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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

wir verschieden geartet sind.“ Damit schritt sie an ihm vorüber, und ihre Haltung verstärkte noch den Eindruck ihrer Worte. Von ihrer Schönheit angezogen, fühlte Ewald das heiße Verlangen, sie in seine Arme zu schließen, allein es war etwas in ihrem Blicke, das ihn zurückschreckte. Er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, was es sei, aber eher hätte er sich gegen die stolze Gräfin auf Schloß Lindström eine Vertraulichkeit erlauben mögen als gegen die eigene Frau. Er blickte ihr nach, bis sie, begleitet von dem hinkenden Pitt, im Hause verschwand, und sagte sich dann seufzend, daß seine Betty „höllisch“ vornehm geworden sei.

Bettina selbst wollte sich nicht klar werden über den Umschlag ihrer Gefühle – sie fürchtete sich vor der vollen Erkenntniß. Ihr Herz klammerte sich mit jeder Faser an das Kind, und sie war glücklich, wenn sie mit ihm allein sein konnte. Im vorigen Jahre hatte sie sich einsam und elend gefühlt, als Ewald zur Zeit der Herbststürme längere Lotsenfahrten unternehmen mußte, jetzt sah sie ihn ruhig scheiden. Sie fürchtete sich nicht mehr, wenn der Wind um die Klause heulte – war doch das Kind bei ihr, zu dessen Schutz sie sich berufen fühlte. Und für Hilflose einzutreten, dazu fehlte ihr nie der Muth.

Ihre Unerschrockenheit sollte in einer Novembernacht auf die Probe gestellt werden, in der Ewald die Wache auf dem „Utkiek“ hatte. Bettina war lange aufgeblieben, weil das Kind sich unruhig gezeigt hatte. Jetzt saß sie gegen Mitternacht an seinem Bettchen und las. Plötzlich richtete sich Pitt, der zu ihren Füßen lag, auf, sprang mit allen Zeichen der Aufregung zum Fenster hin und stieß ein wüthendes Gebell aus.

Bettina erhob sich und lauschte, ob draußen irgend ein Geräusch zu dem auffallenden Benehmen des Hundes Anlaß gebe. Und trotz des sausenden Windes vernahm sie dumpfe Schläge, die im Garten geführt wurden. Es zuckte ihr der Gedanke durch den Kopf, daß irgend ein Frevel begangen werde; sie dachte zunächst an Einbrecher, welche Scheune oder Vorrathskammer ausplündern wollten. Rasch entschlossen sprang sie in das Schlafzimmer, bemächtigte sich mit einem Griffe der über Ewalds Bette hängenden doppelläufigen Flinte, die stets mit Schrot geladen war. Ohne Zagen trat sie auf die Veranda des Hauses. Draußen war es nicht ganz finster, ihr scharfes Auge konnte zwei dunkle Gestalten unterscheiden, die eben dabei waren, die jungen Bäumchen ihres Gartens mit der Axt zu fällen. Sie vernahm das Knacken eines niederbrechenden Stammes, und helle Entrüstung flammte in ihrem Innern auf. Sie machte das Gewehr zum Schuß bereit und befahl den Männern, ihre Aexte niederzuwerfen, allein ihr Ruf mußte vom Winde verweht worden sein, denn die Eindringlinge setzten ihr Zerstörungswerk ruhig fort. Nun sprang Bettina furchtlos in den Garten hinab und schrie so laut, daß ihre Stimme den Wind übertönte: „Noch einen Schlag – und ich schieße!“

Im nächsten Augenblick sah sie etwas Schimmerndes durch die Luft und an ihrem Kopfe vorbeifliegen. Sie begriff, daß einer der Strolche seine Axt nach ihr geschleudert habe, und nun drückte sie los. Zwei Schüsse hallten durch die Nacht, dann folgte ein Aufschrei und die beiden Gestalten verschwanden im Dunkel.

Die junge Frau schritt nach einer Weile vorsichtig durch den Garten und sah, daß drei Obstbäumchen gekttickt an der Erde lagen und daß die Frevler durch eine Lücke im Zaune entwichen waren.

Als Ewald früh am Morgen heimkehrte, meldete ihm Bettina das Erlebniß. Beide hielten im Garten Umschau und fanden etwa vierzig Schritte von dem Standort der Thäter eine Axt an der Erde liegen, auf deren Stiel die Buchstaben K. B. eingekerbt waren.

„Karl Bräuning“, rief Ewald beim Anblick der Axt in grimmigem Jubel aus. „Na warte, Bürschchen, das soll Dir eingetränkt werden!“

Er wandte sich sofort behufs der einzuleitenden Untersuchung an den Kommandanten, der im Orte die Stelle der Behörde vertrat. Dieser verfolgte in dem lehmigen Boden die frischen Fußspuren und sah, daß sie zu Bräunings Hof hinüberführten. Mit der Axt in der Hand betrat er in Begleitung Monks das Haus Bräunings und verlangte dessen Söhne zu sprechen. Der Alte schob seine Mütze aufs linke Ohr und antwortete, seine Jungen seien über Land gegangen, um ein Kalb zu kaufen. Unterdessen aber hatte Ewald auf der Diele eine Blutspur bemerkt und machte jetzt den Kommandanten darauf aufmerksam. Nun kehrte sich dieser nicht weiter an die verwirrten Ausflüchte des alten Bauern, sondern folgte der Spur und kam zu einer Schlafkammer. Die Thüre derselben wurde von innen zugehalten, allein Ewald überwand das Hinderniß, und als er eindrang, versuchte der jüngere der beiden Söhne Bräunings durchs Fenster zu entfliehen, was ihm jedoch nicht gelang; der ältere lag im Bette und litt augenscheinlich am Wundfieber. Die Uebelthäter waren somit gefunden.

