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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Während er zum Dorfe niederstieg, ließ das Tosen des Windes nach. Er schaute in die finstere Höhe. Nun würde wohl auch die Schwere der Wolken zu ihrem Rechte kommen. Unwillkürlich fiel er in rascheren Gang.

Als er den Pointnerhof erreichte, sah er hinter keinem der Fenster mehr ein Licht. Freilich, es mochten ja Stunden vergangen sein, seit er das Haus verlassen. Schon wollte er sich dem Zaunthor nähern, als er ein leises, klirrendes Geräusch zu hören vermeinte. Seine Augen überhuschten die Giebelwand und blieben betroffen an einem Fenster haften. Dort schob sich ein dunkles Etwas über die Brüstung ins Freie, glitt auf die Erde nieder und huschte an der Mauer entlang – eine weibliche Gestalt – und Götz erkannte sie. An der Hausecke blieb sie wie lauschend stehen und verschwand dann in der Tiefe des finsteren Hofes – nach einer Richtung, aus welcher sich ein dünnes Hüsteln hatte vernehmen lassen. Und er kannte dieses Hüsteln.

„Also doch!“

Mit zitternden Händen klammerte sich Götz an die Stäbe des Zaunes. Er wußte nicht, weßhalb es ihn so eigen schmerzte, daß er nun dennoch Recht gehabt – mit seinem ersten Gedanken über Kuni und den „Bruder von irgendwo“.

Wenn Gregor wirklich ihr Bruder war, wozu dieses heimliche Stelldichein in der Nacht? Und wenn sich Bruder und Schwester schon Dinge zu sagen hätten, die kein fremdes Ohr erlauschen sollte – konnten diese Beiden dazu nicht eine andere Stunde finden? Weßhalb hatte Kuni das Knarren der Hausthür zu scheuen, weßhalb mußte sie mit so lautloser Vorsicht durch das Fenster steigen, wenn sie den Bruder suchte – und nicht ihren Liebhaber? Wie häßlich, ach, wie häßlich! Und wie sie das Heucheln verstanden hatte in all dieser Zeit! Und jetzt gerade mußte er hinter die abscheuliche Wahrheit kommen, jetzt gerade, wo es ihn so sehr gefreut hätte, wenn er besser von Kuni hätte denken dürfen – von ihr, die ihm heute vor allen Anderen zuerst die Hand geboten!

Er wollte sich zum Gehen wenden, doch brachte er keinen Fuß von der Stelle. Durfte er denn gehen? Durfte er schweigen? Wurde er nicht selbst zum Mitschuldigen dieser häßlichen Heimlichkeit, wenn er sie schweigend geschehen ließ? Noch war er ja ein Glied dieses Hauses, über dessen Ehre er aus Pflicht und Dankbarkeit zu wachen hatte. Nur daß es sie gerade war, sie, die ihm heute in dieser bitteren Stunde die gedrückte Seele erhoben und getröstet und seinem Herzen dadurch so eigen nahe getreten – daß sie es gerade war, über die er nun Zorn und Schimpf heraufbeschwören sollte! Aber durfte er in seinem rechtlichen Sinn ein unklares Empfinden über die klare Pflicht, durfte er die Freude einer Minute über die Wohlthat dieser elf vergangenen Jahre setzen?

„Nein! Ich därf’s net hingehen lassen! Und reden müßt’ ich, und wenn’s mein’ eigne Schwester wär’.“

An der Stelle, an welcher er stand, überstieg er den Zaun. Er streckte die Hand nach dem Fenster – und zog sie kopfschüttelnd wieder zurück. Trotz des lauten Windes hörte er aus der Kammer ein rasselndes Schnarchen.

„An guten Schlaf hast, Bauer, daß Dein Ehr’ verschlafst!“

Hastigen Schrittes lenkte er um die Mauer nach der Hinterseite des Hauses. Dort kletterte er über das Scheitholz, welches an der Wand hoch aufgeschichtet war, und pochte an ein Fenster des oberen Stockes.

Stotternde Worte und dumpfe Tritte ließen sich hören und das Fenster wurde aufgerissen.

„Wer is da?“

„Ich bin’s, Karli.“

„Du, Götz – Du! Ja um Gotteswillen, was is denn?

„Geh ’nunter, Karli – geh ’nunter, sag ich Dir, und weck’ Dein’ Vater auf!“

„Na – jetzt so ’was! Ja was hast denn auf amal?“

„Dein’ Vater weck’ – und frag ihn, wo sein’ Bäuerin is.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, sprang Götz zu Boden. „Jesus Maria – jetzt is gut!“ hörte er den Burschen noch stammeln, dann sah er sein Gesicht verschwinden, sah, daß das Fenster offen blieb, und vernahm nach einer Weile das matte Knirschen einer Thür.

