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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Das thun sie auch, natürlich! ... Aber es ist doch wahrhaft komisch, sie mit ihren Männern einzuladen und dann abgesondert in ein Zimmer zu setzen. Wissen Sie, was die Männer ihnen mit einer solchen Gewohnheit stillschweigend sagen: um des Essens willen sind wir gekommen, das ist nun vorüber. Solange ihr jung und schön waret, thaten wir dergleichen, uns mit euch zu unterhalten. Nun an euch nichts mehr zu sehen ist, haben mir euch auch nichts mehr zu sagen, denn interessante Gespräche kann man mit Frauen nicht führen.“

„Ich glaube, Du thust den Männern Unrecht,“ sagte Linchen seelenruhig. „Sie sind meistens nach Tisch viel zu faul, um interessante Gespräche führen zu können!“

„Das war ein tiefes Wort, liebe Freundin,“ versetzte der Medizinalrath. „Aber außerdem erlauben Sie mir in aller Bescheidenheit noch hinzuzufügen, daß man solche Gespräche nicht gern vor Frauen führt, weil sie dieselben nicht verstehen. Sie sind völlig undiscipliniert für eine bedeutendere gesellige Unterhaltung. Ereignet sich der seltene Fall, daß einer anfängt, sachlich zu reden, so kann man darauf schwören, daß sofort zwei bis drei Damen ein Privatgespräch mit ihren Nachbarn beginnen. Thut man ihnen dann wirklich so Unrecht mit der Vermuthung, daß das Interessante sie nicht interessiere?“

„Jawohl thut man das,“ rief die Vorkämpferin ihres Geschlechts, „denn das Sachliche sind gewöhnlich Geschäfts- oder Dienstgespräche, die ohne Rücksicht auf uns geführt werden. Gerade umgekehrt verhält es sich, als wie Sie sagen! Die Männer haben keinen Sinn mehr für das allgemein Interessante, sie stecken in ihrem besonderen Fach, lesen nur ihre Zeitung, kümmern sich nichts um Kunst und Litteratur – ich behaupte geradezu, sie sind schuld an dem Niedergang der Geselligkeit!“

„Und den Hauptschuldigen vergessen Sie alle beide,“ fiel Thormann ein, der dem Streite bisher still belustigt zugehört hatte.

„Noch einer!“ rief der Doktor, „heraus mit ihm, damit er als Prügelknabe für beide Geschlechter diene! Wer ist es?“

„Nun, ich denke, die Gesellschaft selbst, die sich so sonderbar entwickelt hat. Warum müssen die Leute so oft auf diese Weise zusammenkommen, wenn sie nichts miteinander zu reden haben? Ich behaupte, ein denkender und arbeitender Mensch braucht nur ein sehr bescheidenes Maß von Gesellschaft, das heißt: von solcher Art. Einfaches Zusammenkommen, ein Gespräch unter ein paar guten Freunden, das ist eine andere Sache, das ist, was ich Geselligkeit nenne!“

Er sah, während er dies sagte, ruhig vor sich hin und konnte deshalb den glänzenden Blick nicht bemerken, der aus Paulas Augen auf ihn herüberfiel. Wie oft hatte sie inmitten ihrer öden Welt hier sehnsuchtsvoll das Gleiche gedacht, nun sprach es jemand offen aus! Sie mußte an sich halten, um jetzt nicht in lebhafte Zustimmung auszubrechen, aber ein einziger Gedanke, wieviel Zuvorkommenheit den Männern gegenüber in diesem Salon bereits ausgeübt werde, gab ihr die kühle Haltung wieder. Von ihr wenigstens sollte das niemand sagen!

„Mein Verehrtester,“ erwiderte indessen der Doktor, „Sie sprechen von einem zu hohen Standpunkt aus. Der schwache Mensch hat nun einmal das Bedürfniß, zu gewissen Zeiten mit seinesgleichen essend und trinkend zusammenzusitzen; von der Bauernhochzeit an bis zu unseren Unterhaltungsgesellschaften ist dieser Grund immer der gleiche!“

Da Thormann nur schweigend mit den Achseln zuckte, sagte Linchen: „Gut, dann soll unsere vielgepriesene Bildung diesen Grund wenigstens etwas besser verhüllen. Von allen Seiten stopft man die Leute voll mit Wissenschaft und Kunst, sie erleben die merkwürdigsten politischen und sozialen Veränderungen, sehen in einem Jahr mehr als unsere Vorfahren in zwanzig und können trotzdem, wenn sie beisammen sind, nur vom Theater oder vom Wetter reden. Mir kommt es immer zu sonderbar vor, wenn ich ihre Klagen über gesellige Langeweile höre.“

„Nun freilich,“ meinte der Medizinalrath. „Am lautesten schreien immer die, welche am wenigsten zur Unterhaltung beitragen, und die sind überall in der Mehrzahl. Wo es anders war, in jeder durch ihre Geselligkeit berühmten Zeit, da gaben eben eine handvoll geistreicher Leute den Ton an und beherrschten die anderen. Sind jene fort oder tot, so ist’s wieder aus; bei dem gewohntichen Menschen setzt sich Bildung nicht in Gedanken um.“

