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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Nun schritt sie schnellen Ganges in westlicher Richtung weiter über ganz Europa, vornehmlich die mittleren und nördlichen Striche des Erdtheils überziehend, bog dann aber wieder nach Osten um und durcheilte Südeuropa, Afrika, Australien und Südasien. Zu gleicher Zeit durchwanderte sie Amerika von Norden nach Süden. Fast überall war die Epidemie in 6–8 Wochen abgelaufen, nachdem sie ihren Höhepunkt, der zugleich auch allerorten mit der größten Sterblichkeit zusammenfiel, Wochen nach dem ersten Auftreten erreicht hatte. In Berlin wurden die ersten Erkrankungen Ende November beobachtet. Anfangs erkrankten hauptsächlich solche Personen, deren Beruf sie fast beständig in frischer Luft hält: Soldaten, Arbeiter, Feuerwehrleute, Polizisten, Briefträger u. s. w. An anderen Orten wurde dieselbe Beobachtung gemacht. Später kamen andere Berufsarten hinzu, alsdann Frauen, Kinder und Greise. Zeitweise war die Ziffer der Erkrankten beunruhigend hoch. So fehlten am 7. Januar 1890, zu einer Zeit, wo der Höhepunkt der Seuche schon überschritten war, in den Berliner Gemeindeschulen von 170318 Kindern 11532 und von 3110 Lehrern 130. Nach dem Bericht des preußischen Kriegsministeriums waren in der deutschen Armee während dieser Epidemie im ganzen 55263 Mann erkrankt, d. i. nahezu 12%. Nirgends wurde die Influenza anfangs erkannt, dann aber als Modekrankheit vielfach bespöttelt. Als sie indessen allmählich ein ernsteres Gesicht zeigte, ja als gar erst einige Todesfälle bekannt wurden, da trat eine allgemeine Bestürzung ein. Die frühere Nichtachtung verwandelte sich in eine fast krankhafte Furcht vor der Influenza.

In diesem Winter ist die Influenza nicht so verbreitet und nicht so heftig gewesen als vor zwei Jahren. Wenn man allgemein eine entgegengesetzte Ansicht hegte, so war’s deswegen, weil einmal die Seuche gleich zu Anfang einen ernsteren Charakter aufwies, namentlich Lungenentzündungen und schwere nervöse Erscheinungen häufig waren, dann aber auch, weil in diesem Winter eine ganz besonders große Anzahl bekannter Männer von der Influenza hingerafft wurde. Es genügt, an die Souveräne Dom Pedro von Brasilien und Tewfik, den Khedive von Aegypten, an den englischen Thronerben, Herzog von Clarence, an die letzten Todesfälle im österreichischen Kaiserhause, an die Diplomaten Lytton und White, an die Kardinäle Manning und Simeoni, an die Gelehrten Janssen, Quatresages, Laveleye, Brücke, Lagarde, an den Maler Spangenberg zu erinnern, um verständlich zu machen, daß diese zahlreichen Todesfälle großes Aufsehen erregten und die Furcht vor der Influenza zur Panik steigerten. Die Mitte Januar veröffentlichte Statistik des kaiserlichen Reichsgesundheitsamtes beweist aber deutlich, daß, wie es dort heißt, „das neuerliche Auftreten der Influenza während der beiden letzten Monate des Jahres 1891 in den größeren Städten des Deutschen Reiches dem Auftreten der Seuche vor zwei Jahren weder an Ausdehnung (Extensität) noch – soweit die Sterblichkeit beeinflußt wurde – an Heftigkeit (Intensität) entsprach.“

Die diesmalige Seuche unterschied sich, gleichfalls nach der Statistik des Reichsgesundheitsamtes, vornehmlich dadurch von der vorangegangenen, daß sie ein sehr starkes Ansteigen der Sterbefälle für die höchsten Altersstufen von 60 Jahren und darüber aufwies. Daher die zahlreichen Todesfälle unter den bekannten Männern, die jene Altersgrenze zum großen Theile überschritten hatten.

Die Influenza ist ohne Zweifel unter Umständen ein höchst gefährliches Leiden. Ein unangenehmes Kältegefühl, oder selbst ein heftiger Schüttelfrost, oft verbunden mit einer bis zur förmlichen Ohnmacht sich steigernden Schwäche, leitet die Scene ein. Gleich am Anfang ist auch ein mehr oder weniger heftiges Fieber vorhanden, das indessen meist nur wenige Stunden oder Tage anhält. Wie sehr aber der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen wird, erkennt man an der ungewöhnlich langen Zeit, die der Betroffene auch nach leichteren Erkrankungen braucht, um seine früheren Kräfte wieder zu gewinnen. Ja dieser Umstand sichert häufig erst die Annahme, daß es sich im vorliegenden Falle wirklich um Influenza und nicht um eine gewöhnliche Erkältungskrankheit gehandelt hat. Die Genesenden schweben ferner noch lange Zeit in der steten Gefahr, von einem Rückfall oder einem neuen Anfall ergriffen zu werden, die namentlich dadurch gefahrvoll sind, daß sie in höherem Maße als die erste Erkrankung zu lebenbedrohenden Mit- und Nachkrankheiten führen.