Da schoß ihm ein heißes Blut in die Stirn. Hatte er auch wirklich recht gethan? Oder hätte er nicht wenigstens einen anderen, besseren Weg finden können, als gerade diesen, der zu offenem, peinlichem Hader führen mußte? Wenn er auf Kuni zugetreten wäre – wenn er gütlich mit ihr gesprochen hätte? Er hatte doch vor kurzen Stunden erst erfahren, wie sie bei all den verwerflichen Eigenheiten ihres verbildeten Charakters ein so empfängliches Herz in ihrem Busen trug. Vielleicht hätte sie auf seine Worte gehört – vielleicht hätte sie die Häßlichkeit ihres heimlichen Treibens eingesehen und hätte sich durch diese Einsicht zur Umkehr bewegen lassen! Aber freilich, vielleicht auch nicht! und dann wäre er mit einer Ausrede abgefertigt worden – und sie hätte ihre Heimlichkeit eben nur noch heimlicher weitergetrieben.

Jählings schrak er aus seinen Gedanken auf, und ein Schauer rann ihm über den Rücken. Er glaubte nicht an Gespenster – aber wenn es Gespenster gäbe, meinte er, so müßten sie wohl der unheimlichen Erscheinung gleichen, welche lautlos unter den finsteren Bäumen näher schlich – eine hagere, fast übermenschlich hohe Gestalt, die wie mit weißen Grabtüchern angethan erschien. Diese Tücher sah er im Winde flattern und hörte das Murmeln einer hohlen Stimme. Wer das auch sein mochte – sicher war es Einer, der im Bereich des Pointnerhofes nichts zu schaffen hatte, Einer, der nichts Gutes im Sinne haben mochte.

Hastigen Schrittes trat er auf den Schleicher zu, faßte ihn am Arm und frug: „Wer bist – was hast daherin zum schaffen in der Nacht?“

Nur einen keuchenden Laut erhielt er zur Antwort; doch bedurfte er einer solchen nicht mehr – er hatte den Bygotter bereits erkannt. Der staunende Schreck, der ihn darüber befiel, raubte ihm einen Augenblick die Fassung, und diesen Moment benützte der Andere, um den Arm loszureißen und mit langen Sprüngen durch die Bäume gegen die offene Wiese zu flüchten. Ueberstürzten Laufes folgte ihm Götz. Er sah ihn an der bergwärts steigenden Hecke gegen die Höhe fliehen, sah ihn hinter einer Wölbung des Bodens untertauchen; ein paarmal schimmerten ihm noch die weißen Tücher durch die Nacht entgegen; dann war der Fliehende im Dunkel verschwunden, und kein Laut, kein Zeichen mehr verrieth, welchen Weg er genommen. Eine Weile rannte Götz noch ziellos in die Finsterniß hinein, bis er endlich, hoch oben in der Wiese, schwer athmend einhielt.

Ohne große Gedankenmühe meinte er sich sagen zu können, was der Bygotter hier gesucht haben könnte. Und sicher war er nicht zum ersten Male hier gewesen. Irgendwo im Walde oder in den Bergen droben mochte er seinen Schlupfwinkel haben, den er nur zu nächtiger Zeit verlassen hatte, um den Aufenthalt seines Kindes zu erforschen.

Quer über die finstere Wiese schritt Götz der jenseitigen Hecke zu und folgte dann langsamen Ganges den thalwärts ziehenden Büschen, welche hart an der Rückwand des Gesindehauses endigten.

Nun hatte er den ebenen Grund erreicht, und er wollte schon die Hecke verlassen, als er betroffen die Schritte verhielt. Eine gedämpfte Stimme war an sein Ohr geschlagen. Seine Augen suchten die Richtung, aus welcher er die Stimme vernommen hatte, und da gewahrte er auf kaum zehn Schritte vor sich eine männliche Gestalt, welche an die fensterlose Rückwand des Gesindehauses gelehnt stand. Das konnte nur der „Bruder“ sein, und er meinte trotz des herrschenden Dunkels auch das Weib zu erkennen, das an Gregor’s Seite auf den zu Füßen der Mauer übereinandergeschichteten Brettern kauerte.

Die Beiden schwiegen jetzt, und Kuni hielt wie lauschend den Kopf erhoben.

„Ah na – es is nix zum hören als der Wind und ’s dürre Land in die Stauden,“ murmelte sie nach einer Weile. Dann seufzte sie auf und sprach in raschen, halblauten Worten weiter: „Und jetzt sag ich Dir’s zum letzten Mal – morgen in der Fruh gehst fort. Kannst Dich auch selber um an Ausred’ b’sinnen, damit Dein Fortgehn net so auffallt – Dir selber z’lieb!“

„Laß’ mich aus! Ich hab’ Dir’s schon g’sagt! Ich denk’ an kein’ Fortgehn net! Warum denn auch? Ich hab’ mein’ kommode Liegerstatt, mein g’sundes Essen – und um an Biergroschen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 832. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_832.jpg&oldid=- (Version vom 24.12.2023)