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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


zu multiplizierende Zahl im großen Einmaleins der Politik mißbrauchen lassen dürfe. Sie müßten den Staat daran erinnern, daß er, wenn er ein christlicher sein wolle, gerade keinerlei Gewissenszwang ausüben dürfe, ja daß dann unendlich viel andere Aufgaben ihm näher liegen würden als eine so zweifelhafte Neuordnung der Volksschule; ob etwa der Staat schon daran gedacht habe, ein christliches Recht zu entwerfen statt des geltenden, wesentlich aus römischen Einflüssen entstandenen, ob er etwa beabsichtige, christliche Grundsätze für das Verhalten der Politik in Frieden und Krieg maßgebend zu machen?

So müßten die berufenen Vertreter der Religion sprechen und sie haben zum Theil ähnlich gesprochen. Wir, die wir nicht ihre Sache zu führen haben, können doch das eine betonen: man wird vergeblich auf dem eingeschlagenen Wege das erstrebte Ziel erreichen wollen, man wird durch religiösen Zwang weder den Idealismus, wo er verloren ging, zurückgewinnen, noch dem Staate eine feste Stütze geben. Denn bloß der kann eine ideale Anschauung haben, der in den Stand gesetzt wird, selber zu suchen und fern von allem, was nach erzwungener Bevormundung aussieht, sich eine freie Ueberzeugung zu bilden; nur der wird ein loyaler Bürger sein und das Bestehende ohne Rückhalt anerkennen, der es als das Rechte zu erkennen vermag. Also freie Bahn, keine Schmälerung dessen, was wir an Gewissensfreiheit haben!

Gewiß, wenn jeder in letzter Linie auf die eigene Ueberzeugung verwiesen wird, so können auch Irrungen und Verwirrungen nicht ausbleiben. Aber dem wehrt man nicht durch die Entziehung der Freiheit, sondern dadurch, daß man auf ihrer Grundlage zu belehren und zu überzeugen sucht. Wie thöricht wäre es, einen Knaben deshalb wieder ans Gängelband binden zu wollen, weil er hie und da noch fällt – man lehre ihn, auf sich selber achten und er geht ungefährdet auf eigenen Füßen.

Gerade darum aber, weil man so deutlich eine falsche Straße gewählt hat, wird das geplante Schulgesetz keinen Bestand haben, auch wenn es siegt. Es giebt Siege, die besser nicht erfochten würden, weil sie die Nothwendigkeit eines Rückschlages in sich selber tragen. Der Strom der Völkerentwicklung wie der Völkerwanderung geht der Sonne, dem Lichte nach, und wer gegen diesen Strom schwimmen und seine Fluth ins Dunkel zurückdämmen möchte, der erlahmt nothwendig vor der stärkeren Gewalt. Jenes Gesetz, jene ganze Geistesrichtung, von der es nur ein einzelnes Symptom ist, sie werden nicht bestehen können, selbst wenn sie siegen. Und noch ist es nicht soweit, noch ist die Bewegung zur Abwehr im Wachsen. Mag man immerhin diese Bewegung eine künstliche nennen und die Geister des Widerstandes, die man doch selbst beschwor, nicht kennen wollen, mag man mit Schlagworten freigebig sein und eintheilen nach Christ und Atheist, nach rechts und links – durch Worte schafft man Thatsachen nicht aus der Welt und kann die klare Sachlage höchstens auf Augenblicke verwirren. Wie man jüngst das Ansinnen gestellt hat, gegen die Lehrfreiheit der Universitäten einzuschreiten, so soll nun im gleichen Geiste gegen die Volksschule vorgegangen werden; an Wurzel und Wipfel des Baumes deutscher Bildung will man die Axt legen. Allein der Schlag soll nicht gelingen. Was wir von unsern Vätern ererbt haben, die Freiheit des Denkens und der Ueberzeugung, die Einheit unserer Volksbildung, das müssen wir erwerben, indem wir es vertheidigen, das müssen wir weitergeben an die kommenden Geschlechter, unverfälscht und unverkümmert.

Wir stehen am Scheidewege: je entschlossener wir dem Ziele freier Wahrheit nachgehen, desto eher ist Aussicht, daß das Gesetz falle und zum besten des Vaterlandes eine wirkliche Scheidung, ein tieferer Kampf der Geister vermieden werde. Es sind nicht die Schlechtesten, die da in die Reihen treten für die innere Freiheit, Lessings Gestalt steht unter ihnen und mag sie mahnen mit dem Worte, das ihm ein Mann von gut deutscher Art in den Mund gelegt hat:

 „Ich stand allein, ihr seid vereint.
Da nehmt dies Schwert von mir, sein Nam’ ist Wahrheit!
Gradaus wie ich, haut durch und schaffet Klarheit!"