Wie tritt nun die Influenza überhaupt in die Erscheinung? Man hat, um die verwirrende Mannigfaltigkeit des Bildes einigermaßen übersichtlich zu gestalten, drei Formen oder Gruppen dieser Krankheit aufgestellt, aber, wie gesagt, mehr, um mich so auszudrücken, aus Bequemlichkeitsgründen, da in der Wirklichkeit eine solche scharfe Trennung niemals beobachtet wird. Schließen auch wir uns aus gleicher Ursache dieser Eintheilung an. Danach unterscheidet man eine nervöse, eine katarrhalische und eine gastrische Form der Influenza, welcher Ausdrücke im weiteren auch wir uns bedienen wollen, weil sie, ist man sich über den Inhalt derselben klar geworden, diesen am kürzesten und schärfsten bezeichnen. Man versteht aber unter der ersten diejenige Form, bei der vorzugsweise das Nervensystem in Mitleidenschaft gezogen ist, die zweite bezieht sich in gleicher Weise auf die Athmungs-, die dritte auf die Verdauungsorgane. Meist kommen, wie gesagt, alle drei Formen miteinander vermischt zur Beobachtung. Doch gehen wir des besseren Verständnisses wegen dieselben im einzelnen durch!

Daß das Nervensystem vorwiegend angegriffen ist, äußert sich in erster Reihe in einer hochgradigen Mattigkeit und Hinfälligkeit, die häufig mit der Leichtigkeit der Erkrankung in gar keinem rechten Verhältniß steht. Es gesellen sich bald dazu Verstimmung, Muth- und Willenlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen die Umgebung, Schlaflosigkeit oder auch Schlafsucht, mehr oder weniger heftige Kopfschmerzen, hin und wider ein kurzes Delirium, währenddessen der Kranke phantasiert und die Lage verkennt, und schließlich auch ein unüberwindliches Angstgefühl, als sei er nunmehr in eine langwierige und gefährliche Krankheit gefallen. Dazu kommen in vielen Fällen noch häufige Ohnmachten, Abnahme des Gehörs, Klingen oder Sausen in den Ohren, Lichtscheu und Augenschmerzen. Alle Influenzakranken leiden ferner an Schwindelgefühl und an oft höchst lästigen und schwächenden Schweißausbrüchen, zwei Plagen, die sich häufig noch bis weit in die Genesungszeit hinein hinziehen. Fast alle Influenzakranken werden zudem von ziehenden und reißenden oder blitzartig durchschießenden Schmerzen heimgesucht, und namentlich sind es die Kreuzschmerzen, auf die sich die meisten Klagen beziehen.

Sehr viele, ja die meisten der bisher erwähnten Krankheitszeichen finden sich nun auch bei den beiden anderen Formen der Influenza ein. Was zunächst die katarrhalische Form anbetrifft, so werden hier alle diejenigen Erkrankungen beobachtet, die auch sonst sich als Folgen von Erkältungen einzustellen pflegen, wie Schnupfen, Rachenkatarrh, Husten, Heiserkeit, Lungenkatarrh u. a. Auch die gastrische Form zeigt keine besonderen Merkmale. Wir finden eine stark belegte Zunge, Appetitlosigkeit, sich häufig steigernd bis zum gänzlichen Widerwillen gegen jede Nahrungsaufnahme, mehr oder weniger quälendes Durstgefühl, Uebelkeit, Brechneigung, öfteres Erbrechen, Durchfälle oder Stuhlverstopfung (jene öfter bei Kindern, diese öfter bei Erwachsenen). Nicht selten macht der Zustand ganz den Eindruck, als handle es sich um einen schweren Typhus. Verwechslungen in dieser Richtung sind vorgekommen und schließlich auch entschuldbar. Die gastrische Form der Influenza ist zwar die am seltensten vorkommende Art der Erkrankung, hingegen erholen sich die von ihr Betroffenen am allerlangsamsten; monatelang noch haben sie oft mit Magenbeschwerden aller Art zu kämpfen, selbst dann, wenn sie sich früher einer vollständig gesunden Verdauung zu erfreuen gehabt hatten.

Mit dem Ueberstehen aller dieser Krankheitserscheinungen ist indessen in vielen Fällen die Sache nicht abgethan. Die Influenza ist nicht nur ein vielseitiges, sondern auch ein tückisches Leiden, das, unter einer anscheinend harmlosen Außenseite verborgen, den Keim legt zu verderbenbringenden neuen Leiden. Das sind die Mit- und Nachkrankheiten, die „Komplikationen“ der Influenza. Die häufigste und zuglelch gefährlichste derselben ist die Lungenentzündung, ein um so unheimlicherer Feind, als er sich gerade, oder wenigstens mit großer Vorliebe, die lebenslustigsten Personen zu seinen Opfern auswählt. Der Vorgang spielt sich nicht selten mit erschreckender Schnelligkeit ab, und das „heute roth, morgen tot“ ist hier keine ungewöhnliche Erscheinung. Für alte oder schon früher lungenkrank gewesene oder sonstwie geschwächte Personen wird auch ein einfacher Lungenkatarrh gefährlich. Indessen sind nicht alle Komplikationen so ernster Natur, oder wenigstens handelt es sich bei den meisten nicht gleich um Leben und Tod. Oft beschränkt sich die Sache auf eine eitrige Entzündung der Nase und ihrer Nebenhöhlen oder führt auch wohl zu Entzündungen und Geschwürbildungen im Kehlkopf. In anderen Fällen entwickeln sich entzündliche Prozesse im Brustfell, im Herzbeutel oder im Herzen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_186.jpg&oldid=- (Version vom 2.1.2022)