Der alte Bräuning, welcher gleichfalls in die Schlafstube getreten war, sah ein, daß weiteres Leugnen die Lage seiner Söhne nur verschlimmern könne, und verlegte sich aufs Bitten. Nach langen Verhandlungen kam ein Ausgleich zustande. Der Bauer verpflichtete sich, funfhundert Mark Entschädigung zu zahlen, und gelobte, fortan Frieden zu halten.

Die That der beiden Bräunings erregte in Massow so großen Unwillen, daß der Verwundete, sobald er wieder zu gehen vermochte, den Ort verließ und in der nächsten Hafenstadt Beschäftigung suchte. Bettinas entschlossenes Vorgehen aber imponierte den Dorfbewohnern, und man begegnete ihr fortan mit mehr Respekt.

Um die Weihnachtszeit war starker Frost eingetreten, und die mit Eis bedeckte Bucht breitete sich wie ein funkelnder Silberschild vor der Klause aus. Die Freude am Weihnachtsfest wurde Bettina jedoch durch die Erkrankung ihres Kindes getrübt, bei dem nach einem längeren Aufenthalt im Schulhaus die Halsbräune ausbrach. Der Anfall schien zunächst ein leichter zu sein, allein am Abend des zweiten Tages nahm die Krankheit wider Erwarten eine schlimme Wendung. Der Husten wurde hohl und heftig, die Kräfte nahmen zusehends ab. Die Besorgniß der jungen Mutter wuchs im Laufe einer Stunde zur furchtbaren Angst; sie sandte die Amme nach dem Gasthaus, wo Ewald beim Kartenspiel saß, und ließ ihm sagen, daß der Zustand des Kindes ein rasches Eingreifen des Arztes erheische; er müsse sofort jemand nach der Kreisstadt senden. Ewald aber war, als die Amme ihre Botschaft ausrichtete, gerade leidenschaftlich in sein Spiel versenkt. Ihm schien es, daß Bettinas Sorge übertrieben sei, und da er gerade ausgezeichnete Karten in der Hand hatte, so murrte er darüber, daß die Belästigungen durch das Kind kein Ende nehmen wollten, und sandte die Amme unwirsch zu seiner Frau zurück.

Bettina hatte mit zitternder Ungeduld auf ihren Mann gewartet; mit pochendem Herzen lauschte sie auf jedes Geräusch im Vorgarten. Endlich nahten Schritte. Sie erhob sich, lief zur Thür und prallte enttäuscht zurück, als sie nur die Amme sah und erfuhr, daß Ewald die Nachricht zornig aufgenommen habe und sagen lasse, es werde nicht so gefährlich sein und morgen sei auch noch ein Tag und Zeit genug, um nach dem Arzte zu schicken.

Bettina kam der Verzweiflung nahe – was nun beginnen? Die Empörung über Ewalds Gleichgültigkeit und die Sorge um das junge Leben gaben ihr endlich den Gedanken ein, selber den Arzt aus der Kreisstadt herbeizuholen. Rasch ans Fenster tretend, bemerkte sie, daß der Vollmond die Bucht hell erleuchtete; dies sehen und entschlossen sein war eins. Sie schrieb der Amme eindringlich vor, wie sie die Kleine in ihrer Abwesenheit zu behandeln habe, dann holte sie die Schlittschuhe vom Boden herunter und nahm unter Thränen von ihrem Liebling Abschied.

Als der Amme klar wurde, daß ihre Frau beabsichtige, in der Nacht über die Bucht zu laufen, wollte sie dieselbe zurückhalten. Bettina aber schob die Besorgte sanft bei Seite und bat nur: „Wachen Sie über mein armes Kind, Lene, und fürchten Sie nichts für mich! Ich werde es schon durchführen!“ Dann lief sie hastig ans Ufer hinab und betrat die weite, leicht mit Schnee bedeckte Eisfläche. Wie sie niederkniete, um ihre Schlittschuhe anzuschnallen, bebten ihre Hände. Allmählich jedoch legte sich der Sturm in ihrem Innern, und als sie aufspringend das glatte Eisen unter ihren Füßen verspürte, kam eine ruhige Entschlossenheit über sie. Wohl war sie sich der Gefahr ihres Unternehmens bewußt, denn es waren fast immer Risse und weitklaffende Sprünge vorhanden, aber der Gedanke an ihr leidendes Kind erhob sie über jedes Bedenken.

Es war bitterkalt. Der scharfe Ostwind blies ihr entgegen, und wo er die nackte Haut traf, rief er einen brennenden Schmerz hervor. Sie setzte sich langsam in Bewegung, bis ihr Auge sich an das Mondlicht und die verschwommenen Färbungen der Eisfläche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_167.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2022)