeheuer. Was für Leute erfreuen sich heute eines berühmten Namens! Ja, wie fühlt sich bereits jeder grüne Anfänger! Er bombardiert die Meister des Faches mit seinen unfähigen Produkten und ist hoch empört über eine Abweisung. Wie ein Märchen kommt es einem vor, zu hören, daß der junge Schubert sich jahrelang nicht getraute, Beethoven zu besuchen, obgleich es sein glühendster Wunsch war und beide in derselben Stadt wohnten, aber die tief bescheidenen Worte zu lesen, mit welchen Lessing sich für ‚keinen Dichter‘ erklärt! Derlei Dinge sollte man von Zeit zu Zeit dem vom Größenwahn gestachelten Menschen vorhalten und hinterher sagen: Plage dich nicht so unnöthig, Lieber! Wo alle sich auszeichnen wollen, zeichnet sich zuletzt niemand aus, auch gilt niemand auf die Dauer für bedeutender, als er ist. Das geheime Gefühl davon nagt an dir und macht dich nervös. Thue es ab und begnüge dich, in Bescheidenheit als gewöhnlicher Mensch deine Schuldigkeit zu thun! Der erste in der Klasse ist immer nur einer.“

„Das könnte vielen gut thun“ sagte Emmy lachend. Ihrer gesunden und wahrhaftigen Natur leuchtete das alles vollkommen ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_191.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2020)