Die Influenza.

Von Dr. W. Heß.

Die räthselhafte Krankheit, die in der letzten Zeit zweimal hintereinander ganz Europa von einem Ende zum andern überzog, kann als beinahe erloschen gelten. Unbegreiflich ist sie verschwunden, wie sie unbegreiflich gekommen war. Plötzlich war sie da zu Beginn des Winters, ebenso plötzlich und zu derselben Jahreszeit wie 1889, und sie verschwand in diesem Jahre, genau so wie 1890, mit dem Monat Februar. Damals überfiel sie die europäische Menschheit wie der Feind, der mitten in der Nacht ein wehrloses Lager schlafender Krieger überfällt. Niemand war auf sie vorbereitet; seit mehr denn dreißig Jahren hatte man nichts von ihr gehört, man hatte sie vergessen und der größte Theil der lebenden Aerztegeneration hatte niemals ihre Bekanntschaft gemacht. In diesem Winter hingegen war man gerüstet; man empfing den Feind mit kräftiger Gegenwehr, man lernte seine Tücken kennen, man untersuchte seine Natur und fand eine Reihe von Waffen, mehr oder weniger wirksam, die man mit Geschick und Erfolg anzuwenden wußte. Die Aerzte schlossen sich zusammen und in den Laboratorien wurde das gesammte gewaltige Arsenal moderner Forschung aufgeboten, womit man den bacillären Infektionskrankheiten – als eine solche war die Influenza schon lange erkannt worden – heute auf den Leib rückt. Die Erfolge sind keine geringen gewesen, und als Ausdruck derselben sieht dieser Monat März zwei Erscheinungen ins Leben treten, welche die bisherige Forschung über die Influenza gewissermaßen zusammenfassen: die „Sammelforschung“ des Berliner „Vereins für innere Medizin“ und die „Influenza-Konferenz“, die in London zusammentreten wird.

Um das Dunkel zu lichten, das über der Krankheit lag, die man heute mit dem italienischen Namen „Influnenza“ bezeichnet und die früher „Grippe“ genannt wurde, erwählte der „Verein für innere Medizin“ zu Anfang des Jahres 1891 einen Ausschuß, um eine sogenannte Sammelforschung über die Seuche anzustellen. Eine „Sammelforschung“ nennt man eine Erhebung, die durch Fragebogen bewirkt wird; man schickt die sorgfältig ausgearbeiteten Fragebogen an alle Personen, von denen man voraussetzen darf, daß sie über die betreffende Sache etwas zu sagen wissen.

Der Umfrage des Berliner „Vereins für innere Medizin“ haben nicht weniger als 6000 Aerzte entsprochen! Man kann sich denken, welch’ eine Riesenarbeit es sein mußte, ein so ungeheures wissenschaftliches Material zu sichten und methodisch zu verarbeiten. Indessen ist diese Arbeit doch schon so weit gefördert, daß sie nahezu als abgeschlossen bezeichnet werden darf. Die Antworten der Aerzte beziehen sich naturgemäß in ihrer großen Mehrzahl auf die Epidemie von 1889/90; aber auch die diesjährige Epidemie konnte doch schon in gewissem Grade berücksichtigt werden. So wird die Publikation des Berliner Vereins den Verhandlungen des Londoner Kongresses eine breite Grundlage geben; Sache des Kongresses wird es sein, die Arbeit deutschen Forscher- und Sammelfleißes durch die Erfahrungen jüngsten Datums und die Beobachtungen aus anderen Ländern zu ergänzen.

Ein besonderer Werth wird dem Werke des „Vereins für innere Medizin“ verliehen durch die beigegebenen Karten. Es befindet sich darunter zunächst eine allgemeine Uebersichtskarte über die Ausbreitung der Influenza von 1889/90 über alle Erdtheile. Ergänzt wird diese Karte durch zwei andere: auf einer von ihnen sind für alle Länder die Zeiten dargestellt, in welchen die Epidemie geherrscht hat, auf der zweiten sind die Zeitpunkte des Auftretens der Seuche in den hauptsächlichsten Städten Europas zur Anschauung gebracht. In weiteren 22 Karten werden die Mit- und Nachkrankheiten der Influenza im Verhältniß zur Bevölkerung und zur Zahl der Erkrankten übersichtlich vorgeführt. Doch beziehen sich diese Karten nur auf Deutschland.

Ueber alle Fragen, die hinsichtlich der Influenza aufgetaucht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_184.jpg&oldid=- (Version vom 2.1.2022)