Doktor Seiler stimmte lebhaft zu. Beiden entgegnete Emmy mit gerötheten Wangen:

„Sie werden mich für sehr verwegen halten, wenn ich jetzt nochmals für uns Heutige spreche. Ich habe ein starkes Gefühl dafür, daß wir unserer Zeit verpflichtet sind und daß unsere Gleichgültigkeit ihre Uebel vermehrt. Die Gesellschaft, über die wir klagen, sind wir alle selbst, uns trifft die Verantwortung für ihre Langeweile, wir könnten sie sehr vermindern, wenn wir etwas mehr Rücksicht und freundliches Wohlwollen unter uns erwecken würden. Geistreiche Leute sind selten, gewiß, daraus folgt aber noch nicht, das der mittelmäßig Begabte das Gleichgültigste, Zufälligste, das ihm gerade einfällt, an seine Mitmenschen hinreden darf. Man macht körperlich Toilette für Gesellschaften, sollte man sie nicht auch geistig machen, nicht das in der Unterhaltung vermeiden können, was völlig verbraucht und selbstverständlich ist? Soll man sich nicht erinnern, das der Gastgeber für die Freundlichkeit der Einladung wohl die Gegenleistung einer thätigen Theilnahme an der Unterhaltung beanspruchen kann? Wenn die Gäste dessen eingedenk wären und die Wirthe von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch machen wollten, das Gespräch ein wenig zu führen und auf bedeutendere Dinge zu lenken – dann käme doch wohl auch für mittlere Menschen eine schöne erfreuliche Geselligkeit heraus, die das Essen und Trinken nicht als Hauptsache ansehen würde und das Rauchzimmer entbehren könnte.“

„Das wuSte ich,“ sagte der Medizinalrath lachend, „daß schließlich noch der ‚besagte Hammel‘ seinen Tritt bekommen würde. Gut denn – Sie sollen recht behalten„ schreiten wir zur Besserung! Natürlich müssen die Damen dann die Cigarren bei sich im Zimmer dulden –“

„Als ob die deutschen Frauen daran nicht schon längst gewöhnt wären, Sie Heuchler!“

„Dann hängen wir eine Tafel über das Sofa: ‚Kinder-, Toiletten- und Magdgespräche sind verboten‘.“

„Und an die Wand gegenüber: ‚Börsen-, Fakultäts- und Dienstgespräche ebenso‘.“

„Hierauf erinnere sich die gebildete Hausfrau ihrer geselligen Aufgabe: möglichst vorzüglich zu kochen, ein hübsches Gespräch auf die Beine zu bringen und dann – bescheiden zu schweigen, wenn ‚kluge Männer‘ reden!“

„Er ist unverbesserlich!“ rief belustigt die Malerin, aber ehe sie noch etwas hinzufügen konnte, erklang vom Jugendzimmer her eine scharfe hohe Sopranstimme, begleitet von den Tönen eines altersschwachen Flügels.

„O Gott!“ seufzte Doktor Seiler halblaut; Emmy und Linchen suchten um Paulas willen harmlos erfreute Mienen zu machen, und die erstere fragte: „Wer singt denn drinnen?“

„Frida Gersdorff, wie es scheint,“ erwiderte Paula frostig, dann stand sie rasch auf und wandte sich zu der Gruppe von jungen Mädchen, die nun in lichten Kleidern über die Schwelle hereindrängten, um ohne Verletzung der Schicklichkeit weiter plaudern und lachen zu können.

„Ja,“ sagte Linchen, während drinnen der „Mo–ho–hondesglanz“ in einem gis, welches halb g war, „hereinschien“ – „das ist die Frucht der theuer erkauften Stunden. Ich habe bis jetzt lauter Erfolge gesehen, bei deren Anhören man lieber aus dem Zimmer ging. Muß das Unglückswurm auch noch singen, es wäre an ihren übrigen Eigenschaften schon vollständig genug!“

Auf der Schwelle erschien jetzt Mister Francis und spähte nach Vilma aus, die ihm entschlüpft war, um Paulas verlassenen Platz am Tische dort einzunehmen. Bisher hatte er drinnen seine heißen Flammen an ihrem berückenden Lächeln und Blick genährt, das gedachte er fortzusetzen und trat hinter ihren Stuhl. Welch ein langweiliges Gespräch sie da führten! Und das entzückende Mädchen machte dabei gegen „den Alten“ ein verehrungsvolles Gesicht, welches Francis durchaus mißfiel. Er fühlte das Bedürfniß, mit etwas ordentlich Greifbarem diese Unterhaltung zu durchkreuzen, und sobald eine Pause von zwei Athemzügen Länge eintrat, beugte er sich vor und fragte ohne Umstände, ob Vilma morgen mit ihm Schlittschuh laufen wolle. Thormann betrachtete den kecken Burschen von der Seite, Vilma aber sagte: „Die Bahn ist ja noch gar nicht offen.“

„O doch, ich habe heute gelaufen schon.“

„Aber es ist ja polizeilich verboten!“ rief Emmy.

„O ja, Polizei verboten, dennoch es war ein sehr gutes skating. Polizei nicht konnte laufen als schnell als ich ...“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_118.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2021)